Es war ein Leseerlebnis, wie es nicht allzu oft vorkommt. Der Liebeskind Verlag hatte mir den Roman »Red Pill« von Hari Kunzru zugeschickt, dessen »White Tears« für mich eines der besten Bücher der letzten Jahre war. Umso gespannter war ich auf das neue Werk – und direkt die ersten Sätze haben mich so tief getroffen, dass ich sprachlos vor dem aufgeschlagenen Buch saß und dachte, genau, ganz genau so ist es. Hari Kunzru ist 1969 geboren und damit der gleiche Jahrgang wie ich. In »Red Pill« schreibt er aus der Sicht eines Fünfzigjährigen darüber, wie es sich anfühlt, wenn man zu ersten Mal bemerkt, dass einen das Älterwerden nun doch eingeholt hat, auch wenn man es lange nicht wahrhaben wollte. Es sind lediglich ein paar Sätze, doch sie bringen dieses Gefühl absolut treffend auf den Punkt. Und man sitzt da und liest Gedanken, die einen selbst bewegen, die einen schon seit einiger Zeit nicht mehr loslassen, die man aber bisher nicht in Worte fassen konnte. Jedenfalls nicht so elegant. Hier sind sie, in der Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence:
»Ich glaube, man kann den Zeitpunkt, wann man ins mittlere Alter kommt, genau bestimmen. Es ist der Moment, in dem man sein Leben betrachtet, und statt dass sich wie früher ein großes Feld an Möglichkeiten, ein sich weitender Horizont vor einem öffnet, hat man das Gefühl, aus dem Schlaf zu erwachen oder, an einer Küste angeschwemmt, die Umgebung mit neuem Bewusstsein wahrzunehmen. Da befinde ich mich also, sagt man sich. Das ist aus mir geworden. Es ist der Moment, im dem man zum ersten Mal erkennt, dass sich der eigene Zustand – körperlich, intellektuell, sozial, finanziell – nicht mehr grundsätzlich verändern lässt und dass das, was bisher geschehen ist, zu großen Teilen den Rest der Geschichte bestimmen wird. Was man bisher getan hat, lässt sich nicht rückgängig machen, und viel von dem, was man auf die lange Bank geschoben hat, wird nie Wirklichkeit werden. Kurz, die Zeit ist endlich und eine schwindende Ressource. Und egal, was man tut, welche Freude man empfindet, in welchem Genuss man auch schwelgen mag, von diesem Moment an wird man nie mehr das fast unmerkliche Gefühl abschütteln können, dass man sich auf einem leicht abschüssigen Pfad befindet, hinein in die Finsternis.«*
In vielen Beiträgen auf diesem Blog geht es um das Älterwerden, die Vergänglichkeit und das Vergehen der Zeit; Themen, die vor zwanzig, dreißig Jahren kaum eine Rolle in meinen Gedanken gespielt haben, aber inzwischen mehr und mehr in den Vordergrund gerückt sind. Wenn man beide Eltern begraben hat, wenn das Elternhaus nur noch eine leergeräumte Hülle ist, holt es einen unweigerlich ein.
Aber zurück zum Buch. Der großartige Einstieg führt die Leser mitten hinein in die Gedankenwelt des Ich-Erzählers, eines mittelmäßigen Schriftstellers, der mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter in New York lebt, in Brooklyn. Er ist ein Mensch, der zutiefst verunsichert ist, der Angst vor der Zukunft hat, gefangen in dem Gefühl, hilflos mitansehen zu müssen, wie sich unsere Welt in Kriegen, Umweltkatastrophen und Flüchtlingsströmen auflöst, und er es nicht schaffen wird, seine Familie vor dem was kommen mag zu beschützen.
Ein Stipendium des Deuter-Zentrums für Sozial- und Kulturforschung führt ihn nach Berlin, in eine Villa am Wannsee, wo er für drei Monate an seinem neuen Buchprojekt arbeiten soll. Es ist Januar und Berlin zeigt sich von seiner trostlosesten Seite, die Mit-Stipendiaten erweisen sich als nicht ganz einfache Menschen und die Regeln in der Villa sind recht rigoros: Der Austausch soll im Mittelpunkt stehen, daher muss in einem großen Gemeinschaftsraum gearbeitet werden. Kreativität im überwachten Großraumbüro; alles ist schick und teuer eingerichtet, doch über allem schwebt eine Stimmung der Kontrolle und einer sachlichen Lieblosigkeit. Für den namenlos bleibenden Schriftsteller wird der Aufenthalt in Berlin zu einer Tortur, der er sich mehr und mehr zu entziehen sucht.
Lange Spaziergänge führen ihn immer wieder zu den Gräbern von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, die am Wannsee im November 1811 gemeinsam aus dem Leben schieden und dort beerdigt sind. Kleist verkörpert wie kaum ein anderer Dichter den an den äußeren Umständen Gescheiterten und diese Gedanken verstärken zunehmend die morbide Grundstimmung. Innerhalb der Stipendiaten-Gemeinschaft wird er zum Eigenbrötler, der sich zunehmend in sich selbst zurückzieht. Seine Realitätsflucht lässt ihn dabei immer tiefer in eine Fernsehserie abtauchen, seine Faszination für »Blue Lives« nimmt manische Züge an. »Blue Lives« ist eine äußerst brutale Krimiserie, bei der die Grenzen zwischen Gut und Böse zunehmend verschwinden; es wird auf beiden Seiten gemordet und gefoltert was das Zeug hält, Recht und Gesetz als Richtschnur moralischen Handels existieren nicht mehr.
Hari Kunzru spielt damit auf ein interessantes Phänomen an. Denn ist es nicht merkwürdig, dass in unserem Zeitalter der Achtsamkeit und der Political Correctness Serien wie »Game of Thrones« oder – ganz aktuell – »Squid Game« so unglaublich erfolgreich sind? Als wären sie eine Art Ventil in einer Zeit, in der es viele Menschen gewohnt sind, jedes Wort, jede Äußerung, jede Geste ständig zu reflektieren und auf mögliche missverständliche Bedeutungen abzuklopfen. In der Phantasiewelt jener Serien spielt ein solches Verhalten keinerlei Rolle, wäre sogar eine Schwäche; es wirkt wie eine kleine Flucht aus einem Alltag voller Vorsicht und sprachlicher Fallstricke. Und ähnlich geht es unserem Ich-Erzähler, der in dem »Blue Lives«-Gemetzel eine Parallelwelt findet, die ihn gleichzeitig schockiert und fesselt. Als er darin literarische Zitate zu entdecken meint, gibt es kein Halten; plötzlich scheint diese Serie gespickt mit geheimen Botschaften, die nur er erkennen kann.
Bei einer Veranstaltung der Berliner Filmfestspiele kommt es zu einer Begegnung mit dem Schöpfer von »Blue Lives«, er stellt sich als Anton vor und entpuppt sich als ultrarechter Reaktionär – dessen Ansichten mehr oder weniger unverblümt in die Serie einfließen. Aber ist das wirklich so? Sind die eingeflochtenen literarischen Zitate tatsächlich Codes für einen rechtsidentitären Kreuzzug, den der Serienmacher befeuern möchte? Und wie kann er gestoppt werden? Realität und Fiktion beginnen mehr und mehr zu verschmelzen; dem Schriftsteller fällt es zunehmend schwerer, beides auseinander zu halten. Und getrieben von seiner Angst um die Zukunft seiner Familie und um all das Gute, an das er glaubt, lässt er sich in einen Strudel aus Wahnvorstellungen und realen Bedrohungen fallen, der ihn durch halb Europa führen wird und tief hinab in die Dunkelheit der eigenen Gedanken. »Ich war überzeugt, dass … ich mich in einer völlig von ihm entworfenen Matrix bewegte, einer Kette von Hinweisen folgend, die allesamt dazu gedient hatten, mich hierher zu bringen.« Neo lässt grüßen und der Buchtitel »Red Pill« ist eine wahrhaft passende Reminiszenz an eine der stärksten Szenen der Filmgeschichte. Nur, dass der Schriftsteller nicht erwacht, sondern sich immer weiter in seinen selbstzerstörerischen Gedanken und Tagträumen verliert.
Hari Kunzru spielt gekonnt mit den Ebenen von Wahn und Wirklichheit. Schildert die Unterwanderung der medialen Öffentlichkeit durch faschistoides Gedankengut, beschreibt wie sich Hass und Umsturzphantasien in der digitalen Welt Bahn brechen – und in die reale Welt hinüberschwappen können. Jedes Mal ein bisschen mehr. Gleichzeitig zeigt er in »Red Pill« die Hilflosigkeit jener, die an das Gute im Menschen glauben, die unsere Welt ein Stück besser machen möchten. Und überrollt werden von einem Rechtspopulismus, der anfangs subtil daherkommt, sich aber zu einer Lawine entwickeln kann, die alles hinwegfegt. Das Buch endet konsequenterweise – man kann es verraten, ohne zu viel zu spoilern – mit der US-Wahl, die Donald Trump zum Präsidenten machte. Ein absoluter Tiefpunkt in der neueren Geschichte, nicht nur der USA.
»Die Welt draußen heult und kratzt am Fenster. Morgen früh bleibt uns keine Wahl, als sie hereinzulassen.«
Wie könnte nun ein passender Schlusssatz für diesen Blogbeitrag aussehen? Vielleicht ein kurzer Ausschnitt aus einer Rede, die vor knapp einem Jahrhundert gehalten wurde. Das Zitat ist immer noch aktuell: »Der Feind steht rechts.«
Und Bücher wie »Red Pill« sorgen dafür, dass dieser Satz nicht in Vergessenheit gerät. Gerade in unserer Zeit.
* Hier auf Kaffeehaussitzer gibt es die Textbausteine, eine Sammlung von Texten, die mir wichtig sind. Diese Passage gehört unbedingt dazu.
Buchinformation
Hari Kunzru, Red Pill
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-134-0
#SupportYourLocalBookstore
Wow! Was für kraftvolle erste Zeilen. Man möchte sofort los, um etwas zu erleben, was schon lange auf der Wunschliste steht. Tolle Rezension, lieber Uwe. Aber auch der letzte Satz hat mich gepackt. Denn ich erinnere mich noch sehr gut an das Gefühl am Morgen nach der Wahl. Als ich in unsere Küche in Michigan wie jeden Morgen Frühstück machte, aber die Welt nicht mehr so war, wie am Morgen zuvor.
Danke, liebe Britta. Und ja, das Buch geht unter die Haut.
Tolle Rezension!
Schon zweimal hat mich der „Berliner Buchhändler meines Vertrauens“ mir dieses Buch empfohlen. Jetzt MUSS ichxes lesen! Danke!
Vielen Dank. Und viele Grüße an den Buchhändler des Vertrauens.