Nebel, Ruß und Druckmaschinen

Die Buecher, der Junge und die Nacht

Das Schreiben jedes Blogbeitrags beginnt mit einem kleinen Ritual: Das Buch, um das es gehen soll, liegt auf dem Tisch vor mir und ich denke darüber nach, was genau mich daran beeindruckt, begeistert, was Spuren im Gedächtnis hinterlassen, was dieses eine Buch für mich besonders gemacht hat. Wie ich das in Worte fassen kann. Und vor allem, wie ich damit beginne. Beim Roman »Die Bücher, der Junge und die Nacht« von Kai Meyer starte ich mit einem Exkurs, mit einem Abstecher in das alte Leipzig, genauer gesagt, in das Graphische Viertel, denn dort spielt sein Roman zu großen Teilen. Und am Ende des Beitrags gibt es ein Interview mit dem Autor zur Wahl seines Schauplatzes. Die Bilder in diesem Beitrag stammen von meinen Leipziger Streifzügen, auf Spurensuche in einem verschwundenen Stadtbezirk.

Graphisches Viertel: Die Reste des ehemaligen Buchhändlerhauses

Das Graphische Viertel in Leipzig

Jenes legendenumwobene Viertel war die Gegend östlich der Leipziger Innenstadt. Hier schlug das Herz der Medienbranche ganz Deutschlands; auf engem Raum existierten etwa 2.200 Betriebe, die mit der Herstellung und dem Verkauf von Büchern, Zeitschriften, Noten und anderen Druckerzeugnissen zu tun hatten – Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Buchbindereien, Satzbetriebe, Schriftgießereien, Lithographische Anstalten, Antiquariate, Papierfabriken, Gravieranstalten, Hersteller von Druckmaschinen oder Logistikbetriebe. Habe ich etwas vergessen? Wahrscheinlich, aber einen eindrucksvollen Überblick gibt eine interaktive Karte, in der all diese Betriebe markiert sind; manche Straßen beherbergten fast in jedem Haus eine Firma der Medienindustrie, ungefähr zehn Prozent der Leipziger Bevölkerung arbeitete in diesem Stadtteil. Nie zuvor und niemals wieder danach hat es solch ein Ballungszentrum des graphischen Gewerbes gegeben.

Graphisches Viertel: Toreingang

In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde Leipzig von der Royal Air Force bombardiert – und das Graphische Viertel verschwand in Explosionen, in Feuer und zusammenstürzenden Gebäuden. Es war ein Inferno, die großen Bücherlager verbrannten, verkohlte Papierfetzen wurden bis nach Halle geweht, in Druckereien schmolzen durch die Hitze die Drucktypen aus Blei. Schätzungsweise 50 Millionen Bücher wurden ein Raub der Flammen. Als 1945 Leipzig der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde, verließen zahlreiche der übriggebliebenen Betriebe die Stadt und siedelten nach Westdeutschland über – nach diesem Exodus versank das Graphische Viertel endgültig in der Vergessenheit.

Graphisches Viertel: Reste einer Fassadenverzierung

Heute wirkt die die Gegend verlassen. Ein paar der Industriepaläste, die den Krieg und die DDR überlebt haben, wurden zu Loftwohnungen oder Bürogebäuden umgebaut. Es gibt nach wie vor einen hohen Altbaubestand, inzwischen zu großen Teilen saniert. Aber dazwischen sind die Narben des Krieges immer noch zu sehen. Brachflächen, leere Grundstücke, Ruinen. Und kaum Menschen auf den Straßen, dort wo einst das Leben pulsierte. Von 1997 bis 2001 lebte ich in Leipzig und seit dieser Zeit fasziniert mich die Geschichte des Graphischen Viertels, sammle ich Informationen und möchte mehr darüber wissen. Man kann sich vorstellen, wie begeistert ich war, als ich erfuhr, dass Kai Meyer es in »Die Bücher, der Junge und die Nacht« wiederauferstehen lässt. 

Mit dem Untergang beginnt das Buch

»Bomben fielen vom Nachthimmel, als der Junge sein Gefängnis verließ, den Raum ohne Fenster, den Raum voller Bücher. Er war zehn Jahre alt und ebenso lange eingesperrt gewesen. An den Wänden seines Zimmers reichten die Regale bis zur Decke, die Bücher standen Rücken an Rücken, viele in dichten Doppelreihen. Mit fünf hatte man ihm das Lesen beigebracht, seitdem war seine Welt aus Papier.«

Was für ein Start. In diesen ersten Sätzen ist bereits die ganze Geschichte angelegt, in die der Autor uns Leser hineinschicken wird. Eine Geschichte voller dramatischer Wucht, wunderbar verschachtelt und über drei Zeitebenen hinweg erzählt. Robert, so der Name des Jungen, wird von einem dunkel gekleideten Fremden gerettet und aus dem brennenden Haus und der untergehenden Stadt gebracht. Zuvor musste er ihm helfen, ein ganz bestimmtes Buch an sich zu bringen, kurz bevor die Villa in Flammen aufging. Und in den kommenden Monaten wird es nicht die letzte Stadt sein, die er brennen sieht – der Krieg ist ins Deutsche Reich zurückgekehrt und die beiden irren durch ein Land in Auflösung. Der geheimnisvolle, manchmal bedrohlich wirkende Fremde ist auf einer Suche; einer mysteriösen Suche, die noch eine große Rolle spielen wird.   

Graphisches Viertel: Gutenberg-Relief

Wir treffen Robert Steinfeld, so sein vollständiger Name, den er von dem Fremden erfahren hat, im Jahr 1971 wieder. Er verdient sein Geld damit, aufzulösende Privatbibliotheken zu sichten, die wertvollen Stücke zu katalogisieren und an die meistbietenden Sammler zu verkaufen. Gleichzeitig ist er besessen davon, jene Bücher zu finden, die der Mann gebunden hat, den er für seinen Vater hält, den er aber nie zu Gesicht bekommen hat: Jakob Steinfeld war ein Meister seines Faches und die Werke aus seiner Werkstatt – die in jener Bombennacht mitsamt dem Eigentümer von der Erde gefegt wurde – sind inzwischen begehrte Sammlerstücke. Was war geschehen, damals, in den ersten zehn Jahren seines Lebens? Wo war sein Vater gewesen? Wieso wuchs er in diesem Zimmer auf? Wer war seine Mutter? Was ist aus ihr geworden? Und wer war dieser Fremde, der ihn gerettet hat und dessen Geheimnis er auch in den Monaten danach nie ergründen konnte? Rastlos sucht er nach Informationsfetzen, nach Spuren. Bei einer Nachlassbesichtigung stößt er auf eine umfangreiche Sammlung der Werke aus der Buchbinderwerkstatt seines Vaters. Und damit auf neue Hinweise, die ihn und Marie – seine Kollegin, Konkurrentin und Freundin – erst in die DDR nach Leipzig und in den Harz, und dann nach Wien führen werden. Und tief hinein in die Vergangenheit. In eine ziemlich düstere Vergangenheit. 

Graphisches Viertel: Ruine eines Verlagshauses

Die dritte Handlungsebene führt ins Jahr 1933, kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Wir lernen Jakob Steinfeld kennen, bibliophiler Ästhet und begnadeter Buchbinder. Die Werkstatt mit angeschlossenem Antiquariat ist in einer ehemaligen Kapelle untergebracht, über die der Schriftzug »Montecristo« prangt, der Name seines Geschäfts – und eine charmante Reminiszenz des Autors an die Buchhandlung Sempere & Söhne. Es liegt mitten in Leipzigs Graphischem Viertel und grenzt direkt an das riesige Anwesen der Verlegerfamilie Pallandt. Bereits der Gegensatz dieser Orte erzeugt einen Spannungsbogen: Hier die kleine, aber feine Buchbinderei und Buchhandlung, deren beleuchtetes Schaufenster wie eine Oase inmitten dämmeriger Straßen wirkt – und inmitten der heraufziehenden Dunkelheit des nationalsozialistischen Terrorstaats. Und dort das Pallandt’sche Betriebsgelände mit seinen Verlagsgebäuden, seinen verschachtelten Höfen, seiner Druckerei, seinen Schornsteinen, seinen Lagerhallen und der Familienvilla nebst eigenem Park mit Gartenhaus. Alles mauerumschlossen, Wand an Wand mit dem »Montecristo«.

Wir erhaschen einen ersten Blick auf die Gegend: »Der Nebel schien dichter zu werden, je tiefer Jakob ins Graphische Viertel vordrang. Die Straßenlaternen brannten, obwohl es nicht einmal Mittag war. Um alle lagen hellgraue Kugeln aus Licht, wabernd wie Luftblasen. Es war, als sei die Sonne heute gar nicht erst aufgegangen, und wenn doch, so beschien sie vielleicht die Villen der Verleger und reichen Buchhändler im Musikviertel, aber nicht die düsteren Ziegelblocks und Innenhöfe der Buchfabriken, denen sie ihren Wohlstand verdankten.«

Graphisches Viertel: Im ehemaligen Verlag Hermann J. Meyers

Hier also, in den Straßen und Höfen, im »Montecristo« und dem Pallandt’schen Anwesen werden die Menschen aufeinandertreffen, die alle mit dem Geheimnis zu tun haben, das Robert Steinfeld so gerne lüften möchte; dem Geheimnis seiner Herkunft. Neben Jakob Steinfeld lernen wir seinen Gehilfen kennen, den russischen Exilanten Grigori mit ungeahnten Talenten. Dem Verleger Konrad Pallandt werden wir begegnen, Patriarch des Familienunternehmens, ein Machtmensch, reich und skrupellos. Seiner Tochter, Juli Pallandt, gefangen in den starren Konventionen eines lieblosen Familienlebens, denen sie zu entkommen sucht. Ihrem Bruder, Max Pallandt, der sich den neuen Machthabern andient. Und wir treffen Johann Flügelschlag, Privat-Bibliothekar der Pallandts, eine Art graue Eminenz des Unternehmens – und eine Schlüsselfigur der Geschichte. Nicht zu vergessen Aurelia Pallandt, Mutter von Juli und Maximilian, Esoterikerin und Himmler-Freundin, die einen eigenen Kleinverlag für Okkultes führt und die unselige Verbindung zwischen Esoterik und völkischem Denken verkörpert. Nicht fehlen in der Vorstellungsrunde darf Albert Hartung, ein SA-Schläger, der es mit seinen braunen Spießgesellen auf Jakob Steinfeld abgesehen hat. Das klingt nach Dramatik? Ganz genau. Und nicht alle der Genannten werden das Jahr 1933 überleben, bevor zehn Jahre später alles hinweggefegt wird, untergeht, verschwindet.

Dann, irgendwann sickert der Titel eines Buches in die Handlung ein, die sich ohnehin um das gedruckte Wort dreht. Doch dieser Titel klingt seltsam: »König im Exil oder die Verfemung des Junkers Volland«. Es ist ein Werk, hunderte von Jahren alt, das mehr als ein Gerücht existiert als in der Realität und von dem es nur ein einziges Exemplar geben soll. Dieses Buch ist der Schlüssel zu allem, hier laufen die Handlungsstränge und die Zeitebenen zusammen. Aber das wissen die Beteiligten noch nicht. Und mehr werde ich auf keinen Fall verraten. 

Graphisches Viertel: Hausfassaden an der Dresdner Straße

Kai Meyers Graphische Viertel

Entwickelt schon die erzählte Geschichte einen regelrechten Sog, so macht die grandiose Kulisse des Graphischen Viertels dieses Buch zu einem außergewöhnlichen Werk. Kai Meyer lässt diesen Stadtteil als einen mystischen Ort wiederauferstehen, als einen schaurig-schönen Industriebezirk mit seinen Gründerzeit-Türmchen und -Zinnen, in dem es nie ganz hell zu werden scheint – stoßen doch die Schornsteine der unzähligen Betriebe ununterbrochen Qualm aus, eine »ewige Rauchglocke über den Bücherfabriken«, Nebel hängt zwischen den Häusern. Den ein oder anderen geographischen Fixpunkt erkennt man wieder – etwa den Täubchenweg, die Dresdner Straße oder den Johannisfriedhof – und dazwischen lässt der Autor ein Gewirr von Fabriken, Häuszerzeilen, Mauern, Hinterhöfen, Straßen und schmalen Gassen entstehen. Ständig liegt das dumpfe Gewummer der vielen Druckmaschinen über der Szenerie, oder wie es im Buch heißt: »Irgendwo stampfte eine Druckmaschine wie ein mächtiges Herz im Aderwerk der Gassen und Durchgänge.« Entstanden ist dabei eine einzigartige Atmosphäre; ein Hauch Phantastik schwebt über der Handlung wie ein feiner Schleier – nicht zuletzt lässt dies den Roman zu besonderer Literatur werden. Es ist auch kein Zufall, dass dieser Blogbeitrag direkt nach dem Text über Zafóns Barcelona-Romane erscheint. 

Graphisches Viertel: Der ehemalige Johannisfriedhof

Und bevor der Autor selbst in einem kurzen Interview von seiner Recherche über das Graphische Viertel erzählt, schließe ich die Buchvorstellung mit einem letzten Zitat aus seinem Buch.

»Der Nebel legte eine trübselige Stimmung über das Graphische Viertel. In der dunstgeschwängerten Dunkelheit konnte Jakob selten weiter als bis zur nächsten Kreuzung sehen. Hin und wieder tauchten die Masten von Straßenlaternen wie dürre Bäume aus den Schwaden auf, gekrönt von grauen Lichterkronen, in denen es leise knisterte. Vereinzelt hastete ein Mensch durch die Felder fahler Helligkeit und verschwand wieder in den Schatten.«

Interview mit Kai Meyer

»Die Bücher, der Junge und die Nacht« ist ein Roman, der mich fasziniert und begeistert hat, dessen Handlung und vor allem dessen Atmosphäre mir noch lange im Kopf bleiben wird. Daher habe ich mich sehr gefreut, dem Autor Kai Meyer einige Fragen zur Entstehungsgeschichte seines Buches stellen zu können. Hier sind seine Antworten.

Das Graphische Viertel in Leipzig ist ein verschwundener Ort, der heute nur noch als eine verblasste Erinnerung existiert. Wie kamen Sie auf die Idee, eine Romanhandlung dort anzusiedeln?

KM: Ich wusste, dass ich einen Roman über Bücher und Bibliophile schreiben wollte, der mit visuellen und atmosphärischen Elementen der Gothic Novel spielen würde. Ähnliches hatte ich zuvor schon im Young-Adult-Bereich mit DIE SEITEN DER WELT und den Fortsetzungen ausprobiert, und da war es die einfachste Lösung, die Bücher in London und allerlei englischen Herrenhäusern anzusiedeln. Aber in meinen früheren historischen Romanen für Erwachsene – die meisten aus den 1990er und frühen 2000er Jahren – war es immer mein Bestreben, deutsche Schauplätze zu bespielen, weil das, zumindest damals, innerhalb der unheimlichen oder phantastischen Genres kaum gemacht wurde. Also habe ich mir vorgenommen, dies bei meiner – sagen wir mal – Rückkehr zum Erwachsenenroman erneut zu versuchen.

Das Graphische Viertel war mir schon bei meiner Recherche zu anderen Büchern untergekommen, ich wusste aber nicht viel darüber. Ich habe mich dann erst einmal ein, zwei Wochen damit beschäftigt, und dann war klar, dass ich meinen Schauplatz gefunden hatte. Zum einen wegen der offensichtlichen Bedeutung für die Buchbranche, aber auch aufgrund der neogotischen Bausubstanz, des Fassadenschmucks, der mythologischen Anklänge durch die Figur des Merkur bzw. Hermes und des ewigen Nebels durch die Dampfmaschinen.

Informationen über das Graphische Viertel sind etwas rar; so gibt es zum Beispiel so gut wie keine Photographien von alltäglichen Straßenszenen. Wie haben Sie für Ihren Roman recherchiert?

KM: Fast ausschließlich mithilfe von Büchern. Es gibt eine Handvoll sehr guter Abhandlungen über das Graphische Viertel von Sabine Knopf, Volker Titel und Thomas Keiderling, dazu kamen allerlei Bildbände mit historischen Aufnahmen aus Leipzig. Die Texte, die man online findet, sind in der Regel zu kurz und oberflächlich.

Das riesige Druckereianwesen der Verlegerfamilie Pallandt mitsamt Villa und Park liegt in Ihrem Roman mitten im Graphischen Viertel. Es ist ein fiktives Anwesen – gab es dafür ein Vorbild?

KM: Die Architektur ist angelehnt an das riesige Brockhaus-Gelände, das heute nicht mehr existiert. Ich habe Teile davon übernommen, alles noch etwas größer gemacht, manches auch ignoriert oder abgewandelt und das Ganze an eine andere Adresse verlegt. Die Villa der Pallandts und die Orangerie sind fiktiv, ich habe mir aber eine Menge Material über herrschaftliche Häuser in Leipzig dafür angesehen. Und ein wenig spielt da auch immer meine Kindheit mit hinein, in der ich viel Zeit im Haus meiner Großeltern verbracht habe – das war eine Villa am Rhein aus dem 19. Jahrhundert mit Bibliothek, Dienstbotenanbau und allem Drum und Dran. Viele Eindrücke dieses Hauses sind immer noch in mir – der Geruch des Bohnerwachses, das Knarren der großen Treppe, die Oberflächen der Holztäfelungen, die Behaglichkeit der Bücherregale, die gesamte Stimmung –, und ich rufe diese Gefühle ziemlich oft für die Schauplätze meiner Romane ab. In gewisser Weise ziehen sich Impressionen dieses Hauses durch sehr viele meiner Bücher, angefangen von DIE ALCHIMISTIN von 1998 bis hin zu den neuesten.

In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde das Graphische Viertel bei der Bombardierung Leipzigs nahezu vollständig zerstört, um die 50 Millionen Bücher gingen in Flammen auf. Ihr Roman beginnt mit diesem Ereignis; die Flucht der Protagonisten durch die brennenden Straßen ist erschreckend authentisch geschildert. Wie haben Sie an diesen Szenen gearbeitet?

KM: Um ehrlich zu sein: Ich habe viel zu viel darüber gelesen. Wochenlang. Ich habe angefangen mit Augenzeugenberichten aus Leipzig – auch da gibt es ein, zwei hervorragende Bücher aus lokalen Verlagen – bis hin zu Texten aus anderen bombardierten Städten. Nach zwei, drei Wochen bin ich an den Punkt gekommen, an dem ich dachte, ich will nie wieder etwas über zerstörte Straßenzüge und brennende Menschen lesen. Ich habe das dann erst mal mit angenehmerer Recherche exorziert. Als ich zwei Monate später dann die beiden entsprechenden Kapitel im Roman geschrieben habe, hatte ich wieder die nötige Distanz, um die Handlung über all die Details und Sinneseindrücke zu inszenieren.

Waren Sie vor Ort in Leipzig, um die traurigen Reste dieses für die Buchwelt einst so wichtigen Stadtbezirks zu besichtigen?

KM: In Leipzig war ich viele, viele Male, zur Buchmesse sowieso, aber auch schon früher. Ich war ursprünglich mal Journalist und bin 1992 aus dem Rheinland in die neuen Bundesländer gegangen, um in Halle zu volontieren. Von dort aus bin ich in meiner Freizeit oft nach Leipzig gefahren, auch um in all den großartigen Antiquariaten zu stöbern. Damals habe ich mich ziemlich heftig in den maroden Charme der düsteren Straßenzüge, der leerstehenden Häuser und in den Kohlegeruch im Winter verliebt. Das ist heute alles wegrenoviert, aber so kurz nach der Wende fühlte sich vieles dort noch an wie 1930.

Das heutige Graphische Viertel bin ich aber bewusst erst abgelaufen, nachdem der Roman bereits beendet war. Man muss dafür ja ein paar Schritte aus der Innenstadt herausgehen, und ich habe dann auch festgestellt, dass ich Teile bereits kannte, ohne mir damals der Historie bewusst gewesen zu sein. In weiten Teilen ist das Graphische Viertel jetzt ein Niemandsland aus Büroarchitektur und Großbaustellen, aber es gibt noch einige sehr schöne Straßen, beeindruckende Fassaden und ein paar wirklich großartige Bauten. Wenn man weiß, wo man suchen muss, kann man – zumindest optisch – einen schwachen Abglanz des alten Graphischen Viertels noch immer finden.

Graphisches Viertel: Ehemaliges Papierlager in der Talstraße

Buchinformation
Kai Meyer, Die Bücher, der Junge und die Nacht

Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-22784-8

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13 Antworten auf „Nebel, Ruß und Druckmaschinen“

  1. Ich bin gerade auf Seite 460. Ein fantastisches Buch. Anfangs habe ich es gelesen, jetzt renne ich förmlich weiter. Es zieht mich an, lesen, lesen…, alles erfahren. Danke Kai Meyer und Dank meiner Tochter Isabel, die mit diesem Buch genau ins doppelsinnige Schwarze getroffen hat. Irgendwann habe ich Schriftsatz gelernt und ich liebe gute Bücher.
    Alles Liebe Elke

    1. Ging mir genau so. Zum Schluss musste ich mich fast zwingen, langsamer zu lesen, damit die Geschichte nicht so schnell zu Ende ist.
      Der neue Band »Die Bibliothek im Nebel« ist lose mit »Die Bücher, der Junge und die Nacht« verknüpft und es wird auch einen dritten Band geben, an dem der Autor gerade schreibt.
      Liebe Grüße
      Uwe

  2. Lieber Uwe, immer zwischen den Jahren räume ich meine Bibliothek auf und sortiere alle Bücher ein, die im. Jahresverlauf eingezogen sind. Dabei wird natürlich auch aussortiert und vor allem gestöbert. Eben hielt ich eine Ausgabe von Dantes Göttlicher Komödie in den Händen. Sie ist schon älter. Und so begann ich zu recherchieren, wann sie gedruckt wurde. Und siehe da: sie wurde vor der Zerstörung des Graphischen Viertels in Leipzig gedruckt. Ich bin grad ganz selig und musste das unbedingt mit jemandem teilen.
    Herzlichst, Barbara

  3. Was für ein tolles Buch, was für ein interessanter Einstieg und was für ein faszinierendes Interview! Habe mir das Buch bestellt und bin supergespannt! Danke für den Hinweis!

  4. Erstaunlich! Es hört sich so an, als käme ein Aficionado des Friedhofs der vergessenen Bücher keinesfalls umhin, sich die Bücher, den Jungen und die Nacht reinzuziehen. Täusche ich mich, oder sehe ich schon auf dem Cover Parallelen zur zafónschen Aufmachung?

    Wenn da nur nicht schon so viele ungelesene Bücher in meinen Regalen warten würden …

  5. Ich freu mich immer sehr, wenn du über Leipzig schreibst. Hab mir das Buch notiert. Hattest du es schon mal an andere Stelle vorgestellt? Ich kann es ja nur bei dir entdeckt haben.
    Wir sehen uns in Leipzig auf jeden Fall.
    liebe Grüße

  6. Danke für diese schöne Rezension. Sie schaffen es, die Eindrücke, die ich hatte, in passende Worte zu fassen. Und die Vorfreude auf die Leipziger Buchmesse ist wieder um ein gutes Stück gewachsen.

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