Von meinem Naturell her bin ich unverbesserlicher Optimist und glaube fest daran, dass sich Dinge zum Guten wenden. Irgendwie. Und auch wenn das vergangene Jahr mit seinen Kriegen, politischen Entwicklungen und Dauerkrisen diese Einstellung an ihre Grenzen gebracht haben mag, würde ich niemals aufhören zu hoffen. Das Lesen ist dabei für mich ein wichtiger, nein, der wichtigste Anker in trüben Zeiten, denn Bücher »lassen mich andere Lebensentwürfe kennenlernen, mich teilhaben an fremden Schicksalen; sie erschließen mir neue Horizonte in der Gegenwart und in der Vergangenheit, verflechten sie miteinander, um die Zukunft zu verstehen. Bücher lassen mich meinen Platz in der Welt finden. Immer wieder aufs Neue. In immer wieder neuen Welten.« Das schrieb ich vor einiger Zeit im Text »Warum ich lese«. Und darum könnte ich mir ein Leben ohne Literatur und Bücher nicht vorstellen.
Wie immer zu Beginn des Jahres stelle ich die fünfzehn Bücher vor, die mich in den vergangenen zwölf Monaten besonders begeistert haben. Und wie immer ist es eine Mischung aus Werken, die in diesem Zeitraum erschienen sind, und solchen, die schon einige Jahre im Regal auf den passenden Lesemoment gewartet haben. Hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2024.
Gaea Schoeters: Trophäe
Übersetzt von Lisa Mensing
Dass ein Roman die eigenen Grundfesten erschüttert und dabei bewirkt, dass man sich vor sich selbst erschrickt – das kommt nur selten vor. Gaea Schoeters Roman »Trophäe« – ein Buch, das schon durch sein phänomenales Cover besticht – ist ein schmaler Band mit gerade einmal 253 Seiten, aber die haben es in sich. Denn als die letzte Seite gelesen war, hatte ich das verstörende Gefühl, erst wieder zu mir selbst finden zu müssen. Es war, als hätte sich mein eigener moralischer Kompass während der Lektüre verschoben. Und das fühlte sich irritierend, erschreckend, und ja, erschütternd an. »Trophäe« ist ein Roman, der sich fest in das Gedächtnis einbrennt und ein beeindruckendes Beispiel dafür, zu was Literatur imstande ist.
Barbara Kingsolver: Demon Copperhead
Übersetzt von Dirk van Gunsteren
Laut der Verlagswerbung ist »Demon Copperhead« als moderne Nacherzählung von Charles Dickens Klassiker »David Copperfield« angelegt. Da ich dieses weltberühmte Werk leider nicht kenne (Notiz an mich: Mehr Klassiker lesen!), sind mir die Bezüge verborgen geblieben – doch das hat dem bewegenden Leseerlebnis keinen Abbruch getan. Barbara Kingsolver schildert die Reise eines Kindes, eines jungen Mannes durch die Schattenseiten der USA. Eine Reise durch Armut und Perspektivlosigkeit, durch heruntergekommene Kleinstädte, von Arbeitslosigkeit und den Verheerungen der Opioid-Epidemie zerrüttete Landstriche. Permanent konfrontiert mit Gewalt, Ausgrenzung und Tod sucht jener Demon Copperhead seinen Platz im Leben. Und die Autorin schafft es meisterhaft, im Spagat zwischen ernsten Themen und schnoddrig-sarkastischen Dialogen und Gedanken stets so etwas wie Hoffnung aufblitzen zu lassen. Denn irgendwie geht es immer weiter.
Paul Auster: Baumgartner
Übersetzt von Werner Schmitz
Es war ein seltsamer Zufall: An dem Tag, an dem ich mit »Baumgartner« beginnen wollte, kam die Nachricht vom Tod Paul Austers. Eines Autors, dessen Bücher mich schon seit vielen Jahren begleiten und die einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Als Paul Auster »Baumgartner« schrieb, wusste er wahrscheinlich bereits von seiner Krebserkrankung und es war ihm klar, dass es wohl sein letztes Werk sein würde, sein Abschiedsbuch. Es ist kurzer Roman über große Themen: Über das Älter- und Altwerden, über Verluste und den Umgang damit, über das Alleinsein, über Abschiede und Abschiedsschmerz. Über die Rückschau auf das eigene Leben mit all seinen Abzweigungen, einigen Tiefen und vielen Höhen. Über Zufriedenheit und Hoffnung. Und über das Weitermachen, so lange es geht. Ein Roman über das Menschsein und über die begrenzte Zeit, die wir auf dieser Erde haben.
George Pelecanos: Hard Revolution
Übersetzt von Gottfried Röckelein
Dieses Buch hatte mir einst ein Buchhändler in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens empfohlen. Als ich es nun endlich gelesen habe, war ich restlos begeistert. Mit dem Mittel eines Kriminalromans gelingt George Pelecanos eine fesselnde Gesellschaftsstudie mit all den Bruchstellen, die die USA bis heute prägen: Rassismus, Gewalt, Drogenmissbrauch und die Kriegstraumata einer ganzen Nation. Es ist das Jahr 1968, es ist die Zeit Martin Luther Kings und seines Kampfes für Gerechtigkeit. Derek Strange ist Streifenpolizist in Washington und mit seiner afroamerikanischen Herkunft sitzt er zwischen allen Stühlen. Als nach der Ermordung Luther Kings im gesamten Land Unruhen ausbrechen, als in Washington ganze Straßenzüge brennen und Kriegszustand herrscht, als gleichzeitig Stranges Bruder einem Mord zum Opfer fällt, muss er sich entscheiden, ob ihm Gerechtigkeit oder Rache wichtiger ist. Oder ob es manchmal das Gleiche sein kann. Eine starke Geschichte mit brillant gezeichneten Figuren und einem perfekten Ende.
Lovie Tidhar: Maror
Übersetzt von Conny Lösch
Die Geschichte des Staates Israel lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Als Geschichte des Aufbruchs nach den Grauen der Shoah. Als Geschichte eines kleinen Landes, das sich als einzige Demokratie des Nahen Ostens behauptet – umgeben von Todfeinden. Als Geschichte der Verwirklichung des Traums eines jüdischen Staates auf historischem jüdischem Boden. Als Geschichte einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft in permanentem Verteidigungszustand. Oder als Geschichte eines Landes, in dem sich Drogenkartelle und das organisierte Verbrechen ausbreiten, in dem die Korruption wuchert wie ein Geschwür und die Verstrickung zwischen Politik und Kriminalität zum Alltag gehört. Genau darum geht es in dem Roman »Maror« des israelischen Autors Lavie Tidhar. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und wie nebenbei tauchen historische Wegmarken und bekannte Namen auf, während sich viele kleine Tragödien in einem großen Drama abspielen – und alles ist miteinander aufs Engste verzahnt. Lavie Tidhars Roman fegt wie eine wuchtige Naturgewalt durch die Jahrzehnte israelischer Geschichte. Und im Buchregal gibt es eigentlich nur einen einzigen passenden Platz: Direkt neben Don Winslows »Tage der Toten«.
Dennis Lehane: Im Aufruhr jener Tage
Übersetzt von Sky Nonhoff
Wäre mir bewusst gewesen, wie herausragend gut »Im Aufruhr jener Tage« ist, dann hätte ich das Buch nicht jahrelang im Regal warten lassen. Der Roman führt nach Boston in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es brodelt, Gewalt liegt in der Luft. Eine Wirtschaftskrise deutet sich an; materielle Not, Korruption, Wut und Rassismus verbinden sich zu einer explosiven Mischung. Lehane erzählt die Geschichte dreier Menschen: Danny Coughlin, der aus einer irischen Polizistenfamilie stammt und der beginnt – aufgerüttelt von der Notlage der einfachen Polizisten, deren Gehälter schon längst nicht mehr reichen, um ihren Familien ein menschenwürdiges Dasein zu bieten – an der gewerkschaftlichen Organisation des Polizeikorps mitzuarbeiten. Und sich damit zahlreiche Feinde in Politik und Stadtverwaltung schafft. Luther Laurence, Afro-Amerikaner und Baseball-Talent, der aus der Stadt Tulsa fliehen musste, nachdem er sich dort mit dem örtlichen Gangsterboss angelegt und einige Leichen hinterlassen hat. Und Nora O’Shea, die einer erzwungenen Ehe in Irland entkommen ist und in Boston versucht, sich ein neues Leben zu schaffen. Vor dem Hintergrund einer Zeit gewaltsamer Umbrüche verknüpfen sich diese drei Lebensläufe zu einem grandios und mitreißend erzählten Drama.
Anna Burns: Milchmann
Übersetzt von Anna-Nina Kroll
Belfast, irgendwann in den Siebzigern, in einer Zeit, als Nordirland geprägt war von den Schrecken der »Troubles«: Durch ihr nonkonformes Verhalten – sie hat als junge Frau kein Interesse an einer frühen Ehe und einem Hausfrauendasein, dazu liest sie im Gehen – ist die Ich-Erzählerin eine Außenseiterin in ihrem katholischen Viertel. Das ist an sich schon keine angenehme Situation, aber als der »Milchmann«, der so heißt, weil er einen Milchlieferwagen fährt und der angeblich ein hohes Tier der IRA ist, beginnt sie zu stalken, wird ihre Situation gänzlich unerträglich. Wie ein Geschwür wuchern die Gerüchte durchs Viertel und beginnen, ihr die ohnehin schon dünne Luft zum Atmen immer weiter abzuschnüren. Eine fatale Entwicklung nimmt ihren Lauf. Dabei bleibt alles namenlos: Die Protagonistin, sämtliche Figuren der Handlung, selbst der Name der Stadt wird nie genannt. Dieser Kunstgriff macht den Roman zu einer zeitlosen Geschichte, die sich überall und jederzeit ereignen könnte. Und durch ihren ganz besonderen Stil schafft es Anna Burns, dass man als Leser selbst beginnt, Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben – ein spannender und beunruhigender Kunstgriff. »Milchmann« ist ein anstrengendes, faszinierendes und ungewöhnliches Buch, das uns viel über ein Leben in einer Gesellschaft mit totalitären Zwängen berichtet, in der nur das Angepasstsein zählt und das Anderssein zur tödlichen Gefahr werden kann. Gelesen habe ich den Roman gemeinsam mit Linda König, die auf Instagram als @linda.konigliest über Bücher schreibt.
Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte
Übersetzt von Hans-Joachim Hartstein
Leonardo Padura erzählt die Lebensgeschichte von Ramón Mercader, dem Mann, der am 20. August 1940 Leo Trotzki in seinem mexikanischen Exil ermordete. Auf drei Ebenen nähern wir uns dem dramatischen Ereignis an: Padura schildert minutiös, wie Mercader während des Spanischen Bürgerkriegs für den NKWD – Stalins Mordmaschinerie – rekrutiert, wie er ausgebildet und darauf getrimmt wurde, andere Identitäten anzunehmen. Wie er mit Hass auf den Dissidenten gefüttert wurde, um jegliches Mitleid oder gar Verständnis abzutöten. Parallel dazu beschreibt der Autor Trotzkis Weg in die Verbannung und die Eskalation von Stalins Terrorherrschaft, der unzählige Menschen zum Opfer fallen werden. Und wie sich der Ring der Einsamkeit und Ausgrenzung immer enger um Trotzki zieht, bis zum Ende. Die beiden Handlungsstränge laufen bei dem Ich-Erzähler Iván zusammen, einem Kubaner, der in den Siebzigerjahren einen Mann mit zwei wunderschönen Hunden am Strand kennenlernt. Einen todkranken Mann, der nicht mehr lange zu leben hat und ihm eine Geschichte erzählt, die sein Weltbild erschüttern wird. Ein großartiger Roman über die Schicksalsjahre des 20. Jahrhunderts.
Keanu Reeves & China Miéville: Das Buch Anderswo
Übersetzt von Jakob Schmidt
Was habe ich da eigentlich gelesen? Das war der erste Gedanke, nachdem die letzte Seite umgeblättert war. Und in der Tat sprengt dieser Roman alle Genregrenzen. Seit 80.000 Jahren lebt B. auf unserer Erde. Als Unsterblicher hat er unzählige Kulturen kommen und gehen sehen – und zieht eine blutige Spur durch die Menschheitsgeschichte. Es sind berserkerhafte Gewaltanfälle, die er nicht kontrollieren kann und nichts und niemand kann ihn in diesen Momenten aufhalten. Sobald er tödlich verwundet wird, erfolgt eine Wiederauferstehung. B., oder Unute, wie er einst hieß, hat nur einen Wunsch: Er möchte zu einem Sterblichen werden und seinem Schicksal entkommen. Das US-Militär forscht an und mit ihm, um das Geheimnis seiner Unvergänglichkeit zu ergründen – und nutzt seine mörderischen Talente für Spezialeinsätze. Der Roman ist ein Parforceritt durch tausende von Jahren echter und fiktiver Geschichte – mit dem Untergang von Zivilisationen als großer Konstante. Ein brachiales, düsteres, episches Buch, das mich vollkommen in seinen Bann gezogen hat. Und natürlich habe ich es als John-Wick-Fan vor allem gekauft, weil der Name von Keanu Reeves auf dem Cover steht – der, soviel zur Einordnung, die Idee für die grandiose Geschichte geliefert hat. Geschrieben wurde der Roman von China Miéville.
Volker Kutscher: Rath
Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt und die mich seit vielen Jahren begleitet hat. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 führte damals die Handlung – 2024 ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben. Bevor »Rath« als furioses Ende der Serie erschien, habe ich alle neun vorherigen Bände aus dem Regal geholt und sie einen nach dem anderen gelesen, am Stück, ohne andere Bücher dazwischen – um dann direkt mit dem zehnten abzuschließen. Es war wie ein Leserausch, knapp vier Wochen habe ich benötigt und war in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, abgetaucht in der Vergangenheit, in einer Epoche, die prägend war für unsere Gegenwart. Seite für Seite verdichten sich die dunklen Vorzeichen bis das Licht ganz verschwunden ist, aus den ersten Hinweisen auf Kommendes werden ganze Handlungsstränge – liest man alle Bände am Stück ist das ein atemberaubendes Leseerlebnis. Und am Ende dieser literarischen Reise, 1938, weiß man, dass allen bisherigen Schrecken zum Trotz in der historischen Realität das Schlimmste erst noch bevorsteht.
Regina Denk: Die Schwarzgeherin
Dieser Roman führt uns in ein Bergdorf, weit oben in den österreichischen Alpen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist das dort Leben hart und entbehrungsreich, das archaische gesellschaftliche Gefüge seit unzähligen Jahren wie in Stein gemeißelt. Die achtzehnjährige Theres sucht einen Weg aus der Enge der vorgezeichneten Lebenswege – doch sie kommt nur bis zu einer Jagdhütte, die so weit oben am Berg liegt, dass sie schwer zu erreichen ist. Dort zieht sie ihre uneheliche Tochter groß, wird als Heilerin und Geburtshelferin geduldet, aber misstrauisch beäugt von der Dorfgemeinschaft. Von Beginn an herrscht eine geradezu klaustrophobische Stimmung in diesem sprachmächtigen Buch, das vieles in sich vereint: Die Geschichte eines Ausbruchs und eines selbstgewählten Lebens, die Geschichte der gnadenlosen Strukturen eines Dorfes in lebensfeindlicher Umgebung, die Geschichte einer großen Liebe und eines tragischen Scheiterns und die Geschichte einer Rache. Denn am Ende wird Blut fließen. Wer Romane wie »Das finstere Tal« von Thomas Willmann oder »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« von Gerhard Jäger mochte, sollte sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen. Wobei das nicht ganz stimmt: Eigentlich sollte sich niemand diesen grandiosen Roman entgehen lassen.
Elke Heidenreich: Altern
Das Thema Älterwerden und Altsein kehrt hier im Blog regelmäßig wieder. Und das ist nicht verwunderlich, denn mit Mitte Fünfzig, wenn man die Eltern beerdigt hat und mehrmals miterleben musste, wie Menschen gleichen Alters gehen mussten, ist einem die Endlichkeit des Lebens mehr als bewusst. Daher kam das Buch von Elke Heidenreich genau zum richtigen Zeitpunkt. Es ist eine wunderbare Mischung aus persönlichen Erinnerungen, Gedanken über das Altern und mal feinen, mal sarkastischen Beobachtungen der uns umgebenden Gesellschaft – und ein Streifzug durch die Literaturgeschichte mit zahllosen Zitaten, Buchempfehlungen und Auszügen aus Gedichten. Dabei ist die Autorin so präsent, dass man meint, beim Lesen ihre wohlbekannte Stimme zu hören. Ein Buch, das gleichzeitig zum Nachdenken anregt und Trost spendet. Und Mut macht für die – hoffentlich – kommenden Jahrzehnte.
Stephen Greenblatt: Die Wende
Übersetzt von Klaus Binder
Die Renaissance ist eine der spannendsten Epochen unserer Geschichte, sie war Europas Aufbruch in die Moderne. Ihre Geburtshelfer waren die Texte antiker Autoren, die nach vielen hundert Jahren des Vergessens wiederentdeckt wurden – und wirkten wie das entfernte und inspirierende Echo längst vergangener Hochkulturen. Einer jener verschollenen Schlüsseltexte war »De rerum natura« von Lukrez, der 1417 durch den Bücherjäger (ich liebe dieses Wort) Poggio Bracciolini in einer Klosterbibliothek aufgespürt und kopiert wurde. Wo genau ist bis heute nicht bekannt, vermutlich war es in Fulda. In Lukrez‘ Text geht es zusammengefasst um Folgendes: »Die Welt besteht aus Atomen und Leere. Die Seele stirbt mit dem Körper. Es gibt nach dem Tod kein Jüngstes Gericht. Das Universum wurde nicht aus göttlicher Macht für uns geschaffen, die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode ist abergläubische Phantasie.« Und das alles formuliert in einem außergewöhnlich elegant-poetischen Latein. Man kann sich vorstellen, welche Sprengkraft diese damals bereits tausend Jahre alten und heute noch höchst modern wirkenden Thesen hatten – sie hoben das Denken auf eine neue Ebene, losgelöst von klerikalen Schranken. Stephen Greenblatt beschreibt in seinem Buch die Suche nach dem Text, der bislang nur rudimentär bekannt war, er schildert das außergewöhnliche Leben Poggio Bracciolinis, schreibt über das Denken des Lukrez als Schüler Epikurs und geht auf die Rezeptionsgeschichte von »De rerum natura« ein, die bis weit in die Neuzeit reicht. Das alles ist mitreißend geschrieben und ein äußerst bereicherndes Lesevergnügen.
Jens Bisky: Die Entscheidung
Die Beteuerung, dass man die Weimarer Republik und deren Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, liest man regelmäßig. Auch ich habe das hier schon geschrieben und finde den Gedanken korrekt. Allerdings nur, solange wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen. Jens Bisky beschäftigt sich in seinem Buch »Die Entscheidung« mit den Jahren von 1929 bis 1934 und schildert gleichermaßen akribisch wie spannend, welche Geschehnisse, welche Personen und welche Gedankenwelten dazu beitrugen, den Weg in den Faschismus zu ebnen. Mit dem Wissen, was alles noch geschehen würde, bleibt man als Leser fassungslos zurück. Und beginnt, mehr Parallelen zu unserer heutigen Zeit zu erkennen, als einem lieb ist. Das Fazit des Buches steht im letzten Satz: »Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.« Große und dringende Leseempfehlung!
William Martin: Dezember 41
Übersetzt von Thomas Gunkel und Tobias Rothenbücher
In William Martins Roman geht es um die Planung und Durchführung eines Attentats auf Franklin D. Roosevelt im Dezember 1941, kurz nach Pearl Harbor und kurz nach dem Eintritt der USA in den Krieg gegen Japan und Deutschland. Aber warum sollte man einen historischen Thriller lesen, dessen Ausgang durch die geschichtlichen Ereignisse ja klar ist? Nun, schon der 1971 erschienene Roman »Der Schakal« von Frederik Forsyth, ein berühmter Klassiker des Genres, der die geplante Ermordung von Charles de Gaulle schildert, hat eindrucksvoll gezeigt, dass auch gescheiterte Anschlagsversuche Stoff für spannende Pageturner bieten. Und genau dies schafft auch Martin mit »Dezember 41«, in dem es um ein Netz deutscher Nazi-Spione in den USA geht, um die faschistische Gesinnung nicht weniger eingewanderter Deutscher, um ein Untergrund-Netzwerk, um eine Reise von Los Angeles nach Washington, quer durch ein Land in Schockstarre, Wut und Kriegsvorbereitungen. Um eine Verfolgungsjagd, um sich verdichtende Gerüchte und um einen gerissenen Attentäter, der Menschen manipuliert, lügt, betrügt und mordet, um seinem Ziel näher und näher zu kommen. Das alles perfekt vermischt mit der Alltagskultur jener Zeit, von den damals aktuellen Hollywood-Filmen über die Hitparade im Radio bis hin zur Fahrt im legendären Super Chief Train (mit ein paar Mord-im-Orientexpress-Vibes). Und im Nachwort erfährt man, was an dieser Geschichte wahr ist (eine ganze Menge) und was Fiktion.
Das sind sie also, die besten fünfzehn Bücher meines Lesejahres 2024. Das neue Jahr steht in den Startlöchern und ich bin gespannt, was es bringen wird. Wird es besser? Wir leben in unruhigen Zeiten und es liegt an uns, was wir daraus machen. Im Leitartikel der ZEIT-Neujahrsausgabe schreibt Giovanni di Lorenzo: »Es hilft nichts: Auf der Überzeugung, dass nichts läuft, nichts besser wird, nichts zu verändern ist, lässt sich nichts, aber auch wirklich nichts aufbauen. Die eigenen Kinder und Enkelkinder so in die Welt zu schicken, heißt letztlich, sie um ihre Zukunft zu betrügen. ›Du bist so jung wie deine Zuversicht, so alt wie deine Zweifel‹, schrieb einst der Philosoph, Arzt und Menschenfreund Albert Schweitzer. Man kann es auf eine noch kürzere Formel bringen: Wir haben eine Pflicht zur Zuversicht! Trotz alledem.«
Und mit diesem Zitat wünsche ich uns allen Mut, Hoffnung und Energie für ein neues Jahr 2025. Und viele wunderbare Leseerlebnisse.
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…..eine klare Lesermpfehlung für Ihre Leseempfehlung. Finde ich super geschrieben und macht einen wirklich neugierig……Dankeschön.
Mut, Hoffnung, Energie,
Genau die!
Lieber Herr Kalkowski,
Kurz: ich möchte mich herzlich bedanken für Ihre Begleitung durchs Jahr in Form feiner Worte und dass Sie Ihre literarischen Hoffnungsträger weitergeben.
Gruss Thesa Terheyden