Ich liebe überquellende Bücherregale und die Stapel davor. Sehr sogar. Trotzdem ist irgendwann eine Kapazitätsgrenze erreicht. Daher habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ein gelesenes Buch nur dann zu behalten, wenn ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen. Irgendwann. Ansonsten verschenke ich es oder stelle es in einen öffentlichen Bücherschrank. Daher war ich etwas überrascht, als ich kürzlich ganz unten in einem Stapel den Thriller »Das Washington Dekret« von Jussi Adler-Olsen entdeckt habe. Es ist ein Buch, das ich vor etwa zehn Jahren gelesen habe, als mir wieder einmal der Sinn nach Spannungsliteratur stand. Sprachlich ohne jegliche Finesse mit ein paar überraschenden Wendungen, aber nicht wenigen Logiklücken hätte es nach meiner Aussortier-Gewohnheit gar nicht mehr da sein sollen. Eigentlich.
Ich weiß noch, dass mich die Grundidee des Romans damals fasziniert hat. Ein neuer US-Präsident, Bruce Jansen, übernimmt nach einem überragenden Gewinn der Wahl die Regierung der Vereinigten Staaten. Durch Gewalterfahrungen und Schicksalsschläge hoch traumatisiert möchte er das Land sicherer machen. Und beginnt einen Law-and-Order-Feldzug, der die USA in einen autoritären Unrechtsstaat verwandeln und sie an den Rand eines Bürgerkriegs bringen wird. Seine Ziele klingen dabei auf den ersten Blick nachvollziehbar: Abschaffung der Arbeitslosigkeit, rücksichtslose Bekämpfung der Drogenkriminalität, entschlossenes Vorgehen gegen Korruption und Schwarzarbeit, hundertprozentige Kontrolle der Einwanderung, Entwaffnung der Zivilbevölkerung.
Um all dies umzusetzen, soll hart durchgegriffen werden. Nach mehreren Anschlägen auf seine Kabinettsmitglieder ruft Präsident Jansen den Ausnahmezustand aus und beginnt, mit präsidialen Sondererlassen zu regieren – ohne parlamentarische Kontrolle. Grundrechte werden außer Kraft gesetzt und dann geht alles sehr schnell: in Windeseile entsteht eine Totalüberwachung der Bevölkerung, freie Meinungsäußerung kann gefährlich werden, die Medien werden zensiert, die Armee startet Einsätze im Inland, es gibt standrechtliche Erschießungen, Massenverhaftungen, Prozesse ohne rechtsstaatliche Grundlage, Zwangsarbeit für Arbeitslose, Lager werden eingerichtet, oppositionelle Staatsbedienstete werden entlassen oder verschwinden spurlos. Die Grenzen sind geschlossen, missliebige Journalisten und Kritiker der Entwicklungen werden verfolgt und müssen untertauchen. Die Armee kämpft gegen aufständische Milizen, Gefangene machen beide Seiten nicht. Eine Demokratie verwandelt sich in wenigen Wochen und Monaten in einen Polizeistaat, eine Diktatur. Die weltpolitischen Auswirkungen werden nur am Rande angedeutet, aber sie sind gravierend.
Vor diesem düsteren Hintergrund lässt der Autor seine Protagonisten agieren, die nach und nach aufdecken, was hinter all dem steht – denn natürlich ist da noch ein Strippenzieher im Hintergrund. So weit, so vorhersehbar. Jussi Adler-Olsen entwickelt routiniert einen Thriller, der sich an manchen Stellen liest wie das Drehbuch zu einem Roland-Emmerich-Film – genauso unglaubwürdig und genauso übertrieben. Aber trotzdem spannend.
Und er ist mir in Erinnerung geblieben. Dafür sorgte nicht zuletzt eine Nachbemerkung des Autors: »Die im ›Washington-Dekret‹ erwähnten präsidialen Erlasse, auf deren Grundlade im Ausnahmezustand regiert wird, entstanden in der Form tatsächlich nach dem 11. September, ebenso wie die im Text genannten staatlichen Institutionen, die die Umsetzung dieser Erlasse in den dafür vorgesehenen Situationen gewährleisten sollen.« Dieser Hinweis löste im Nachhinein ein leichtes Gruseln aus, gleichzeitig aber wirkte der Roman weit entfernt von jeglicher Realität. Er erschien auf Deutsch im Jahr 2013, nicht lange nach der Wiederwahl von Barack Obama.
Nun, mehr als ein Jahrzehnt später, hat sich die Situation vollkommen verändert. Als mir das Buch jetzt wieder in die Hände fiel, habe ich es noch einmal gelesen. Und dieses Mal, unmittelbar vor Donald Trumps zweiter Präsidentschaft, nimmt man diesen Roman – allen erzählerischen Schwächen zum Trotz – ganz anders war. Bedrohlicher. Näher. Aus einem leichten Gruseln wurde eine große Sorge. Die USA stehen vor einem Wendepunkt und befinden sich auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Und dass sich das Land in eine technokratische Oligarchie verwandelt, in der Grundrechte ausgehebelt werden, ist nicht unwahrscheinlich. Mit Folgen für die ganze Welt.
In einem Artikel des SPIEGEL wird von einem Memorandum aus der deutschen Botschaft in Washington berichtet, unterzeichnet von Botschafter Andreas Michaelis. Es stammt vom 14. Januar 2025 und laut SPIEGEL ist darin zu lesen: »Trump verfolge eine Agenda ›der maximalen Disruption‹. Demokratische Grundprinzipien und das US-System der Gewaltenteilung (Checks and Balances) würden weitestgehend ausgehebelt. Legislative, Gesetzesvollzug und Medien würden ihrer Unabhängigkeit beraubt und politisch missbraucht. Große Technologieunternehmen (Big Tech) erhielten ›Mitregierungsgewalt‹. Bereits jetzt gingen Trump und sein Berater Elon Musk, der milliardenschwere Eigentümer der Kurznachrichtenplattform X, gegen Kritiker und unliebsame Medienunternehmen vor. … Strafverfolgung werde zum Instrument der Politik, heißt es in dem Papier weiter. Zentral für die Umsetzung von Trumps Zielen wie Massenabschiebungen, Vergeltungsmaßnahmen sowie die Sicherung seiner rechtlichen Unantastbarkeit seien die Kontrolle über das Justizministerium und das FBI. In Konflikten mit Bundesstaaten, die in den USA traditionell weitreichende Machtbefugnisse besitzen, habe Trump erhebliche Möglichkeiten, etwa durch Notstandsregelungen. Auch ein Militäreinsatz im Inland für Polizeiaufgaben sei möglich.«
Was kommt in den nächsten Jahren auf uns zu? Ich hoffe, dass ich »Das Washington Dekret« irgendwann ein drittes Mal lesen werde und mir der Inhalt dann wieder weit entfernt von jeglicher Realität vorkommen wird.
God Bless America.
Und uns auch.
Buchinformation
Jussi Adler-Olsen, Das Washington-Dekret
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess und Marieke Heimburger
dtv
ISBN 978-3-423-21935-8
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Genau so kommt es mir auch vor.
habe mir das Buch gleich bestellt
Ja, ich muss gestehen, dass ich Jussi Adler-Olsen gerne lese, aber auch dass mir die Situation in den USA auch große Sorgen bereitet. Und so manche hanebüchene Fiktion könnte Realität werden.
Ich habe kürzlich die ganze Gereon Rath Serie in einem Rutsch durchgelesen, da kann einem Angst und Bange werden., wenn man die Parallelen zieht.
In der New York Times hat während der ersten Trump-Präsidentschaft ein Meinungsartikel darüber spekuliert, dass die USA Glück haben, dass so ein politisch und intellektuell schlecht bestückter Präsident die Grenzen der amerikanischen Demokratie auslotet. Nicht auszudenken, wenn es ein hochintelligenter, machtgeiler Mensch wäre.
Ja, und da sind wir heute. Die machtgeilen, hoch intellektuellen ziehen die Strippen, damit ein Trump sich vorne als Machtmensch darstellen kann.
Auch ein Putin wurde wenigstens einmal demokratisch gewählt.