Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky.
»Deutschland 1929 bis 1934« lautet der Untertitel und es sind diese fünf Jahre, mit denen sich der Autor intensiv beschäftigt. Am Anfang und am Ende steht ein Todesfall: Am 3. Oktober 1929 starb Gustav Stresemann und mit ihm verlor die Republik einen ihrer wichtigsten Fürsprecher und einen charismatischen Politiker, dem es immer wieder gelungen war, im zersplitterten Reichstag fraktionsübergreifende Mehrheiten zu schaffen. Als Außenminister schaffte er es, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aus der Isolation zu führen; es war die stabilste Zeit der Weimarer Republik.
Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Nach seinem Ableben ging per Dekret die Regierungsgewalt auf den von ihm im Jahr zuvor ernannten Reichskanzler Adolf Hitler über – Hindenburgs Tod war das Ereignis, mit dem die Herrschaft der Nationalsozialisten endgültig fixiert wurde. Es sind die Jahre zwischen diesen beiden Sterbedaten, in denen sich das Schicksal der Weimarer Republik und das Schicksal Deutschlands entschied. Mit Folgen bis heute, mit Folgen für ganz Europa, für die ganze Welt.
»Die Agonie der Republik begann in jenem Herbst 1929«. Denn in diesem Jahr trafen mehrere Entwicklungen zusammen: Die Weltwirtschaftskrise warf ihre drohenden Schatten voraus und die Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch. Die bürgerlichen Parteien begannen sich zunehmend von der SPD, der Gründerin der Republik, zu distanzieren und sich weiter nach rechts zu orientieren. Und die reaktionäre Rechte, die den demokratischen Staat beseitigen wollte, formierte sich neu, begann sich zu vernetzen. Dazu kam ein dysfunktionales Parteiensystem; 15 Parteien saßen im Reichstag und behinderten sich gegenseitig. Dazu kam eine konservative Justiz, die oftmals selbst zum Lager der Republikfeinde gehörte. Dazu kam mit Hindenburg ein Reichspräsident, der nicht viel von einem demokratischen Staat hielt und sich einen rechtskonservativen Machtblock wünschte – unter Einbeziehung der NSDAP. Dazu kam eine von Stalin ferngesteuerte KPD, für die die SPD der eigentliche Feind war. Dazu kam eine rechtskonservative Unternehmerschaft, die gerne sämtliche durch die SPD errungenen Arbeitnehmerrechte rückgängig machen würde. Dazu kam ein desaströser Staatshaushalt, gebeutelt durch Krisen, Reparationszahlungen und einbrechender Konjunktur. Dazu kam eine Weltuntergangsstimmung, deren Auswirkung auf die Gesellschaft nicht zu unterschätzen sein dürfte: »Antibürgerliche Überzeugungen, die Erwartung eines Umsturzes und selbst die Verschwisterung von Zerstörung und Befreiung spielten in der Weimarer Kultur eine zentrale Rolle.«
Dazu kam eine Orientierungslosigkeit vieler Menschen, kamen Zukunftssorgen und Ängste. Dazu kamen gesellschaftliche Spaltungen, eine Radikalisierung bis hin zu Straßenkämpfen und politischen Morden. Dazu kam der Terror, den die SA-Schlägertruppen der Nazis auf die Straßen der Städte trugen und damit eine zunehmende Stimmung aus Angst und Unsicherheit schufen. Dazu kam der berüchtigte Paragraph 48 der Verfassung des Deutschen Reiches, der es dem Reichspräsidenten ermöglichte, einen Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit einzusetzen und mit Notverordnungen zu regieren. Ursprünglich sollte dies während eines Ausnahmezustands zur Anwendung kommen, temporär begrenzt. Doch nach dem Zerbrechen der letzten großen Koalition und dem Rücktritt des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller am 27. März 1930 war der zersplitterte Reichstag nicht mehr handlungsfähig. Das Scheitern der Koalition war von konservativen Strippenziehern rund um Hindenburg forciert worden – während die republikfeindlichen Parteien NSDAP und KPD ohnehin blockierten, wo sie nur konnten. Dies war das Ende der parlamentarischen Demokratie in Deutschland: Denn nun regierten die von Hindenburg nacheinander eingesetzten Kanzler Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher mit Hilfe der Notverordnungen am Parlament vorbei. Drei Männer, die mit ihrer desaströsen Politik für das endgültige Scheitern der Republik stehen und – gemeinsam mit Paul von Hindenburg – letztendlich den Weg für Hitler und die NSDAP frei machten.
Es war eine fragile Epoche, deren Komplexität und »Schwanken zwischen Anarchie und Autorität« Jens Bisky in seinem Buch gleichermaßen akribisch wie spannend schildert. Mitreißend geschrieben mag man es kaum aus der Hand legen. Sehr lebendig wird es durch die zitierten Aufzeichnungen zahlreicher Zeitzeugen oder Beteiligter, die Auswahl reicht von Harry Graf Kessler über Siegfried Kracauer bis zu Joseph Goebbels. Oder durch Beispiele aus Kunst und Literatur, sei es die Rezeptionsgeschichte von Remarques »Im Westen nichts Neues« oder die Entwicklung der Monatszeitschrift »Die Tat«, deren Ausrichtung sich innerhalb eines Jahrzehnts von lebensreformerisch über bildungsbürgerlich zu rechtskonservativ wandelte – ein Beispiel für die Veränderungen des Zeitgeists. Die Schilderung der Lebenswirklichkeiten unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, ob Bauern, Arbeiter, Studenten, Beamte, Großgrundbesitzer, Mittelständler und vieler mehr sorgt für eine besondere Tiefe der Darstellung.
Und am Ende stehen die Tore in Richtung Faschismus weit offen. Sobald Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, begannen zerstörerische Entwicklungen, die nicht mehr zu stoppen waren. »Kein Bericht kann der Fülle des Gleichzeitigen und der Geschwindigkeit gerecht werden, mit der die nationalsozialistische Diktatur errichtet, die totalitäre Zurichtung der Gesellschaft ins Werk gesetzt wurde. (…) Die Rasanz der Machtergreifung, der Strudel aus Maßnahmen, Aktionen, Verordnungen erzeugte einen eigenen Sog, dem sich viele nicht entziehen konnten und wollten.«
Alles Weitere ist bekannt: Deutschland wurde zu einem Terrorstaat, der die halbe Welt mit Krieg überziehen und Millionen von Menschen unsägliches Leid zufügen würde. Das alles begann mit diesem 30. Januar 1933.
Das Buch der Stunde
Da uns Nachgeborenen bekannt ist, wie damals alles endete, fühlte ich mich beim Lesen von »Die Entscheidung« als würde ich zusehen, wie sich ein Unfall ereignet: fassungslos und doch unfähig wegzuschauen. Und selten habe ich in einem Buch so oft Textstellen markiert; immer wieder lief mir dabei ein Schauer über den Rücken, denn allzu viel wirkt beim täglichen Blick in unsere Nachrichten vertraut. Hier ein paar Beispiele.
»Seit dem Winter 1928/29 verstärkten die Rechten das Trommelfeuer auf die Republik. Erfolgreich säten sie Unruhe, erschütterten das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit des politischen Systems, Probleme zu lösen, ja, überhaupt Entscheidungen zu fällen. Sie konnten dabei an verbreitete Unzufriedenheit anknüpfen, an enttäuschte Erwartungen.« (Seite 52)
»So ging die Republik ins Jahr 1930: mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung, die sich immer weiter nach rechts drängen ließ, und einer ›nationalen Opposition‹, die Aufwind verspürte, strategische Initiative gewann.« (Seite 93)
»Sosehr jedoch einerseits die politische Entwicklung beklagt wurde, so sehr zögerte man andererseits, jenen das Handwerk zu legen, die erklärtermaßen auf Bürgerkrieg und Diktatur hinarbeiteten. Gegen die Verharmloser und Beschwichtiger hatten verteidigungsbereite Sozialdemokraten wie Otto Braun, Carl Severing und Albert Grzesinski keine Chance.« (Seite 158)
»Wie brenzlig die Lage war, hatte Willy Hellpach bereits Ende Mai 1930 im Parteiausschuss der DDP dargelegt: ›Es liegt eine Situation vor, in der jede Diskussion über praktische Einzelfragen die Erfordernisse der Zeit völlig verkennt. Es geht nicht um Taktik, sondern um ganz große Sachen. Es handelt sich in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht um das Schicksal der äußeren Hülle des Staates, sondern um den Inhalt, darum, ob wir in drei Jahren noch eine demokratische Republik oder eine Republik des kalten Faschismus haben werden.‹« (Seite 169)
»Im Jahr 1932 hing das Schicksal der Republik von den Entscheidungen einiger weniger ab, denen es an politischer Urteilskraft mangelte. Das lag zum einen an ihrer Überzeugung, qua Herkunft und gesellschaftlicher Position zur Führung des Landes berufen zu sein. Es lag auch an ihrer Weigerung, die Nation, in deren Namen sie handelten, als eine in sich vielfältige, von Interessengegensätzen geprägte zu begreifen.« (Seite 574)
Ja, ich weiß, Weimar ist nicht die Bundesrepublik, die AfD ist nicht die NSDAP. Aber trotzdem: Viele verschiedene Entwicklungen haben zwischen 1929 und 1934 gemeinsam zum Ende der Demokratie beigetragen. Doch ein wichtiger, ein entscheidender Punkt war das Zusammengehen der konservativen Parteien mit den Rechtsradikalen – um die SPD und alles, was in irgendeiner Weise als »links« galt, aus der Regierung zu drängen und davon fernzuhalten. Und wenn nun, Anfang 2025, der Kanzlerkandidat der CDU beginnt, mit einer rechtsradikalen, faschistoiden Partei zu paktieren, dann bedeutet es entweder, dass er aus der Geschichte nichts gelernt hat. Oder dass es ihm egal ist. Die AfD ist kein politischer Gegner, sondern ein Feind unserer Gesellschaft, unserer Freiheit und unseres Landes. Und mit einem Feind sucht man keinen Schulterschluss, man bekämpft ihn.
Vielleicht sollte ich Herrn Merz dieses Buch schicken. Und am besten beginnt er die Lektüre mit dem letzten Satz: »Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.«
Buchinformation
Jens Bisky, Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0125-7
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Sehr geehrter Herr Kalkowski,
Ihre mit Zitaten aus dem Buch von Jens Bisky unterlegte Buchpräsentation finde ich hervorragend. Beim Lesen der „Entscheidung“ fand ich die atemberaubende Naivität und Rückgratlosigkeit sowie sukzessive Radikalisierung konservativ-nationalistischer Kreise bis hin zu DVP und Zentrum bedrückend. Mag sein, dass Geschichte sich als Farce wiederholt – das Stück muss deswegen nicht weniger blutig und inhuman enden.
Vielen Dank. Und ja, »atemberaubende Naivität und Rückgratlosigkeit« plus Radikalisierung trifft es sehr gut. Auch die aktuellen Entwicklungen.
Es hat in den letzten Jahren einige interessante und lehrreiche Bücher gegeben, bei denen ich dachte: „Wow, das müsste man allen Bundestagsabgeordneten als Pflichtlektüre geben“. Ich fürchte, auch in diesem Fall, vergeblich.
Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Beitrag. Ich bin schon am Anfang über das unscheinbare “ per Dekret“ gestolpert. Scheint ja gerade wieder schwer in Mode zu kommen.
Ja, ich befürchte, es ist dem Kandidaten inzwischen wirklich einfach egal.