Denkmal für die Verschwundenen

Pierre Jarawan: Ein Lied fuer die Vermissten

17415. Siebzehntausendvierhundertfünfzehn. Diese Zahl steht im Mittelpunkt des Romans »Ein Lied für die Vermissten« von Pierre Jarawan. Es ist die Anzahl der Menschen, die während des Bürgerkriegs im Libanon verschwanden – und bis heute vermisst werden. Während des Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 vor allem in und um Beirut ausgetragen wurde, der eine der schönsten und multikulturellsten Städte des Mittelmeers in Schutt und Asche legte und der tiefe Wunden in den Seelen der Menschen dort hinterlassen hat. Diese Wunden sind nur schlecht vernarbt, sie drohen ständig wieder aufzureißen – doch von offizieller Seite wird alles getan, um nicht darüber reden zu müssen. Pierre Jarawan – dessen Eltern den Libanon 1982 verließen, als die alltägliche Gewalt einen Höhepunkt erreicht hatte – erzählt in seinem Roman die Geschichte von Amin, der auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie uns Leser tief hineinführt in die Tragik jener Zeit.  

Beim Lesen des Buches habe ich mich daran erinnert, wie die Nachrichtenmeldungen aus dem libanesischen Bürgerkrieg mein eigenes Aufwachsen begleitet haben; von meinem sechsten bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr gehörten Berichte aus Beirut dazu, wenn meine Eltern abends vor der Tagesschau saßen oder das Radio in der Küche lief. Das ist mir erst durch »Ein Lied für die Vermissten« bewusst geworden – und damit auch die zeitliche Dimension: Eine ganze Generation lernte in ihrer Kindheit nichts anderes kennen, als Krieg, Tod und willkürliche Brutalität. 

Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 2006, als wieder ein Krieg das geschundene Land erschüttert. Diesmal fallen die Bomben aus israelischen Jets. Ziele sind die Einrichtungen der Terror-Miliz Hisbollah, die sich – von Syrien unterstützt – überall im Libanon zwischen der Zivilbevölkerung eingenistet hat. Womit das kleine, geschundene Land zwischen die Fronten gerät; Häuser, Straßen, Brücken werden zerstört, die nach dem langen Bürgerkrieg wieder entstandene Infrastruktur weggebombt. Ich-Erzähler Amin sieht von weitem die Flugzeuge und die Rauchwolken; er lebt abgeschieden in einem kleinen Haus, oben in den Bergen über Beirut.

Es ist das Haus, in dem seine Großeltern in der Zeit vor dem Bürgerkrieg glücklich waren, in dem seine Mutter aufwuchs. Und von dem aus seine Großmutter Yara Elmaalouf mit ihm als Kleinkind das Land verließ und 1982 nach Deutschland flüchtete – nachdem die Familie von den Ereignissen zermalmt worden war. An jenem Tag, als Amin vor seinem Haus steht und dem Grollen des Bombardements lauscht, erhält er eine Nachricht, die Erinnerungen wieder lebendig werden lässt, die er längst verdrängt geglaubt hatte. Und er begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Großmutter und nach der Geschichte seiner Familie.

1994 war Yara mit dem inzwischen vierzehnjährigen Amin nach Beirut zurückgekehrt, um noch einmal von vorne anzufangen. Sie eröffnete ein Café mit einer Galerie, in er sie ihre eigenen Bilder ausstellte. Und schnell versammelte sich um sie eine Gruppe der unterschiedlichsten Menschen, die eines einte: Sie hatten geliebte Angehörige, Freunde, Verwandte in den Wirren des Bürgerkriegs verloren, trauerten um die Vermissten und hegten eine verweifelte Hoffnung, dass diese eines Tages wieder auftauchen würden. Und sie alle kannten das alte Beirut, die Perle des Mittelmeers. Eine Schicksalsgemeinschaft als Familienersatz. 

Amin fühlt sich vom ersten Tag seiner Ankunft in Beirut alleine, als Einzelgänger. Er ist der einzige in seiner Schulklasse, der die Tage und Nächte der Bombardements nicht erlebt hatte. Der nicht auf der Hut vor Scharfschützen durch die Straßen gehuscht war. Der keine Leichen auf den Fußwegen hatte liegen sehen, nicht die Gefahr der Straßensperren kannte, an denen die unterschiedlichen Milizen die Passanten kontrollierten – und diejenigen aus der falschen Wohngegend oder mit der falschen Religion drangsalierten, nicht selten ermordeten, die Leichen irgendwo verscharrten oder ins Meer warfen.

Nur mit seinem Mitschüler Jafar versteht er sich und die beiden werden die besten Freunde. Der einäugige Jafar streift mit ihm durch die Ruinen der zerschossenen Straßen, zeigt ihm atemberaubende Aussichtspunkte auf den Dächern ausgebrannter Hochhäuser, erzählt Geschichten aus den Bürgerkriegszeiten – während um sie herum Kräne in den Himmel ragen, überall gebaut wird und nach und nach das Leben in die Stadt zurückkehrt. Doch unter der Maske des draufgängerischen Jungen schimmert immer wieder ein hochtraumatisiertes Kind durch – und Amin spürt, dass  zwischen Jafar und ihm bei aller Freundschaft stets etwas Unausgeprochenes stehen wird. Dann verlässt die Familie von Jafar Beirut und den Libanon und er verschwindet aus Amins Leben – ohne Abschied, ohne Erklärung, von heute auf morgen. 

Gleichzeitig wird ihm Yara zusehends fremder. Sie scheint zunehmend in der Vergangenheit zu leben, nutzt ihre Malerei und ihre im Café ausgestellten Bilder, um verstärkt auf die Schicksale der vielen tausend Verschwundenen aufmerksam zu machen und eckt damit bei den Behörden an. Denn niemand hat Interesse an einer Aufarbeitung, die einstigen Milizenbosse sitzen an den Schalthebeln der Macht. Sie erklärt es ihrem Enkel mit treffenden Worten: 

»Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.«

In Rückblicken, verteilt auf mehrere Zeitschienen, erzählt Amin von dem, was damals geschah. Davon, wie sehr ihn der Weggang Jafars traf. Davon, wie sehr die Entfremdung zwischen ihm und seiner Großmutter schmerzte. Davon, wie er beides nie verstanden hat. Und davon, wie vage am Rande seines Bewusstseins das Gefühl auftauchte, dass beides miteinander zu tun hatte und eng verknüpft war mit den schrecklichen Geschehnissen des Bürgerkriegs. Und je mehr er sich erinnert, je mehr er in den Geheimnissen der Vergangenheit zu schürfen beginnt, um so klarer werden die Zusammenhänge.  

Und über allem steht die Frage, was eigentlich seinen Eltern widerfahren ist, deren Unfalltod der Auslöser für die Flucht war, die seine Großmutter und ihn nach Deutschland führte. War es wirklich ein Unfall? Und wo sind ihre Gräber?

Pierre Jarawan fügt in seinem Roman die unterschiedlichsten Erzählstränge kunstvoll zu einem großen Ganzen zusammen – und ich habe hier nur die allerwichtigsten erwähnt, alles andere würde den Rahmen sprengen. Nicht alle Fragen werden beantwortet, manches bleibt offen und der Phantasie der Leser überlassen – eine Hommage an den klassischen Beginn des arabischen Geschichtenerzählens: »Yeki Bud. Yeki Nabud. Es war so. Und es war nicht so.« Durch seine kraftvolle, poetische Sprache entsteht das Bild eines geschundenen Landes, dessen unaufgearbeitete Geschichte seiner Zukunft im Wege steht.

»Es kommt so selten vor, dass mir jemand über den Krieg erzählt«, sagte ich. 
»Weil diese Stadt ein Schiff ist, Amin. Das alte Schiff Beirut. Das Prinzip, das es über Wasser hält, heißt Verdrängung.«
»All die zerstörten Häuser, die jetzt abgerissen werden. Bald wird nichts mehr an die Zeit des Krieges erinnern.«
»Es wird Erzählungen geben.«
»Die gibt es schon.« Ich drehte ein Apfelstück zwischen den Fingern. »Aber welche davon ist wahr?«
»Keine«, sagte er. »Und alle.«

Die gedankliche Reise führt zurück in die Zeit, in der Beirut als Treffpunkt der Reichen und Schönen galt und eine Stadt war, in der die unterschiedlichsten Menschen, Kulturen und Religionen zusammenlebten. Zeigt uns, wie der fünfzehnjährige Bürgerkrieg diese Welt untergehen ließ. Und wie in unserer Zeit der Arabische Frühling erste Hoffnungen auf einen Neuanfang brachte – bevor diese durch den bis heute andauerenden Krieg in Syrien zunichte gemacht wurden, der die gesamte Region destabilisiert. 

Kurz bevor die Corona-Krise öffentliche Veranstaltungen unmöglich machte, habe ich Pierre Jarawan bei einer Lesung in der Kölner Buchhandlung Baudach live erlebt. Er sprach voller Leidenschaft vom Libanon, von Beirut und davon, wie sehr die Angehörigen der vielen Vermissten bis heute darunter leiden, keine Gewissheit darüber zu haben, was mit ihren Männern, Frauen, Söhnen oder Töchtern geschehen ist. Der Staat blockiert jede Aufarbeitung, vertuscht, behindert Recherchen und drangsaliert diejenigen, die dieses verordnete Schweigen aufbrechen wollen.

Er hat dieses Buch geschrieben, um jenen 17415 Menschen ein literarisches Denkmal zu setzen. Und um damit ein kleines Stück dazu beizutragen, dass diese Vermissten nicht in Vergessenheit geraten. Immer wieder sind daher Originaldokumente eingearbeitet, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen ist. Daher möchte ich diesen Beitrag mit einigen Zeilen aus dem Roman beenden. Sie wurden von Zetteln abgeschrieben, die in Beirut an einer Mauer hingen – noch lange nach dem Krieg.

  • Joseph Tawil, 26; 12. Februar 1976 | Gegen 9 Uhr während einer Zigarettenpause
  • Jamal Sweid, 20; 18. März 1980 | Gegen 14 Uhr auf der Straße zum Flughafen
  • Arifa Shamandar, 15; 5. Juli 1985 | Gegen 17 Uhr während eines Spaziergangs mit Freunden
  • Youssef Ghandour, 52; 13. April 1977 | Gegen 8.30 Uhr in der Nähe von Ali Sherkawis Autowerkstatt
  • Khaled Merhi, 44; 11. August 1979 | Zwischen 12 bis 14 Uhr am Checkpoint Corniche El Mazraa
  • Fatima Tayyar, 24; 21. November 1987 | Gegen 16 Uhr auf dem Weg zur Apotheke
  • Ali Fahmi, 30; 12. Januar 1989 | Gegen 11 Uhr in der Nähe von Burj El Murr
  • Laila Darwish, 17; 21. November 1983 | Gegen 18.30 Uhr aus dem Auto einer Freundin
  • Hanna Najjar, 15; 6. Juni 1985 | Gegen 21.30 Uhr auf der Straße von Beirut nach Damour
  • George Ghawi, 19; 21. Oktober 1981 | Gegen 0.30 Uhr von zu Hause

Zehn Namen, stellvertretend für die vielen, vielen anderen. 

Buchinformation
Pierre Jarawan, Ein Lied für die Vermissten
Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1365-1

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5 Antworten auf „Denkmal für die Verschwundenen“

  1. Lieber Uwe,
    war auf der Suche nach Literatur aus dem und über den Libanon, da kam Deine Besprechung des Buches wie gerufen!
    Vielen Dank und Grüße aus Berlin,
    Matthias

  2. Danke für Deinen Hinweis und die Besprechung mit persönlichen Erinnerungen.
    Ob ich das lesen kann, auch angehörs der aktuellen Nachrichten aus dem Libanon?
    Mein Erschrecken damals, 1980/81/82, als ein Brief nach Beirut als unzustellbar zurückkam.
    Wie sagte der Moderator der „Aspekte“ am Freitagabend: „Wir müssen alles erwarten. Auch das Gute.“
    Damit gute Wünsche und viele Grüße
    Bernd

    1. Das klingt nach einer heftigen Erfahrung, die man sicherlich nie vergisst.
      Mir hat das Buch – wie auch schon der Debütroman des Autors (Am Ende bleiben die Zedern) – den Libanon und Beirut auf eine sehr bewegende Art nahegebracht.
      Herzliche Grüße
      Uwe

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