Als ich mir Gedanken darüber gemacht habe, wie ich die Vorstellung des Romans »Die Schwarzgeherin« von Regina Denk beginnen könnte, ist mir aufgefallen, dass hier im Blog inzwischen etliche Romane zusammengekommen sind, die weit oben in den Bergen spielen. Und es geht darin meist um Menschen, die in einer Umgebung, einer Landschaft überleben müssen, die keinen Fehler verzeiht. Oft um Einzelgänger, die versuchen, aus gesellschaftlichen Strukturen auszubrechen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihnen vielleicht sogar Risse zuzufügen. Es sind festgefügte Regeln des Zusammenlebens, die sich über die Jahrhunderte geformt haben und die – bedingt durch die Einsamkeit und Lebensfeindlichkeit der Berge – noch undurchdringlicher sind als anderswo. Ein weiterer Gedanke: Vielleicht hat die Faszination für Bücher, deren Handlung im Gebirge angesiedelt ist, auch damit zu tun, dass ich in Sichtweite der Alpen aufgewachsen bin, wer weiß.
Menschen in Ausnahmesituationen, auf sich allein gestellt; Menschen die kämpfen müssen, um ihren eigenen Weg zu gehen – das ist eines der klassischen literarischen Themen, von denen ich nie genug bekomme. In den Bergen angesiedelt entsteht dabei eine Situation, in der es kein Ausweichen geben kann und in der alles auf ein Drama hinausläuft. Hinauslaufen muss. Und trotz der ähnlichen Rahmenbedingungen erzählt jeder dieser Romane seine Geschichte auf eine einzigartige Weise. So, dass man sie nicht wieder vergisst. »Die Schwarzgeherin« ist eines dieser Bücher.
Zu Beginn wird das titelgebende Wort »schwarzgehen« erklärt: Ursprünglich ein alter Ausdruck für die Wilderei ist daraus eine Bezeichnung für das Brechen von Gesetzen geworden – geschriebene und ungeschriebene – und für das Überschreiten von Grenzen.
Der Roman führt uns in ein Bergdorf in den österreichischen Alpen. Im Jahr 1883 taucht dort ein Fremder auf und verwickelt eine junge Frau in ein Gespräch. Sie ist schwanger, gerade dabei ein Huhn für das Abendessen zu schlachten und hat eigentlich keine Zeit. Doch als das Wort »Schwarzgeherin« fällt, beginnt sie doch zu erzählen. Und warnt den Fremden: »Schön ist sie nicht, die Geschichte von der Schwarzgeherin.« Dieses Gespräch ist die Rahmenhandlung des Buches und in diesem Rahmen entsteht die Geschichte eines selbstbestimmten Lebens. Eines Lebens, das einen hohen Einsatz für das schwarzgehen, für das Überschreiten der gesellschaftlichen Grenzen gefordert hat.
Theres Lachermeyer ist der Name der Schwarzgeherin. Das erste Mal begegnen wir ihr als Sechsjährige, es ist das Jahr 1850. Dann als Neunzehnjährige, 1863. Und mit Achtunddreißig, 1882. Das sind die Zeitsprünge in der Geschichte und in diesen Jahren entscheidet sich nicht nur Theres‘ Schicksal. Obwohl Leopold, Sohn des größten Hofes der Gegend, in sie verliebt ist und auch sie ihn gut leiden kann, wird ihr als junge Frau klar, dass sie nicht den Weg ihrer Mutter und aller anderen Frauen des Dorfes gehen will: heiraten, Kinder bekommen, hart arbeiten und so gut wie nie das enge Tal verlassen. In der begrenzten, entbehrungsreichen Welt der Berge, in der das archaische gesellschaftliche Gefüge seit unzähligen Jahren wie in Stein gemeißelt ist, macht sie diese Entscheidung zur Außenseiterin – und als ein durchreisender Fremder, ein Händler auf dem Weg nach Innsbruck, ihr von der weiten Welt vorschwärmt, hat dies dramatische Folgen. Theres verlässt das Dorf, doch sie kommt nur bis zu einer Jagdhütte, die so weit oben am Berg liegt, dass sie schwer zu erreichen ist. So weit oben, dass es gerade noch so geht mit dem Überleben. Dort bleibt sie. Und dort zieht sie ihre uneheliche Tochter Maria groß, wird von den Menschen unten im Dorf als Heilerin und Geburtshelferin geduldet, aber misstrauisch beäugt, klammheimlich als Hexe bezeichnet.
»Wie oft man sie schon vom Berg gerufen hatte, das konnte die Maria nicht mehr zählen. Tags wie nachts, sommers wie winters. Seit sie denken konnte, war sie mit der Mutter hinter einem verzweifelten Bauern, einem werdenden Vater oder einer weinenden Mutter hergelaufen, um zu helfen und das Schlimmste zu verhindern. Die Schwarzgeherin und ihre Tochter, meist waren sie die die letzte Hoffnung, und die einzige. Der Weg nach unten, in den nächsten größeren Ort im Tal, der war immer zu weit, ein richtiger Doktor meist viel zu teuer. Die Abgeschiedenheit hier oben in der Weite des Hochtals, die hatte ihren Preis, und oft war es das Leben selbst.«
Dies ist aus Marias Perspektive geschrieben, Theres‘ Tochter, die achtzehn Jahre alt ist und ihr ganzes Leben oben in der Jagdhütte verbracht hat. Von Kapitel zu Kapitel wechselt die Perspektive zwischen den beiden Frauen hin und her. Daraus entsteht eine brillant komponierte Dynamik und nach und nach schält sich ein einsames Leben aus den Wolken, die an den Bergflanken hängen. Bei Theres kommen die verschiedenen Zeitebenen dazu, Marias Sichtweise ist stets die der achtzehnjährigen des Jahres 1882 – dem Jahr, in dem sich alles ändern wird.
Ebenso wie ihre Mutter ist Maria eine Einzelgängerin, doch sie hat sich dieses Schicksal nicht ausgesucht – und sie leidet unter der Einsamkeit hoch oben über dem Leben der anderen. Theres‘, die Schwarzgeherin, hart gegenüber sich selbst, abweisend gegenüber allen Menschen, mit denen sie zu tun hat, wird ihre Tochter nicht halten können. Und nachdem Theres‘ Fortgang aus der Gemeinschaft der Auftakt eines Dramas gewesen ist, beginnt nun, achtzehn Jahre später, der zweite Akt. Und der wird – so viel sei verraten – nicht für alle Beteiligten gut enden, Blut wird fließen. Was uns Leser nicht verwundert, denn von Beginn an herrscht eine geradezu klaustrophobische, düstere Stimmung in diesem sprachmächtigen Buch, das vieles in sich vereint: Die Geschichte eines Ausbruchs und eines selbstgewählten Lebens, die Geschichte der gnadenlosen Strukturen eines Dorfes in lebensfeindlicher Umgebung, die Geschichte einer großen Liebe und eines tragischen Scheiterns und die Geschichte einer Rache. Denn einen dritten Akt wird es auch geben. Einer, der sich nach und nach andeutet. Und der einen dann doch überrascht mit seiner brutalen Konsequenz.
Dann, ganz am Ende, schließt sich auch die Rahmenhandlung. Und alles ergibt einen Sinn.
Mit einem kurzen Text hatte ich »Die Schwarzgeherin« schon beim Rückblick auf die Lese-Highlights des letzten Jahres vorgestellt. Er endete mit den Sätzen: Wer Romane wie »Das finstere Tal« von Thomas Willmann oder »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« von Gerhard Jäger mochte, sollte sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen. Wobei das nicht ganz stimmt: Eigentlich sollte sich niemand diesen grandiosen Roman entgehen lassen.
Und das schreibe ich einfach noch einmal: Lasst euch diesen grandiosen Roman nicht entgehen. Punkt.
Buchinformation
Regina Denk, Die Schwarzgeherin
Droemer Verlag
ISBN 978-3-426-44723-9
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