Ein Textbaustein* aus Mittelerde

J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe

»Der Herr der Ringe« von J.R.R. Tolkien erzählt die alte Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse und gehört schon seit vielen Jahren zu meinem persönlichen literarischen Kanon. Eine sprachlich herausragende Erzählung und so unglaublich vielschichtig, dass man bei jedem wiederholten Lesen immer wieder neue Details entdeckt oder sogar das Gefühl hat, ein gänzlich anderes Buch in der Hand zu halten als beim letzten Mal. Eine Abenteuergeschichte. Ein Roadmovie. Ein Märchen. Ein Gleichnis. Eine Sage, mystisch. Freundschaft, Kampf, Liebe, Zweifel, Überlebenswille. Alles dabei. Und geschrieben wurde es viele, viele Jahre bevor man den Gattungsbegriff Fantasy erfunden hat, in den das Buch heute gerne hineinkatalogisiert wird.

Ich habe drei Ausgaben davon. Alle drei waren Geschenke und über jede habe ich mich so gefreut, als würde ich das Buch noch gar nicht kennen. Die kartonierte, dreibändige grüne Ausgabe, jetzt schon zerlesen. Die schöne, bibliophile, einbändige rote Ausgabe im Hardcover mit rot eingefärbtem Buchblock, ein wahres Schmuckstück. Und eine prächtige englische Ausgabe, ebenfalls einbändig, mit den großartigen Illustrationen von Alan Lee. Jedes dieser Bücher verbinde ich mit wertvollen Erinnerungen an völlig unterschiedliche Lebensphasen und Menschen, die mir wichtig sind. Die beiden deutschsprachigen Bände sind natürlich in der alten Übersetzung von Margaret Carroux verfasst. Vor ein paar Jahren kam die Neuübersetzung auf den Markt, aber wer sich den Zauber des Buches bewahren will, sollte unbedingt darauf achten, eine alte Ausgabe zu bekommen – die modernisierte Sprache der Neuübersetzung zerstört in meinen Augen die Magie der Geschichte nachhaltig.

Drei- oder viermal habe ich »Der Herr der Ringe« gelesen, aber es ist nur eine einzige Stelle, die immer zuerst einfällt, wenn ich an das Buch denken muss. Sie befindet sich zu Beginn des zweiten Bands, als Aragorn und seine Gefährten die Verfolgung der Orks aufnehmen, die ihre Freunde verschleppt haben:

»Wie ein Hirsch sprang er davon. Durch die Bäume eilte er. Weiter und immer weiter führte er sie, unermüdlich und schnell, da er nun endlich zu einem Entschluss gekommen war. Die Wälder um den See ließen sie hinter sich. Lange Hänge erklommen sie, die sich dunkel und scharfkantig gegen den schon vom Sonnenuntergang geröteten Himmel abhoben. Die Dämmerung senkte sich herab. Sie verschwanden, graue Schatten in einem steinigen Land.«

»Like a deer he sprang away. Through the trees he sped. On and on he led them, tireless and swift, now that his mind was at least made up. The woods about the lake they left behind. Long slopes they climbed, dark, hard-edged against the sky already red with sunset. Dusk came. They passes away, grey shadows in a stony land.«

Im Laufe meines Lebens las ich »Der Herr der Ringe« zuerst als Abenteuerbuch, wichtig waren Action und Kampf. Später begeisterte ich mich für das Unterwegssein der Helden als Begriff für Freiheit und Unabhängigkeit, dem Verzicht auf jegliche Konventionen. Beim letzten Lesen, erst kürzlich, sind mir zum ersten Mal die wunderschönen Landschaftsschilderungen bewusst geworden, die eine Sehnsucht wecken, sich selbst auf die Suche nach unberührter Natur zu machen. Mal sehen, was beim nächsten Mal noch dazu kommt.

Die zitierte Textstelle umfasst das alles in ein paar wenigen Sätzen. Das ist große Literatur. Und eine Liebe fürs Leben.

* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich seit Jahren, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.

Buchinformation
J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe
Aus dem Englischen von Margaret Carroux

Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-93984-2

12 Antworten auf „Ein Textbaustein* aus Mittelerde“

  1. Hallo Uwe,

    vielen Dank für diesen schönen Artikel über Tolkiens Meisterwerk! Es ist auch eines der Bücher, die mich fürs Leben geprägt haben. Als Kind war ich gefesselt vom Abenteuercharakter der Geschichte; als Germanistikstudent wurde mir klar, wie raffiniert Tolkien nordische Mythen in seinen Roman verwebt und weiterentwickelt; und jetzt, nachdem ich das Buch vor nicht allzu langer Zeit nochmal gelesen habe, gehen mir die Augen auf, wie sehr es doch ein Kommentar zur Zeitgeschichte ist. Also zum 20. Jahrhundert mit seinen verheerenden Kriegen, mit der gnadenlosen Ausbeutung der Natur durch die fortschreitende Industrialisierung etc. (Übrigens ist Tolkiens Darstellung von Mordor ganz massiv vom sogen. „Black Country“ inspiriert worden, also der Industrieregion um Birmingham mit ihren zahllosen dreckschleudernden Schornsteinen und Kohlegruben).
    Und ja, auch die Naturschilderungen, die ich als Jugendlicher langweilig fand und oft überblättert habe, finde ich jetzt auch ergreifend und wunderschön.
    Ein wirklich großer Roman, den man immer wieder neu liest!

    Liebe Grüße
    Julian

  2. Ah, Danke, dass du das Problem mit der neuen Übersetzung ansprichst. Die ist schlimm, weil sie der Geschichte einen völlig anderen Charakter verleiht. Ich hab die grüne Ausgabe zum ersten Mal mit ca. 14 in den Ferien am Strand in ca. 1 Woche praktisch am Stück gelesen. Das war ein echtes Eintauchen in diese Welt. Danach habe ich vieles mehrfach nachgelesen, aber nie mehr komplett alles. Vielleicht ist jetzt, knapp 40 Jahre später ein guter Zeitpunkt für das Englische Original. Danke für die Erinnerung und die schöne Textstelle. Von den Beschreibungen haben mir damals Minas Tirith und der Zug durch Rohan am besten gefallen. Aber das muss ich wirklich nochmal nachlesen.

  3. Die alte Übersetzung die ich ausschließlich empfehlen möchte, ist NICHT nur noch antiquarisch erhältlich. Man suche z.B. auf Amazon ganz geziehlt nach der Übersetzung von Margarete Carroux, da wird man schnell fündig. Es sind vor allem die edlen, einbändigen Ausgaben, die noch in der unübertroffenen Carroux-Übersetzung auf den Markt kommen. Bei der dreiteiligen Taschenbuchausgabe ohne Anhänge hast du recht, die gibt es nur noch in der schrecklichen neuen Übersetzung.

    1. Das Wort Amazon ist in diesem Blog nicht besonders wohlgelitten…
      Kleiner Scherz. Zum Suchen ist die Seite des Infrastrukturzerstörers aus Seattle ja ganz brauchbar – dort kaufen muss ich ja nicht.

  4. Mir geht es mit dem Herrn der Ringe ebenso – ein Lebensbuch. Eine so eindringliche Geschichte, die davon erzählt, dass es oft die vermeintlich kleinen Taten sind, die die Welt verändern können, zum besseren. Es tut gut, es immer griffbereit zu haben. Wir haben es am Wochenende als Hörspiel gehört – zusammen mit unserem Sohn, der sicher die Vielschichtigkeit noch nicht fassen kann, aber bereits weiß, dass es hier um Solidarität, Gemeinschaft und Verbundenheit geht.
    Vor allem liebe ich dieses Buch aber auch, weil eine starke Frauenfigur entscheidenden Einfluß nimmt.
    Solche Bücher brauche ich in Zeiten, wie den unsrigen. Danke fürs Erinnern und vielen vielen Dank für den wunderbaren Textbaustein – Aragorn ist großartig und in meinen Augen hat er durch den Film noch gewonnen, in dem seine Zweifel so wunderbar dargestellt sind.

  5. Auch bei mir eines meiner Lebensbücher, auch wenn ich es erst dreimal gelesen habe. Bin damals erst durch den ersten Teil der Verfilmung darauf aufmerksam geworden und bekam leider die Kregge-übersetzung geschenkt. Wider besseren Wissens laß ich diese und empfand es im Vergleich zum Film als seltsam modern (was Sprache alles anrichten kann). Auf die rotbändige Ausgabe bin ich 2009 aufmerksam geworden und habe im Wissen um die alte Übersetzung gleich zugeschlagen. Musste ich mich anfangs in das Sprachbild kämpfen, war ich im weiteren Verlauf immer mehr davon begeistert. Freue mich jetzt schon auf ein Wiederlesen… Neben Stephen Kings „Der dunkle Turm“ (mit eindeutigen Referenzen) eines meiner Lieblingswerke im Bücherschrank.

  6. Jetzt bin ich überrascht. Das hätte ich nicht gedacht, dass der „Herr der Ringe“ einen solch hohen Stellenwert bei dir hat. Dein Text könnte mir Anlass sein, ihn wieder zu lesen. (Das wäre – ganz anders als beim „Hobbit“ – tatsächlich erst das zweite Mal.)

    Übrigens bietet die Verfilmung (der ich wenig abgewinnen konnte) Anlass, die erneute Lektüre hinauszuzögern. Legolas war damals vor 23 Jahren mein ganz großer Lieblingscharakter. Was der Film daraus machte, ist in meinen Augen so etwas wie ein schlechter Witz. Ob ich da jemals wieder hinter diese Linie zurück kann?

    1. Das ist immer sehr schade, wenn eine Buchverfilmung das Kopfkino so überlagert – zumal da „Der Herr der Ringe“-Film immer noch stark präsent ist. In der oben beschriebenen englischen Ausgabe von Harper/Collins sind zahlreiche Illustrationen enthalten und Peter Jackson hat sich bei seiner filmischen Umsetzung ganz eindeutig von diesen leiten lassen, zumindest bei seinen Kulissen. Das mag etwas darüber hinwegtrösten, dass der Film nur ein Abklatsch des Buches ist. Aber bei einem so vielschichtigen Werk auch nur sein kann.

      1. Alan Lee hat diese Buchillustrationen angefertigt. Er hat den internationalen Illustratorenwettbewerb zur Illustrierung des Herrn der Ringe gewonnen (das war in den Neunzigern). Danach wurde er von Peter Jackson angeworben, die Filme graphisch zu gestalten, so erklärt sich die Nähe der Filme zu Alan Lees Illustrationen. Ich finde, einen besseren Illustrator hätte man für die Filme nicht gewinnen können.

  7. Der Herr der Ringe ist auch eines meiner liebsten Bücher und begleitete mich 20 Jahre. Seit der Verfilmung habe ich ihn nicht mehr gelesen, weil mir die Filmbilder meinen eigenen inneren Film vers(ch)eucht haben. Vielleicht sollte ich mal wieder …
    Am Ende, wenn die Helden wieder ins Auenland kommen, war mir oft, als wachten sie in einen Traum auf, und ich mit ihnen.

    1. Es stimmt, die Filmbilder überlagern die Kopfbilder, Aragorn wird wohl für immer wie Viggo Mortensen und Legolas wie Orlando Bloom aussehen. Aber gleichzeitig sind die Charaktere und die Landschaft im Film so perfekt gewählt, dass es eigentlich nicht schlimm ist. Also nur zu…

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