Im Gefängnis der Geschichte

Matteo Melchiorre: Der letzte Cimamonte

Es war ein Zufallsfund, wie so oft. Beim Besuch einer Buchhandlung stand der Roman frontal präsentiert im Regal – ich sah das Titelbild und musste ihn haben. Der Klappentext, den ich nur kurz überflog, bestärkte mich in dieser Entscheidung. Und jetzt liegt das Buch »Der letzte Cimamonte« von Matteo Melchiorre gelesen neben mir und ich weiß, dass ich die Geschichte, die Stimmung und die Sprache noch sehr lange im Kopf behalten werde; es war ein großartiges Leseerlebnis. 

Im Zentrum der Handlung steht das Dorf Vallorgàna, hoch oben in den Ausläufern der Alpen. Und noch etwas weiter steht die alte Villa, der Adelssitz der Familie Cimamonte, der jahrhundertelang das Dorf und alles darum herum gehörte, Wiesen, Wälder und Berge. Doch diese Zeiten sind vorbei, Vallorgàna ist ein sterbender Ort, die Jungen sind gegangen, nicht wenige Häuser stehen leer. Aber noch ist Leben in den Höfen, die das Dorf prägen. Es gibt Tiere auf den Weiden, die Wiesen werden im Rhythmus der Jahreszeiten gemäht, ein Pfarrer hält die Messen und die Bar in der Ortsmitte ist nach wie vor das abendliche Wohnzimmer der alten Bauern. Während der alles umgebende Wald aufgegebene Wiesen wieder in Besitz nimmt, die Wölfe näher kommen und die Krähen wie Unglücksvögel über Vallorgàna kreisen, den Luftraum im Tal beherrschend. 

»Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.« 

Seit einigen Jahren lebt in der Villa ein junger Mann, der letzte Nachkomme der Dynastie der Cimamontes und der Ich-Erzähler der Geschichte. Er hat das große Anwesen unten in der Stadt verkauft, lebt vom jahrhundertelalten Vermögen der Familie und möchte nichts weiter haben als seine Ruhe. Seine Ruhe vor der Stadt, vor der Welt, vor dem Leben. Die Tage sind ausgefüllt damit, die Villa und die ihm noch gehörenden Ländereien in Schuss zu halten, als Zaungast am Dorfleben teilzuhaben und sich abendelang mit alten Dokumenten und der Familienchronik zu beschäftigen.

Gerade fällt mir auf, dass ich gar nichts über diesen Ich-Erzähler weiß, der mich 488 Seiten lang begleitet hat. Im Klappentext wird er als »junger Mann« bezeichnet, doch wie jung ist damit gemeint? Zwanzig Jahre? Dreißig Jahre? Wie heißt er eigentlich? Von den Dorfbewohnern wird er stets mit »Duca« angesprochen, ein alter Titel als ironische Erinnerung an vergangene Zeiten, schon fast ein Spitzname. Aber fällt irgendwann sein wirklicher Name? Ich kann mich nicht erinnern. Das Dorf ist fiktiv, ebenso wie die Stadt Berua, die weit unten in der Ebene liegt. Und sind mit den beschriebenen Bergen überhaupt die Alpen gemeint? Es gibt in Italien ja noch mehr schroffe Bergwelten. Auch die Zeit, in der die Handlung angesetzt ist, bleibt vage. Es ist unsere Gegenwart, irgendwie. Aber Computer oder Mobiltelefone spielen keine Rolle. Bei anderen Büchern hat mich dieses Unverortete sehr gestört, doch hier war es tatsächlich nicht so wichtig. Oder vielmehr habe ich es gar nicht bemerkt, es wird mir erst in diesem Moment klar, in dem ich über den Roman schreibe. 

»In Vallorgàna einen Spitznamen zu besitzen, ist gleichzeitig Zeugnis von Zugehörigkeit und ironische Zusammenfassung der Vorstellung, die die Gemeinschaft sich von dem Einzelnen gemacht hat; weiterhin soll er, wenn der Spitzname sich wie in meinem Fall mit dem eines Vorfahren deckt, deutlich machen, dass die Gemeinschaft nicht vergisst und dass es unmöglich ist der Vergangenheit zu entkommen.«

Das Buch beginnt damit, das jener Ich-Erzähler, der letzte Adelsspross der Cimamontes, der einfach nur seine Ruhe haben will, mit einer massiven Grenzverletzung konfrontiert wird. Nelso Tabióna, einer der Alteingesessenen und einer der erfahrensten Waldarbeiter weit und breit, teilt ihm mit, dass auf dem Grund der Cimamontes – weit oben in den Bergen – ein großes Stück Wald abgeholzt wurde. Schnell kommt heraus, dass dahinter Mario Fastréda steckt, dem der größte Hof des Ortes gehört und der unangefochten in Vallorgàna den Ton angibt. Es ist eine unerhörte Provokation, und das Dorf wartet stillschweigend ab, wie der »Duca« auf diesen Übergriff, diesen Diebstahl reagieren wird. 

»Vallorgàna und der Berg waren ideale Orte, um sich verstecken. Die Geschichte hat sie, dachte ich bei mir, zurückgelassen und beinahe vergessen, in eine Art Nebel getaucht, in die Illusion des Stillstands. Nichts und niemand, hatte ich damals gedacht, würde in eine geschlossene, abgelegene Welt, die noch dazu allmählich von selbst erlosch, eindringen, um mich zurückzuholen.«

Der »Duca« merkt zu seinem eigenen Erstaunen, wie sich all das Wissen über seine Familie, das er sich in den letzten Jahren angelesen hat, Bahn bricht. Wie er – ohne es zu wollen – die gesellschaftlichen Strukturen der Feudalzeit verinnerlicht hat. Wie dieses Bewusstsein, auch wenn es längst nichts mehr mit der heutigen Realität zu tun hat, von Generation zu Generation vererbt wurde, bis hin zu ihm, dem Letzten der Cimamonte. Und gleichzeitig schlummern diese uralten Strukturen auch heute noch unter der Oberfläche des Dorfes, nur kaschiert von einer dünnen Schicht der Moderne. Daher erscheint das Abholzen des Waldes nicht nur als dreister Diebstahl – sondern damit stellt Mario Fastréda die gesamte Persönlichkeit des »Duca« in Frage. Es ist ein Frontalangriff auf jahrhundertealte Traditionen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, die aber im Stillen trotzdem das Miteinander der Menschen in Vallorgàna prägen. Eine Respektlosigkeit, ein Fehdehandschuh. Der Ich-Erzähler nimmt diesen Fehdehandschuh auf – und damit geraten Dinge ins Rollen, die irgendwann nicht mehr zu stoppen sind. Aus Sticheleien werden Racheakte, im Dorf bilden sich Parteien und was als Ränkespiel beginnt, endet als Drama. 

Der Autor Matteo Melchiorre lässt sich dabei Zeit. Zeit für seine Figuren, die von Seite zu Seite plastischer und facettenreicher daherkommen. Zeit für die Handlung, die in einer Gegend spielt, in der wortkarge Menschen nichts überstürzen. Zeit für das Dorf, das einem so deutlich vor Augen steht, als würde man wirklich bei Rubio an der Bar stehen und einen Espresso trinken. Und Zeit für die alles beherrschende Landschaft. Eine Landschaft mit undurchdringlichen Wäldern, schroffen Felsformationen, vollkommener nächtlicher Dunkelheit – auch hier meint man die frische Bergluft zu atmen, eine wunderbare Mischung aus Heu und Nadelwald. Und aus dem Wald hin und wieder den lauten Motor einer Kettensäge zu hören. 

Der Ich-Erzähler verstrickt sich zunehmend in diese Fehde, die es auszufechten gilt. Fast meint er, dass ihm all seine Ahnen über die Schulter schauen, um zu sehen, wie er, der Adlige, mit der Provokation eines Bauern umgeht. Wie hätte wohl jener oder dieser seiner Vorfahren in solch einem Fall gehandelt – zu Zeiten, als Streitigkeiten wie diese mit dem blanken Schwert ausgetragen wurden? Und je länger es dauert, desto mehr empfindet er die Blutlinie der Cimamontes und das Familienerbe wie ein Gefängnis der Geschichte, wie eine schwere Kette, die ihn hinab in die Vergangenheit zieht. Es ist grandios, wie Matteo Melchiorre es schafft, die Schatten der Jahrhunderte mit ihren längst überwunden geglaubten Gesellschaftsstrukturen  in unsere Zeit einsickern zu lassen. Und damit zeigt, dass sie nie ganz verschwunden waren. 

Dazu gibt es einige überraschende Wendungen. Maria, eine junge Frau, arbeitslose Restauratorin, kommt aus der Stadt in das Dorf und wird bei unserem Ich-Erzähler für Verwirrung sorgen – besonders als er herausbekommt, wer sie eigentlich ist. Und dann findet er Hinweise in der uralten Familienchronik der Cimamontes, die ihn auf eine Spur führen. Es folgen weitere Hinweise, die sich mehr und mehr verdichten. Bis die eskalierende Fehde, die uralte Familieninstinkte in ihm geweckt hat, durch lange zurückliegende Ereignisse in einem vollkommen anderen Licht dasteht. 

Doch mehr wird nicht verraten.   

Matteo Melchiorre hat ein wahrhaft außergewöhnliches Buch geschrieben, dessen poetische Sprache manchmal fast ins Pathetische abzugleiten droht – wäre da nicht immer wieder ein feines, kaum wahrnehmbares Augenzwinkern zwischen den Zeilen, das uns zurück ins Hier und Jetzt holt. Und das alles wunderbar übersetzt von Julika Brandestini. 

Zum Abschluss dieses Blogbeitrags möchte ich eine Textstelle zitieren, die in mir den Wunsch geweckt hat, am liebsten sofort aufzubrechen und mich auf den Weg zu machen nach Vallorgàna. Irgendwo am Rande der Alpen, irgendwo weit weg von allem. Weit weg von der Welt. 

»Ich erinnere mich, dass ich an diesem Abend an der Brüstung des Hofes stehen blieb, um das nächtliche Panorama zu betrachten. Vallorgàna, am Fuße des grasbewachsenen Bergrückens, wo auf halber Höhe die Villa meiner Vorfahren liegt, war wie eine schwach beleuchtete Insel. Ansonsten rundum Dunkelheit. Das Val Fonda, ein lang gestreckter Fjord, der sich von Vallorgàna zum offenen Land hin erstreckt, war dunkel. Dunkel war das Kiesbett, in dem das wenige Wasser des Flusses Fragolfo fließt, der im Laufe der Zeitalter ebenjenes Val Fonda gegraben hatte. Und auch der Himmel, versteht sich, war dunkel, denn man sah keinen einzigen Stern. Nur dort, wo, wie ich wusste, das Val Fonda schließlich in die Ebene überging, konnte ich einen orangen Schimmer ausmachen, der hoch in in den Himmel strahlte. (…) Doch die dichteste Dunkelheit lag wie immer in meinem Rücken, hinter der Villa, wo die pechschwarze, dräuende Masse des Berges abrupt zwischen Graten und Hängen aufragt. Breit und leicht konkav, bewaldet, Tor zu weiteren Bergen, die immer schroffer werden, bis sie nur noch Stein sind, dieser Berg, der als ›der Berg‹ bezeichnet wird, als wäre er der einzige seiner Art, ist für uns in Vallorgàna eine unausweichliche Gegenwart; so sehr, dass man ihn auch nachts nicht nur spürt, sondern tatsächlich sieht, weil er von einer undurchdringlichen, zentripetalen Dunkelheit ist, schwarz herausgemeißelt aus dem umgebenden Dunkel.«

Buchinformation
Matteo Melchiorre, Der letzte Cimamonte
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
Atlantis Verlag
ISBN 978-3-7152-5038-0

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4 Antworten auf „Im Gefängnis der Geschichte“

  1. Als wenn ich nicht schon genug Bücher hätte – dieses brauche ich zweifelsohne auch !
    Deine liebevollen, einfühlsamen und überzeugenden Vorstellungen sind Schuld.
    Hierfür ein längst fälliges XXL-Dankeschön !!!
    Tom

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