Eigentlich war dieser Blogbeitrag ganz anders gedacht. Eigentlich sollte er vor allem aus Bildern bestehen und mit wenig Text auskommen; ein großes Photoalbum sollte es sein – von einem der schönsten Bücherräume, die ich je besucht habe. Und eigentlich hatte ich geschätzt, dass auf der Speicherkarte meiner Kamera Dutzende Photos dieser Räumlichkeiten vorhanden sind. Aber da hatte ich wohl eine falsche Erinnerung im Kopf. Doch für diesen Irrtum gibt es einen Grund: Ein Gespräch. Und zwar eines, das so faszinierend war, dass ich das Photographieren schlicht und ergreifend vernachlässigt habe. Zumindest sind deutlich weniger Photos entstanden, als gedacht. Aber dafür habe ich viele Bilder im Kopf mitgenommen – und darüber schreibe ich nun.
Im Oktober 2023 war ich ein paar Tage in Weimar und konnte mir einen langgehegten Wunsch erfüllen: Ein Besuch im berühmten Rokoko-Saal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Von außen wirkt das Gebäude, das in der Spät-Renaissance erbaute »Grüne Schloss«, schlicht und beinahe unauffällig. Zumindest erwartet man nicht die Pracht im Innern; eine Pracht, die nicht protzig daherkommt, sondern elegant und geschmackvoll, schon fast ein wenig verspielt: Der Rokoko-Saal stammt aus dem Jahr 1766. Natürlich habe ich schon unendlich oft Bilder davon gesehen, doch es ist wie immer bei Sehnsuchtsorten: Betritt man sie zum ersten Mal in der Wirklichkeit, ist das ein ganz besonderer Moment.
Dieser Saal ist das Herz einer bedeutenden Büchersammlung. Zu Beginn waren dort etwa 30.000 Werke untergebracht, aber in den Jahren zwischen 1766 und 1832 kamen weitere 100.000 Bücher dazu. Zu verdanken ist diese Entwicklung der Herzogin Anna Amalia – enthusiastische Leserin, Regentin des kleinen Staats Sachsen-Weimar-Eisenach und Mutter des Herzogs Carl August, dem Förderer und Freund Goethes – sowie eben jenem Johann Wolfgang von Goethe, der neben anderen Ämtern auch dasjenige des leitenden Bibliothekars innehatte. Diese beiden schufen eine bibliophile Sammlung, die prägend war für die Epoche der Weimarer Klassik und deren Bedeutung überdauert hat bis heute.
Hier stand ich also und ließ andächtig die Blicke schweifen. Hoch und luftig ist der Raum und in meiner Erinnerung riecht es nach Holz, Bohnerwachs und Papier. Mehrere Meter über mir verläuft das Geländer einer Galerie, die ein Oval bildet. Sie ruht auf Regalwänden, die das Oval aufnehmen, frei im Raum stehen, aber dabei keine durchgehende Wand bilden. Und überall Bücher, Bücher, Bücher – über beide Etagen. Sofort stellte sich das vertraute Gefühl ein, das ich stets beim Blick in die Lesesäle großer Bibliotheken habe: die Tatsache, dass unendlich viel Wissen in diesen Büchern gespeichert ist, wirkt einschüchternd und beruhigend zugleich. Einschüchternd, weil man niemals in einem Leserleben all die Bücher lesen kann, die man möchte. Und beruhigend, weil der Lesestoff und die Entdeckungen niemals ausgehen werden.
Vor den gefüllten Regalen stehen Bibliotheksleitern auf dem uralten, knarrenden Dielenboden. Das Geländer der Galerie ist geschmückt mit Büsten bedeutender Schriftsteller, die auf die eintretenden Besucher aus der Höhe hinunterschauen; Goethe direkt gegenüber der hohen Türe, als wolle er jeden Besucher mustern. Und es ist nicht die einzige Goethebüste, die in dem Saal zu sehen ist. Bei weitem nicht.
Doch dieses Bücherparadies ist fragil. Am Abend des 2. September 2004 brach im Dachstuhl des alten Gebäudes ein Brand aus. Die Ursache wurde nie final geklärt, vermutlich war es ein defektes Kabel. Das ist schon lange her, aber ich kann mich gut an die Nachricht und die erschütternden Bilder der brennenden Bibliothek erinnern. Die Schäden waren dramatisch: 50.000 Bücher verbrannten vollständig, 62.000 Bücher wurden beschädigt, sei es durch das Feuer oder durch das Löschwasser. Lediglich 28.000 Bände wurden aus dem brennenden Gebäude unversehrt gerettet – teilweise unter Lebensgefahr der Beteiligten. Es war der größte Bibliotheksbrand in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Die beschädigten Bücher konnten zum größten Teil restauriert werden, das Zentrum für Bucherhaltung in Leipzig trug maßgeblich dazu bei – doch die Arbeiten dauerten mehr als ein Jahrzehnt.
In Gedanken an die Nachrichten über den Brand wandte ich mich an einen der Museumsaufseher, der dezent am Rand des Saales stand und darauf achtete, dass niemand den alten Büchern zu nahekam. Ich fragte ihn, wie man sich den wunderschönen Raum nach der Katastrophe vorstellen musste – denn ich konnte es nicht – und er zeigte mir, wie ich mir in der Museums-App eine photographische Rundum-Ansicht des Zustands nach dem Brand anschauen konnte (es geht auch ohne die App: Hier). Es sind Bilder, die weh tun: verkohlte Balken, Ruß und Asche, nach oben geht der Blick ins Freie. Dann aber sprach er weiter, es brach geradezu aus ihm heraus und er begann von der schrecklichen Nacht zu erzählen. Es war ein zutiefst emotionaler Moment und man merkte, wie sehr ihn die Erinnerung auch so lange danach noch beschäftigte. Er berichtete von den Flammen und dem Rauch, dem flackernden Blaulicht der Feuerwehr, von den Schläuchen, dem Löschwasser, das in die brennende Büchersammlung gespritzt wurde. Erzählte von den herabbrechenden Dachbalken, von dramatischen Rettungsversuchen, den verbrannten und halbverbrannten Büchern, von dem Totalverlust zahlloser einzigartiger, alter Werke. Von dem Entsetzen, das die gesamte Stadt lähmte und das unvergessen ist, auch wenn seitdem schon zwanzig Jahre vergangen sind. Wer mehr dazu wissen möchte: An dieser Stelle sei unbedingt auf das Zeitzeugen-Projekt der Klassik Stiftung Weimar hingewiesen.
Und er erzählte – während er ab und zu andere Besucher freundlich darum bat, die Absperrseile vor den Buchregalen zu berücksichtigen – von dem Wiederaufbau des Gebäudes, von der Hilfe, die aus der ganzen Welt eintraf und von der Rettung tausender beschädigter Bücher.
Spannende Details habe ich dabei erfahren: Das helle Blau, in dem die Buchregale gestrichen sind, ist die Originalfarbe, die vor dem Brand verblichen und vergessen war. Durch die Evakuierung der Bibliothek waren die Regale auf einen Schlag leer – und man fand auf den Rückwänden, die normalerweise von den Büchern verdeckt waren, noch Reste des ursprünglichen Anstrichs. Und konnte die ursprüngliche Mischung des Farbtons rekonstruieren.
Der alte Dielenboden, durchtränkt vom Löschwasser, wurde entfernt. Die alten Eichenbohlen mussten trocknen, um anschließend wieder an Ort und Stelle verlegt zu werden. Dabei war es wichtig, auch möglichst viele der der geschmiedeten Nägel aus dem 18. Jahrhundert zu sichern, mit denen sie befestigt sind. Denn um den Denkmalstatus zu bewahren, mussten so viele Originalbestandteile wie möglich wiederverwendet werden. Dabei hatte das Gebäude eine feine Überraschung auf Lager: Denn unter den Dielen befindet sich ein wunderbarer Renaissance-Boden mit Fliesen aus der Erbauungszeit des Grünen Schlosses – der Saal wurde ja erst 200 Jahre später hineingebaut. Nachdem man die Fliesen gründlich untersucht hatte, kamen die getrockneten Dielen wieder zurück auf ihren Platz.
Ich liebe es, von solchen Details erzählt zu bekommen und sie bleiben mir über Jahre im Gedächtnis. Und daneben hatte jener Museumsaufseher, dessen Namen ich nicht kenne, auch viel Wissenswertes über die Menschen auf Lager, die auf den Gemälden in der Bibliothek abgebildet sind; es war eine charmante Mischung aus Geschichtlichem und Anekdotischem. Er meinte zu mir, wenn man tagein, tagaus in diesem Saal stünde, dann bekäme man im Laufe der Jahre vieles davon mit, was in den Führungen erläutert würde. Es war ein äußerst kurzweiliges und hochinteressantes Gespräch mit einem Menschen, der seine Arbeit liebt, der stolz war auf das Gebäude, den wunderschönen Saal und dessen Bedeutung und der – wie er mir erzählte – es jeden Tag aufs Neue genießen würde sich in diesem Bücherpalast aufzuhalten.
Ein paar Photos sind dann doch noch zusammengekommen und die sind hier zu sehen. Nur Bilder der Gesamtansicht habe ich nicht gemacht. Aber dieser berühmte Blick findet sich ja auch woanders. Was ich nicht geschafft habe, war ein Besuch des Bücherturms, einem Anbau der Bibliothek, in dem drei Büchergalerien übereinander liegen und mit einer Wendeltreppe verbunden sind. Beim nächsten Weimar-Besuch dann – und der kommt bestimmt.
Zum Weiterlesen
Annette Seemann, Die Geschichte der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
Insel-Bücherei Nr. 1293
Insel Verlag
ISBN 978-3-458-19293-0
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Danke für den schönen Artikel. Er macht Lust nach Weimar zu reisen. Steht jetzt auf meiner Liste. :-)
Eine feine Schilderung und Bebilderung; danke. Gerade auch Dein Gespräch mit dem Aufseher und die Erinnerungen an den Brand und Wiederaufbau ist eindrucksvoll zu lesen.
In den neunziger Jahren konnte ich die Anna-Amalia-Bibliothek mehrmals besuchen. Ein besonderes Gefühl, dort im Lesesaal einmal etwas an Ort und Stelle zu studieren.
Wie gut, dass das Gebäude und die Einrichtung trotz der Verluste wieder restauriert werden konnten.
Vielen Dank, mein Lieber, dass du uns mitgenommen hast auf diese sehr persönliche Anschauungsreise.
Das ist ein sehr schöner Bericht. An den Brand erinnere ich mich auch noch sehr gut, das war wirklich eine Katastrophe
Ja, die Bilder und Filmaufnahmen haben weh getan damals. Umso schöner ist es, den Saal heute zu besuchen (nur an die Totalverluste darf man dabei nicht denken).