Wirtschaftsflüchtlinge. Ein Wort für Menschen, deren Situation in ihrem Heimatland so perspektivlos ist, dass sie versuchen, sich in der Fremde eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Über ein Jahrhundert lang war Mitteleuropa eine Auswanderungsregion; Millionen dieser Wirtschaftsflüchtlinge ließen Deutschland oder Österreich hinter sich, alle auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben. Es begann mit den großen Migrationswellen im 19. Jahrhundert als Folge der Verelendung durch die Industrialisierung, der Hungersnöte durch Missernten oder der politischen Unfreiheit.
In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts kehrten ebenfalls viele Auswanderer ihrer Heimat den Rücken. In ihren Ländern, die durch Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrise geschwächt waren und im politischen Chaos zu versinken drohten, sahen sie für sich keine Zukunft mehr. Um zwei Menschen aus genau dieser Zeit geht es in den Romanen »Der Empfänger« von Ulla Lenze und »Kamnick« von Felix Kucher. Beide Bücher schildern auf unterschiedliche Weise, wie mühsam sich für diese Migranten ein Neuanfang gestaltete, wie wenig willkommen sie waren – und wie ihre Schicksale zu Spielbällen der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurden.
Ulla Lenze: Der Empfänger
Im Sommer 1949 ist Josef Klein im Haus seines Bruders Carl gestrandet. Es ist ein kleines Haus, irgendwo im zerbombten Neuss, einer kleinen Stadt in der Nähe von Düsseldorf. Wenige Tage zuvor war er noch in New York gewesen, als Gefangener, als internierter Deutscher, der dann aus den USA abgeschoben wurde. Und jetzt ist er wieder dort, wo ein Vierteljahrhundert zuvor alles begann. Denn 1925 wollten die beiden Brüder gemeinsam auswandern, wollten der wirtschaftlichen Misere in Deutschland entkommen, einen Neuanfang wagen. Da verlor Carl bei einem Unfall ein Auge und hätte mit dieser Verletzung keine Chance bei den US-Einwanderungsbehörden gehabt. Und Josef ging alleine.
1949 begegnen wir einem Menschen, der das Gefühl hat, nirgendwo hinzugehören. Der in einer Mischung aus Rastlosigkeit und Fatalismus die Tage verbringt. Der innerlich auf dem Sprung ist, aber nicht weiß, wohin. Der gescheitert ist, aber sich weigert, dies als endgültig anzusehen. Doch eines ist Josef schnell klar: Seine ehemalige Heimatstadt ist nur eine Zwischenstation. In Rückblicken erfahren wir, wie es ihm seit der Ankunft auf Ellis Island mit Blick auf das überwältigende New Yorker Panorama ergangen war.
Der Anfang in New York im Januar 1925 war hart für Josef. Niemand wartete auf ihn, einen weiteren Migranten auf der Suche nach Arbeit und einem Dach über dem Kopf. Ulla Lenze beschreibt einfühlsam die Einsamkeit und Wurzellosigkeit des Ausgewanderten. Die zerplatzten Träume, die anfängliche Euphorie des Ankommens, die aufgefressen wurde von existenzieller Not. Irgendwie schaffte er es, sich über Wasser zu halten, irgendwann fand er einen Job in einer Druckerei, lebte in einem heruntergekommenen Apartment in East Harlem und die Jahre vergingen. Der große Traum des Neuanfangs war zu einem Alltag geschrumpft, in dem Josef irgendwie über die Runden kam. Immerhin.
Sein einziger Luxus war seine Funktechnik; er hatte sich durch Bücher gearbeitet, sich die Materialien besorgt und ein Funkgerät gebaut. Und erwies sich dabei als erstaunlich talentiert. Vor allem kompensierte er damit seine Einsamkeit, denn wenn er mit Menschen irgendwo im Funknetz anonym kommunizierte, vergaß er für ein paar Stunden, dass er zu einem Eigenbrötler geworden war, der planlos und für andere unsichtbar durch sein Leben stolperte. Nur manchmal dachte er an die erste Zeit nach seiner Ankunft in den USA: »Er konnte in diese Gefühle hineinwaten wie in einen See, dessen Wasser ganz langsam an ihm hochstieg. Als wäre alles noch ganz nah, und wenn er nicht aufpasste, könnte das, was er erreicht hatte, als Trugbild auffliegen, als Kartenhaus zusammenbrechen, als hätte er nichts erreicht, nur federleichtes Sein, das gegen nichts gefeit war.«
Kundenkontakte der Druckerei führen Josef hinein in die deutsche Community New Yorks und bringen ihn in Kontakt mit einer faschistischen Organisation, die begeistert die Entwicklungen im Deutschen Reich verfolgt. Es gibt viele Deutsche in New York, im Stadtteil Yorkville sind ganze Straßenzüge deutsch beschriftet. Zwischen Central Park und Second Avenue und zwischen der 70. und 90. Straße gibt es das »Café Geiger« oder die »Kleine Konditorei«, das »Jägerhaus«, den »Schwarzen Adler«, die »Lorelei«, Kinos, in denen deutsche Filme laufen, Brauhäuser und Bierkeller, man kann Blut- und Leberwurst kaufen und deutsche Zeitungen. Und es ist eine Gegend, mit der Josef nichts zu tun haben möchte, sein East Harlem mit seinen Jazzclubs und dem bunten Leben auf der Straße ist im lieber.
Natürlich sind viele der Deutschen in den USA keine Nazis, nicht einmal deren Sympathisanten. Doch durch das Auftreten faschistischer Gruppierungen entstehen antideutsche Ressentiments, von denen die gesamte deutschstämmige Community betroffen ist. Was gleichzeitig zum perfekten Nährboden für die Rekrutierungstaktiken der Abwehr wurde, wie der Auslandsgeheimdienst des »Dritten Reiches« hieß.
Dann beginnt der Zweite Weltkrieg.
»Er saß auf einer Couch in einer Wohnung in Harlem. Es hatte alles miteinander zu tun, und zum ersten Mal spürte er es.«
Und Josef Klein, der ein neues Leben anfangen wollte und sich in seiner Mittelmäßigkeit eingerichtet hatte, gerät ohne es zu wollen – und ohne es anfangs zu merken – aufgrund seiner Kenntnisse als Funker zwischen die Mahlsteine der Politik. Und hinein in einen Krieg hinter den Kulissen, den er nur mit viel Glück überlebt. Bis er 1949 wieder in Neuss landet, im Haus seines Bruders.
Geblieben ist seine Wurzellosigkeit, die Zeit bei seinem Bruder ist nur eine Etappe auf seinem Weg nach Südamerika, nach Argentinien – wo er wieder auf dieselben Nazigestalten treffen wird, die er schon in New York zu verachten gelernt hat. Aber die mit seinem Schicksal verbunden sind, ob er es will oder nicht.
Ulla Lenze hat einen wunderbar vielschichtigen Roman geschrieben. Sie schildert die Geschichte eines Menschen, der auf der Suche nach einem etwas besserem Leben zu einem Heimatlosen wurde: »Wie oft er irgendwo ankam und so tun musste, als sei es sein Zuhause.«
Und ganz nebenbei lässt die Autorin das New York der Dreißigerjahre auferstehen, so lebendig, als würde man sich selbst durch die geschäftigen Menschenmassen schieben, die die breiten Gehwege bevölkern.
Ganz große Leseempfehlung!
Felix Kucher: Kamnick
Es schon etwas her, seit ich den Roman »Kamnick« von Felix Kucher gelesen habe und ich wollte schon seit längerem etwas darüber schreiben – denn es ist ein Buch, das mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist. Im Zusammenhang mit der Buchvorstellung von »Der Empfänger« passt es jetzt perfekt, denn auch hier geht es um das mühsame Ankommen eines Auswanderers, der Mitte der Zwanziger Jahre sein Glück in der Fremde versucht. Diesmal in Argentinien, in Buenos Aires. Und diesmal handelt es sich um den Österreicher Anton, der aus dem südlichen Kärnten stammt, einer Gegend, in der nach dem Ersten Weltkrieg die Emotionen hochkochen und Ressentiments an der Tagesordnung sind.
Denn Anton stammt aus einer slowenischen Familie; einer Volksgruppe, die seit Jahrhunderten fest in Kärnten verwurzelt ist. Nachdem sich nach dem verlorenen Krieg 1918 das riesige Habsburgerreich fast über Nacht auflöste, entstand im Süden Österreichs das neugegründete Jugoslawien, das versuchte, die slowenischen Gebiete Kärntens zu annektieren. Schließlich kam es zu einer Volksabstimmung, bei der die Mehrheit der Kärntner Slowenen für einen Verbleib bei Österreich stimmte. Doch von den deutschnationalen Kräften wurden sie mit Misstrauen betrachtet; nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 begann die Zeit der Unterdrückung bis hin zur Deportation, um die eigenständige slowenische Kultur zum Verschwinden zu bringen.
Als Anton 1925 den Plan fasst, die Armut seines Heimatortes hinter sich zu lassen, liegt dies alles noch in weiter Ferne. Doch die angespannte Situation zwischen slowenisch- und deutschsprachigen Österreichern ist im Roman deutlich spürbar. Dazu ist die Gegend wirtschaftlich abgehängt, die Dörfer sind heruntergekommen und bieten vielen ihrer Bewohner keine Zukunft. Eine eindrucksvolle Szene: Nach mehreren Monaten Arbeit auf einer Baustelle kommt Anton zurück in seinen Weiler, sieht im verschwindenden Abendlicht die zusammengeduckten, kleinen Häuser. »Es war zwar schon dämmrig, aber er konnte ihre Armseligkeit fühlen, wie Nebelfeuchte kroch sie ihm jetzt unter das Gewand.« Hier gibt es nichts für ihn.
Also Argentinien. Er lässt seine Familie zurück, seine Eltern, seine Schwester Bepa und seinen Bruder Josl. Niemanden von ihnen wird er wiedersehen.
Es beginnt ein mühseliger Weg, Anton kommt als Habenichts in Buenos Aires an, die Sprachbarriere scheint zu Beginn unüberwindlich, er wird gedemütigt, ausgebeutet, schuftet bis zum Umfallen, aber beißt sich durch, immer weiter – bis sich ganz sachte das erste Licht am Ende des Tunnels zu zeigen beginnt und er es schafft, sich nach und nach eine Existenz aufzubauen. Und eine Familie gründet. Während wir dies alles miterleben, schwenkt die Handlung immer wieder zurück nach Südkärnten. Denn es gibt in diesem Roman eine weitere Handlungsschiene. Eine, die erst parallel läuft und scheinbar nichts mit Anton zu tun hat. Es ist der Lebenslauf von Kamnick, einem überzeugten Nazi, der 1926 in München in die NSDAP eintrat und in den Dreißigern in Österreich mithilft, den Boden zu bereiten für das kommende Böse. Im südlichen Kärnten macht er sich an die Arbeit; skrupellos, gewalttätig, fanatisch – und dabei stets auf den eigenen Vorteil bedacht.
Jahre später erreicht eine weitere Auswanderungswelle Südamerika, vor allem Argentinien und Chile. Es waren die Nazischergen, die auf den sogenannten »Rattenlinien« ihrer verdienten Bestrafung zu entkommen suchten. Auch Kamnick wird dadurch 1945 nach Buenos Aires gespült – inzwischen ein gesuchter Mörder, der seine Untaten in der Uniform der braunen Machthaber verübte. Über drei Ecken lernt Anton – der inzwischen vor allem Spanisch spricht und darauf bedacht ist, in der multikulturellen argentinischen Gesellschaft aufzugehen – jenen Kamnick kennen. Er ahnt nicht, wen er da vor sich hat. Und auch nicht, wie eng ihre beiden Schicksale miteinander verbunden sind.
Felix Kucher verknüpft in »Kamnick« die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts mit den alltäglichen Sorgen der Menschen auf zwei Kontinenten. Das Besondere und Faszinierende an diesem ist Buch ist die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, hier die Geschichte eines Migranten und dessen ganz langsamer Aufstieg in ein menschenwürdiges Leben; dort die Daheimgebliebenen und der Weg in die Finsternis. Dazu kommt der kunstvolle Umgang mit zeitlichen Rückblenden und die in der Rückschau unaufhaltsam wirkende Verflechtung beider Erzählstränge – Literatur, die im Gedächtnis bleibt.
Und dazu gibt eine Stelle in dem Roman, über die ich regelrecht gestolpert bin und nach deren Lektüre ich direkt den Karton mit meinen Familienandenken durchsuchen musste:
»War Anton daheim noch der Exot gewesen, war er hier einer von vielen, ein Routinefall. Vermutlich schreiben alle Auswanderer in den ersten Tagen dieselben Ansichtskarten, vermutlich wählten viele die Karte mit dem Schiff auf dem sie alle ihrem Elend entflohen. Überall trafen dann fast zeitgleich dieselben Karten auf die Zurückgebliebenen mit derselben Botschaft: Sehr her, ich bin unterwegs, ich habe es geschafft. Und überall dachten die Empfänger mit Neid, Wehmut oder Verachtung an die Auswanderer.«
Genau solch eine Karte hat mein Großvater geschickt, als er sich 1931 auf den Weg nach Kanada gemacht hat, abgebildet ist das Schiff, auf dem er unterwegs war, gestempelt ist sie mit »posted at sea«. Die Empfängerin war seine Verlobte, meine Großmutter, die damals – wie ich dadurch weiß – in der Bismarckallee 19 in Berlin-Grunewald lebte, wo sie als Köchin arbeitete. Mein Großvater suchte seine Zukunft vergeblich auf dem amerikanischen Kontinent; er kam wieder zurück – an einer anderen Stelle hatte ich schon darüber berichtet. Und ich habe schon oft überlegt, was für ein Mensch ich jetzt wohl wäre, wenn er sich anders entschieden hätte. Wahrscheinlich Kanadier – und das wäre ja nicht das Schlechteste.
Buchinformationen
Ulla Lenze, Der Empfänger
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-96463-9
Felix Kucher, Kamnick
Picus Verlag
ISBN 978-3-7117-2058-0
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