Wohnzimmerlesung mit Pierre Jarawan

Pierre Jarawan: Frau im Mond

Was mit einer spontanen Aktion begann, ist zu einer festen Veranstaltungsreihe geworden: Bereits zum fünften Mal fand unsere Leipziger Wohnzimmerlesung statt, immer während der Buchmesse, immer im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und bei ihm komme ich jedes Mal unter, wenn ich in Leipzig bin. 2018 hatte er die Idee, sein Wohnzimmer für eine Lesung zur Verfügung zu stellen und am Procedere hat sich bis heute nichts geändert: die Anmeldung dafür erfolgt per E-Mail und in der Antwort erhält man die Adresse. Etwa 30 Personen sitzen dann eng gedrängt auf Bierbänken in dem leer geräumten Raum, eine Autorin oder ein Autor ist zu Gast und ich habe das Vergnügen, das Gespräch zu moderieren. Dieses Mal war Pierre Jarawan bei uns und im Gepäck hatte er seinen neuen Roman »Frau im Mond«.

Pierre Jarawan: Frau im Mond | Leipziger Wohnzimmerlesung

Virtuell kennen Pierre und ich uns schon länger, seit seinem ersten Buch »Am Ende bleiben die Zedern« sind wir auf den üblichen Plattformen miteinander vernetzt. Im »echten« Leben begegneten wir uns am 6. März 2020 das erste Mal, als er in Köln mit seinem zweiten Roman »Ein Lied für die Vermissten« auf Lesereise war. Sechzehn Tage später trat der erste Corona-Lockdown in Kraft und unsere Welt wurde zu einer anderen. Daher war es mir eine besondere Freude, fast auf den Tag genau fünf Jahre und eine Pandemie später mit ihm in einem Wohnzimmer voller Menschen zu sitzen und über seinen dritten Roman zu sprechen. 

In der Woche vor der Veranstaltung habe ich »Frau im Mond« gelesen. Und wie bereits bei den anderen beiden Romanen Pierre Jarawans begeisterten mich auch dieses Mal die erzählerische Finesse, das gekonnte Jonglieren mit verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven. Und die wunderbar poetisch-bildhafte Sprache. Ein kurzes Beispiel? »Für die Heimbewohner war Maroun El Shami wie ein Buch in einem Regal, an das man nur über eine Leiter herankam.« Ich bin regelrecht verliebt in diesen Satz, der gleich auf der dritten Seite steht – und die wenigen Worte genügen, um sofort eine Person vor Augen zu haben. Und eine Geschichte. Aber der Reihe nach.

Eine Geschichte wie ein kunstvoll gewebter Teppich

Als ich mich auf die Moderation der Wohnzimmerlesung vorbereitete, habe ich versucht, den roten Faden der Handlung herauszuarbeiten. Allein, es ging nicht. Denn da sind verschiedene rote Fäden – die sich dann mehr und mehr miteinander verknüpfen; so wie ein kunstvoll gewebter Teppich. Die Geschichte der im kanadischen Montréal lebenden Familie El Shami ist die dabei die große erzählerische Klammer und gleich auf den ersten Seiten lernen wir alle Familienmitglieder kennen. Fast alle. Es sind der bereits so eindrucksvoll vorgestellte Maroun El Shami, seine Tochter Dana und ihr Mann Jules sowie deren Kinder, Lina und ihre Zwillingsschwester Lilit, die Ich-Erzählerin. Doch eine Person fehlt. Eine, deren Fehlen wie eine leere Stelle wirkt, um die alles kreist, was wir auf den nächsten knapp fünfhundert Seiten erfahren werden. Es ist Anoush, die verstorbene Frau von Maroun, die Mutter Danas, die unbekannte Großmutter von Lina und Lilit. Und jetzt, wo ich das aufschreibe, merke ich, dass ihr Schicksal der rote Faden ist, nach dem ich gesucht habe. Derjenige, der den ganzen kunstvoll gewebten Teppich zusammenhält. 

Pierre Jarawan: Frau im Mond | Leipziger Wohnzimmerlesung

Auf zwei Zeitebenen entrollt sich die Geschichte: Im Jahr 2020 in Montréal und Beirut. Und in den beginnenden Sechzigerjahren, ebenfalls in Beirut. In der Gegenwart steht Lilit in Montréal vor einem beruflichen Scherbenhaufen, nach einem ersten Achtungserfolg als Dokumentarfilmerin hat sie seit Jahren kein neues Projekt verwirklichen können. Gleichzeitig sind sie und ihre Zwillingsschwester schon ihr ganzes Leben lang fasziniert von ihrer Großmutter Anoush, die sie nie kennenlernen konnten, die früh gestorben ist und über deren Herkunft nur bruchstückhafte Informationen vorliegen. Eines kommt zum anderen und Lilit macht sich auf Spurensuche. Eine Suche, die sie nach Beirut führen wird, in eine Stadt und in ein Land kurz vor dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollaps. Die Bevölkerung leidet unter der Korruption, verarmt zusehends, Protestzüge und Demonstrationen ziehen durch die Straßen, Gewalt liegt in der Luft. Pierre Jarawan beschreibt dies anschaulich und mitreißend – und richtet immer wieder auch den Blick auf Schönes, das inmitten des Umbruchs zu finden ist. Etwa der abendliche Wettkampf der Taubenzüchter auf den Dächern der Stadt, während die Sonne untergeht – eine wunderbare Szene in dem Roman.

Und mitten in diesem Chaos findet Lilit den Faden der Geschichte ihrer Großmutter. Ein Faden der zurückführt in die Schrecken des Völkermords an den Armeniern, den Anoush als kleines Kind in einem Waisenhaus überlebte. Damals, am Ende des Ersten Weltkriegs, flüchteten zahllose armenische Genozid-Überlebende in die Gegend, die später Libanon heißen sollte, ließen sich dort nieder, versuchten, ihre Kultur und Sprache zu erhalten, eine neue armenische Gesellschaft zu gründen – inklusive der 1955 gegründeten armenischen Universität in Beirut, die bis heute existiert. Im Wohnzimmer erzählte Pierre, dass es ihm wichtig war, darzustellen, wie eng verknüpft die Geschichte des Libanons mit der Geschichte der Armenier ist. Eine Geschichte, bei der das Schweigen über das Geschehene oft eine große Rolle spielt.

Die Lebanese Rocket Society

In dieser Hochschule, der Haigazian-Universität, wird Maroun in den Sechzigerjahren als Dozent arbeiten. Er, Anoush und ihre Tochter Dana, zogen für einige Jahre von Montréal in den Libanon und lebten in Beirut. Und er, Maroun, wird zum Gründer der Lebanese Rocket Society und es mit seinem Team tatsächlich schaffen, eine Rakete in den Weltraum zu schicken. Ein libanesisches Weltraumprogramm während der Jahre, als sich die USA und die Sowjetunion einen Wettlauf zum Mond lieferten – nicht nur bei uns ist dies kaum bekannt, auch im heutigen Libanon weiß man nichts mehr darüber. Doch es ist alles wahr, auch die Lebanese Rocket Society hat es tatsächlich gegeben. Pierre erzählte ausführlich davon, wie er durch ein Photo bei einer Ausstellung auf das Thema gekommen war und angefangen hat, die dürftigen Informationen zusammenzutragen. Und lässt Lilit vierundfünzig Jahre nach dem Raketenstart die verwischten Spuren finden, die ihre Familie dort hinterlassen hat – aber das ist nur der Beginn ihrer Reise in die Vergangenheit.

Pierre Jarawan: Frau im Mond | Leipziger Wohnzimmerlesung

Marouns Raketenbegeisterung und die Faszination für den Weltraum – das ist ein weiterer Faden der Geschichte. Ausgelöst wurde sie 1929, als er als Jugendlicher Fritz Langs Spielfilm »Frau im Mond« sah; einer der ersten Science Fiction-Filme. Die dargestellte Mondreise würde unseren heutigen Sehgewohnheiten nicht mehr entsprechen (man kann ihn sich auf YouTube ansehen, er dauert zwei Stunden und fünfzig Minuten), aber damals muss er eine unglaubliche Wirkung auf die Kinobesucher gehabt haben – was wir in einer der vielen großartigen Szenen des Buches miterleben. Fritz Langs Recherchen sind etliche Jahre später in das Nasa-Programm eingeflossen. Unter anderem hat er – auch das lernen wir aus dem Roman – für diesen Film den Countdown erfunden. 

Ich merke gerade, ich schweife ab. Und das ist okay, denn alle Aspekte und fein verästelte Handlungsstränge dieses Romans kann man ohnehin kaum in einem Blogbeitrag wiedergeben. Das Buch enthält so viele liebevoll und akribisch recherchierte Details, so viele feine Andeutungen und überraschende Wendungen, die allesamt mit einer schriftstellerischen Leichtigkeit zusammengefügt sind, die ihresgleichen sucht und die selten ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 

Doch bei aller Leichtigkeit erzählt Pierre Jarawan eine Geschichte voller Schicksalsschläge. Obwohl sie sich nie dominant in den Vordergrund drängen, sind zwei Themen prägend für die Handlung: Das Ankommen in der Fremde, verbunden mit dem Gefühl, nie ganz dazuzugehören. Und die unbewusste Weitergabe von Traumata innerhalb der Familie. Beides zeigt sich besonders in der Person Lilits, die nach sich selbst sucht und dabei die Geschichte ihrer Großmutter findet – und damit die Geschichte der Leerstelle in ihrer Familie. 

Über all das – und noch über viel mehr – haben Pierre und ich bei unserer Wohnzimmerlesung gesprochen. Wir alle im Raum hätten ihm endlos zuhören können, als er dabei von seinen Recherchen erzählte; egal, ob es um die libanesische Raketenforschung ging, oder um die aktuelle Situation im Libanon oder um die große Kunst des Webens armenischer Teppiche. Denn ein solcher Teppich spielt eine wichtige Rolle in dem Buch, denn in ihm laufen tatsächlich die Fäden einer Familiengeschichte zusammen, die weit zurück reichen in die Vergangenheit. 

Pierre Jarawan: Frau im Mond | Leipziger Wohnzimmerlesung

Es war ein großartiger Abend. Danke, lieber Pierre, dass du bei uns warst – das Gespräch war unglaublich inspirierend und hat großen Spaß gemacht. Danke an alle Teilnehmenden fürs Dabeisein – es war wunderbar mit euch. Und danke, lieber Hannes für deine immer wieder überwältigende Gastfreundschaft. Die nächste Wohnzimmerlesung findet zur Leipziger Buchmesse 2026 statt. Wir freuen uns schon. 

Übrigens: Die nächste Zeit ist Pierre Jarawan auf Lesereise, die Termine findet ihr hier. Falls er in eure Stadt kommt, solltet ihr euch diesen Abend auf keinen Fall entgehen lassen. 

Buchinformation
Pierre Jarawan, Frau im Mond
Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1499-3

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