Lange Zeit stand der Roman »Die Unschärfe der Welt« von Iris Wolff in meinem Bücherregal und wartete darauf, gelesen zu werden. Und ich war mir sicher, dass er mir gefallen würde. Die ersten paar Seiten kannte ich bereits und deren poetische Sprache hatte für eine jahrelange Vorfreude gesorgt – allein der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch zu lesen, wollte sich nie einstellen. Doch als er kürzlich gekommen schien, war alles ganz anders als gedacht: Das Buch liegt nun gelesen neben mir und die Erinnerung an die Handlung beginnt bereits zu verblassen. Ich merke, dass es keinen bleibenden Eindruck hinterlassen wird, ja, dass ich ein wenig enttäuscht bin – und warum das so ist, versuche ich nun herauszufinden.
Denn eigentlich hat »Die Unschärfe der Welt« alles, was ich an einem Roman mag: Eine Erzählung über mehrere Generationen hinweg, verschiedene Zeitebenen, wechselnde Perspektiven, einen zeitgeschichtlichen Hintergrund, der einem das Leben im rumänischen Banat zur Zeit der kommunistischen Diktatur nahebringt; dazu Geschichten über das Zusammenleben zwischen der deutschsprachigen Minderheit und der rumänischen Mehrheit, über Bespitzelung und Familiengeheimnisse, über das Aufwachsen in einer uns fremden und geographisch doch so nahen Welt, über Liebe und Verzweiflung, über Freundschaft und Erinnerungen, über die Suche nach einem Platz auf dieser Welt, über Zugehörigkeit und Fremdheit, über Flucht und Bleiben, über den Zusammenbruch eines Unrechtsstaats und den Aufbruch in ein neues Leben.
Das alles in einer Sprache, die immer wieder Bilder schafft, die mich kurz innehalten ließen. Auch wenn sie an der ein oder anderen Stelle nur knapp am Kitsch oder an Gemeinplätzen vorbeischrammen mag, sind die Landschafts- und Stimmungsbeschreibungen äußerst gelungen, voller Schönheit und unbestimmter Sehnsucht. Etwa wenn es heißt: »Heute war zum ersten Mal eine klamme Feuchtigkeit auf den Treppen, ein dunkles Lila zwischen das Laub gestreut. Der Herbst setzte eine Weite zwischen die Häuser, rückte sie voneinander ab. Etwas nahm den Raum dazwischen ein.«
Es gibt einige solch wunderbarer Momentaufnahmen, die etwas in mir anklingen lassen, die mich vielleicht an den weiten Blick über Wiesen, Wald und Felder erinnern, den ich aus meinem Elternhaus hatte – und der heute schon längst verschwunden ist.
Und trotzdem spricht das Buch nicht zu mir. Es liegt hier auf dem Schreibtisch, ich schaue es an und versuche herauszufinden, woran es liegt. Vermutlich sind es die Personen der Geschichte – sie blieben mir fremd, schon fast gleichgültig. Durch die zahlreichen Perspektivwechsel in dem kurzen Roman – er umfasst nur etwas mehr als zweihundert Seiten – wirkt die Handlung anekdotenhaft. Das macht es nicht leicht, zu den Menschen dort Beziehungen aufzubauen oder einem Spannungsbogen zu folgen. Und ja, natürlich schieben sich die einzelnen Puzzlestücke nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen – aber die Protagonisten wirkten dabei wie schemenhafte, unnahbare Gestalten vor einem fein, nahezu perfekt arrangierten Hintergrund. So, wie auf einer alten Photographie, bei der aufgrund der langen Belichtungszeit Bewegungen nur schattenhaft zu erkennen sind. Schade, aber manchmal passen Buch und Leser doch nicht zusammen, auch wenn man es vorher fest geglaubt hat.
Ein Textfundstück
Auf eine Texstelle bin ich gestoßen, die ich hier zum Abschluss vorstellen möchte. Sie befindet sich im letzten Drittel des Romans und es geht dabei um das Lesen ausgeliehener Bücher. Da ich das nie mache, genau so wenig, wie ich Bücher verleihe, spricht mir diese Passage so aus dem Herzen, das sie in meiner Erinnerung bleiben und sicherlich nicht verblassen wird. Hier ist sie.
»Bücher leihen war ihm ein Gräuel. Bücher musste man besitzen. Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten. Es ging ohne Zweifel, brachte auch zuweilen Spaß, aber es war kein Vergleich zur Möglichkeit, jede noch so entlegene Stelle der Haut küssen und berühren zu dürfen. Nur in eigenen Büchern konnte man anstreichen, Seiten mit Eselsohren markieren, Gedanken am Rand notieren, Zettel einlegen, Kaffeetassen- oder Weinglasränder hinterlassen. Bücher hatten schließlich nicht umsonst einen Körper. (…) Ein Buch war nicht mehr dasselbe, wenn man es gelesen hatte. Verlor er ein Buch oder lieh es jemandem, stand fest, dass er es nochmals kaufen und lesen musste, damit es wieder sein Buch wurde. Gott bewahre ihn vor einem Wohnungsbrand und der damit verbundenen Notwendigkeit, alle Bücher nochmals lesen zu müssen. Schon einmal hatte er seine Bibliothek zurückgelassen. Er fand, einmal reichte.«
Buchinformation
Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98326-5
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Dieses Buch wird bald auf Englisch ubersetzt und ich bin gespannt, wie es hierzulande empfangen wird. Wahrscheinlich viele Vergleiche mit Herta Muller?
Das kann ich mir nicht vorstellen, aber wer weiß? Bin gespannt, was Du erzählst.
Lieber Kaffehaussitzer,
Vielen Dank für diesen Kommentar zu dem Roman. Ich musste ihn für einen Literaturkreis lesen und hatte andauerndes Missvergnügen daran. Aber, anders
als Ihnen, ist es mir bisher nie gelungen, meinen Frust über den Roman so klar und deutlich zu äußern. Vor allem fühle ich mich jetzt nicht mehr so allein, da Sie derselben Meinung sind.
Viele Grüße
Ich dachte schon, ich sei der einzige Mensch, der keine Bücher ausleihen mag, und für die Einstellung zu den eigenen Büchern im besten Fall nur belächelt wird. Die Begründung spricht mir aus dem Herzen! Wenn es um die Anschaffung eines neuen Bücherregals für meine Arbeitsbibliothek als Historikerin geht, ernte ich Ratschläge wie „Du musst dich einfach mal von Büchern trennen!“. Danke für die Beschreibung Ihrer eigenen Einstellung. Jetzt fühle ich mich weniger allein!