Wohnzimmerlesung mit Pierre Jarawan

Pierre Jarawan: Frau im Mond

Was mit einer spontanen Aktion begann, ist zu einer festen Veranstaltungsreihe geworden: Bereits zum fünften Mal fand unsere Leipziger Wohnzimmerlesung statt, immer während der Buchmesse, immer im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und bei ihm komme ich jedes Mal unter, wenn ich in Leipzig bin. 2018 hatte er die Idee, sein Wohnzimmer für eine Lesung zur Verfügung zu stellen und am Procedere hat sich bis heute nichts geändert: die Anmeldung dafür erfolgt per E-Mail und in der Antwort erhält man die Adresse. Etwa 30 Personen sitzen dann eng gedrängt auf Bierbänken in dem leer geräumten Raum, eine Autorin oder ein Autor ist zu Gast und ich habe das Vergnügen, das Gespräch zu moderieren. Dieses Mal war Pierre Jarawan bei uns und im Gepäck hatte er seinen neuen Roman »Frau im Mond«. „Wohnzimmerlesung mit Pierre Jarawan“ weiterlesen

Schemenhafte Gestalten, unnahbar

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt

Lange Zeit stand der Roman »Die Unschärfe der Welt« von Iris Wolff in meinem Bücherregal und wartete darauf, gelesen zu werden. Und ich war mir sicher, dass er mir gefallen würde. Die ersten paar Seiten kannte ich bereits und deren poetische Sprache hatte für eine jahrelange Vorfreude gesorgt – allein der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch zu lesen, wollte sich nie einstellen. Doch als er kürzlich gekommen schien, war alles ganz anders als gedacht: Das Buch liegt nun gelesen neben mir und die Erinnerung an die Handlung beginnt bereits zu verblassen. Ich merke, dass es keinen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ja, dass ich ein wenig enttäuscht bin – und warum das so ist, versuche ich nun herauszufinden. „Schemenhafte Gestalten, unnahbar“ weiterlesen

Berlin – Chicago – Jerusalem

Dana Vowinckel: Gewaesser im Ziplock

Der Roman »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel wurde schon einmal hier erwähnt, gehört er doch zu den fünfzehn besten Büchern, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Nun durfte ich die Autorin bei einer Veranstaltung des Kölner Literaturhauses live erleben und das ist eine gute Gelegenheit, ihr Buch endlich ausführlich vorzustellen. »Gewässer im Ziplock« ist eine Familiengeschichte. Eine Familiengeschichte, durch die sich Risse ziehen; manche sind unübersehbar, andere ganz fein und im täglichen Leben kaum wahrzunehmen. Doch gerade die feinen Risse sind es, aus denen die Schatten der Geschichte hervorquellen und die sich jederzeit in aufplatzende, tiefe Furchen verwandeln können. „Berlin – Chicago – Jerusalem“ weiterlesen

Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. „Die Lagune weint um ihre Stadt“ weiterlesen

Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«  „Brief an den Vater“ weiterlesen

Ein Satz wie ein Geschenk

Annabel Wahba: Chamäleon

In der Beschreibung dieses Blogs heißt es, dass es darin um Bücher, Texte und Leseerlebnisse geht. Manchmal werde ich gefragt, was unter einem Leseerlebnis zu verstehen sei, doch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es kann etwa ein Buch sein, das mich zurückführt in eine vergangene Zeit meines Lebens, so, als würde ich in einen Spiegel schauen. Oder ein Roman, in dem eine mir wenig bekannte Epoche so intensiv vor mir ausgebreitet wird, wie es mit literarischen Mitteln nur möglich ist. Ein Buch, das seltsame Träume auslöst. Oder eines, das mich so tief in die Handlung hineinzieht, dass ich mich danach wochenlang auf keine neue Lektüre einlassen kann. Und manchmal kann ein Leseerlebnis lediglich aus einer kurzen Textstelle* bestehen oder aus einem einzigen Satz; wenn ich dort Worte finde, die etwas in mir verändern. Worte, die mich mitten ins Herz treffen. Die Trost spenden und eine offene Wunde schließen. Oder zumindest ein Pflaster darauf kleben. Und genau solch ein Pflaster, solch eine Textstelle ist mir auf den ersten Seiten des Romans »Chamäleon« von Annabel Wahba begegnet. Davon möchte ich hier erzählen. „Ein Satz wie ein Geschenk“ weiterlesen

Über die Leere, die uns umgibt

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke

Anstatt über den Roman »Gesammelte Werke« von Lydia Sandgren zu schreiben, würde ich viel lieber noch darin lesen, wäre gerne noch in der Geschichte gefangen, die mich vollkommen in ihren Bann gezogen hat. Aber auch 874 Seiten sind leider irgendwann zu Ende und es war mitten in der Nacht, als ich das Buch zugeklappt habe; übermüdet und hellwach gleichzeitig. Am nächsten Tag begann das Gelesene zu sacken, sich im Kopf auszubreiten und mir wurde nach und nach klar, was für ein grandioses Leseerlebnis mir beschert worden war – verbunden mit der Wehmut, die liebgewordenen Personen nun nicht mehr wiederzutreffen. Literatur, die wie ein helles Licht über den trüben pandemischen Winter strahlt. Dabei behandelt »Gesammelte Werke« ernste Themen, es geht um Verlust, um das Gefühl der Leere und die Suche nach einem Sinn im Leben; es gibt viele Fragen und nicht immer Antworten darauf – das alles aber ist eingebettet in einer wunderbaren Erzählung über die Freundschaft, das Älterwerden und die Liebe zur Kunst, zur Literatur und zur Sprache. „Über die Leere, die uns umgibt“ weiterlesen

Acht Generationen, zwei Kontinente

Yaa Gyasi: Heimkehren

Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Sklaverei. Egal wann oder wo auf der Welt, stets wurden Gefangene als Arbeitskräfte eingesetzt, die nicht viel kosteten und jederzeit ersetzt werden konnten. Doch der massive Sklavenhandel des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit seinen Millionen von Verschleppten hatte noch einmal ganz andere Dimensionen: Er prägte gesellschaftlich und politisch den afrikanischen und die beiden amerikanischen Kontinente bis heute – egal, ob es sich um strukturellen Rassismus oder das blutige Erbe europäischer Kolonialherrschaft handelt. In ihrem Roman »Heimkehren« erzählt Yaa Gyasi eine von diesen Entwicklungen geprägte Familiengeschichte über acht Generationen, die auf beiden Seiten des Atlantiks angesiedelt ist. „Acht Generationen, zwei Kontinente“ weiterlesen

Schwarzer Gott und roter Schienenbus

Bov Bjerg: Serpentinen

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, um den Roman »Serpentinen« von Bov Bjerg einen Bogen zu machen. Die Themenkombination Familiengeschichte, Depression und Suizid schien mir zu heftig – ich war mir nicht sicher, ob ich mich tatsächlich damit auseinandersetzen wollte. Aber wie der Zufall so spielt, liegt das Buch nun doch ausgelesen neben mir. Denn »Serpentinen« steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. Und als einer von zwanzig Buchpreisbloggern, die jeweils einen der Longlist-Titel auf ihrem Kanal vorstellen, erhielt ich diesen Roman zugeteilt. Mit etwas banger Erwartung habe ich mich an die Lektüre gewagt – und sie war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Um es vorweg zu nehmen: Enttäuschend anders. „Schwarzer Gott und roter Schienenbus“ weiterlesen

Denkmal für die Verschwundenen

Pierre Jarawan: Ein Lied fuer die Vermissten

17415. Siebzehntausendvierhundertfünfzehn. Diese Zahl steht im Mittelpunkt des Romans »Ein Lied für die Vermissten« von Pierre Jarawan. Es ist die Anzahl der Menschen, die während des Bürgerkriegs im Libanon verschwanden – und bis heute vermisst werden. Während des Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 vor allem in und um Beirut ausgetragen wurde, der eine der schönsten und multikulturellsten Städte des Mittelmeers in Schutt und Asche legte und der tiefe Wunden in den Seelen der Menschen dort hinterlassen hat. Diese Wunden sind nur schlecht vernarbt, sie drohen ständig wieder aufzureißen – doch von offizieller Seite wird alles getan, um nicht darüber reden zu müssen. Pierre Jarawan – dessen Eltern den Libanon 1982 verließen, als die alltägliche Gewalt einen Höhepunkt erreicht hatte – erzählt in seinem Roman die Geschichte von Amin, der auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie uns Leser tief hineinführt in die Tragik jener Zeit. „Denkmal für die Verschwundenen“ weiterlesen