Madonna in den Trümmern

Cay Rademacher: Nacht der Ruinen

Eigentlich mag ich sie sehr, die Romane von Cay Rademacher, die ein historisches Setting haben. Die Hamburg-Trilogie etwa, angesiedelt in den Jahren 1947 und 1948, als es in der zerstörten Stadt für viele Menschen um die nackte Existenz ging. Oder den Roman »Die Passage nach Maskat«, in dem die Passagiere eines Ozeandampfers ein Abbild der Gesellschaft Deutschlands sind, unmittelbar vor der großen Weltwirtschaftskrise 1929 – und das inklusive einer spannenden Whodunit-Geschichte in der Tradition Agatha Christies. Der Roman, um den es in diesem Beitrag gehen soll, trägt den Titel »Nacht der Ruinen«, er führt uns nach Köln und in das Jahr 1945. Das Wort »eigentlich«, mit dem ich den Text begonnen habe, lässt erahnen, dass mich dieses Buch nicht ganz überzeugen konnte. Zumindest was die Handlung angeht; vieles wirkte zu überfrachtet und gleichzeitig zu vorhersehbar. Doch die Schilderung der vollkommen zerbombten Stadt geht unter die Haut.

Der Zweite Weltkrieg ist in seiner Endphase und die Geschichte beginnt mit einem Sturz in die Hölle. Als beim letzten Bombenangriff auf Köln sein Flugzeug abgeschossen wird, springt der amerikanische Pilot Richard Rohrer mit dem Fallschirm ab – und hinein in ein Inferno aus Explosionen und Bränden. Er landet in den Trümmern einer Kirche; verletzt am Boden liegend erkennt er über sich ein Marienbildnis. Es sind die Überreste von St. Kolumba; außer einer gotischen Säule mit einer kunstvoll ausgeführten Statue der heiligen Maria ist von dem einst prächtigen Gebäude kaum etwas übrig geblieben. Die »Madonna in den Trümmern« sollte später zu einem Sinnbild des zerstörten Kölns und seiner ausradierten Geschichte werden; berühmt ist das ikonische Photo von Hermann Claasen. Aber das wusste der Pilot zu diesem Zeitpunkt nicht. Und nur wenige Tage später wird der linksrheinische Teil Kölns von den Amerikanern eingenommen und besetzt. Es ist der 6. März 1945.

Schnell richten die US-Truppen eine provisorische Stadtverwaltung ein, wobei man das riesige Trümmerfeld kaum noch Stadt nennen kann. Sie erhalten die Meldung eines Zeugen, der gesehen hat, wie beim letzten Bombenangriff ein abgesprungener amerikanischer Flieger erschossen wurde. Von einem Mann in Zivil. In den Ruinen von St. Kolumba. Doch eine Leiche gibt es nicht.

Auftritt Joe Salmon. Der junge Soldat wird beauftragt den Täter zu finden. Wir Leser haben Joe bereits im Prolog des Romans kennengelernt: Da hieß er noch Joseph Salomon, ist Kölner und zieht mit seinem besten Freund Jakub und der schönen Hilda durch die Stadt. Joseph und Jakub sind Juden, Hilda stammt aus einer großbürgerlichen, nazitreuen Familie. Lange geht das nicht gut und bevor das große Morden beginnt, schafft es Joseph in die USA. Es ist das Jahr 1938. Sieben Jahre später kommt er als Joe Salmon zurück in seine zerstörte Heimatstadt, um einen Mörder zu suchen. Und seine beiden Freunde. 

Soweit die Eckdaten der Handlung. Joe beginnt mit Hilfe seines Fahrers die Trümmerlandschaft zu durchstreifen. Nur noch etwa 40.000 Menschen leben im März 1945 in den Resten der Stadt. 40.000 von einst 768.000. Das sind dramatische Zahlen, doch auch 40.000 Einwohner sind noch zu viele für die unwahrscheinlichen Zufälle, die Joe ein Puzzleteil nach dem anderen finden lassen. Daher wirkt das Ganze schnell unglaubwürdig, viel zu oft ist Joe im richtigen Moment an der richtigen Stelle, um weitere Zeugen des Mordes oder neue Hinweise zu finden. Fast wie nebenbei kommt er dabei dem Schicksal Jakubs und Hildas auf die Spur, beide Suchen beginnen sich zu verknüpfen. Mir war das alles zu konstruiert und dieses Überkonstruierte geht auf Kosten des Spannungsbogens; schon nach der Hälfte ist die Aufklärung erahnbar. Dazu wird mit prominenten Namen nicht gespart: Joes Begleiter ist auf Wunsch des Stadtkommandanten ein englischer Journalist, ein Kriegsberichterstatter namens George Orwell, der nebenbei auch Romane schreibt. Jakubs Spuren führen Joe zu der seit Jahren untergetaucht lebenden Schriftstellerin Irmgard Keun. Und natürlich begegnet er dem Photographen Hermann Claasen, der eindrucksvolle Bilder der zerstörten Stadt aufnimmt. Das alles ist etwas zu viel des Guten, zumal so starke Charaktere wie George Orwell und Irmgard Keun nicht als Sidekicks des Protagonisten taugen – der von seinen Fronterlebnissen erzählende Orwell und die permanent trinkende Keun wirken wie blasse, schon fast karikaturhafte Abziehbilder ihrer selbst. 

Doch bei aller Kritik an der Handlung: Äußerst beeindruckend schildert Cay Rademacher das zerstörte Köln; diese Passagen des Buches sind grandios. Wir sehen Köln durch Joes Augen, der seine Heimatstadt kaum wiedererkennt. Mit dem Jeep geht es über die Aachener Straße in die Innenstadt, über die Ringe, an einst vertrauten Orten vorbei. Kaum ein Stein ist auf dem anderen geblieben; im Verlauf des Krieges wurde Köln 262 mal bombardiert, über 90 Prozent des Stadtzentrums sind zerstört. Wie durch ein Wunder ist der Dom stehen geblieben, allerdings auch er schwer beschädigt. Als Joe den Neumarkt erreicht, einen der zentralen Plätze der Stadt, ist er sprachlos vor Entsetzen. Brand- und Verwesungsgeruch hängt in der Luft.

»Der große, rechteckige Neumarkt sieht aus, als hätte ein Riese Streusel darüber verteilt, doch es sind graue und rote Ziegelbrocken, unter denen das Pflaster begraben ist. Ziegel von den umliegenden Häusern, die einst vier, fünf sechs Stockwerke hoch waren. Die Bombenexplosionen müssen gewaltig gewesen sein, dass die Backsteine Dutzende Meter weit auf den Platz geregnet sind. Man kann die Fassaden lesen, wie ein Arzt Wunden diagnostizieren kann: Der Druck großer Luftminen hat manche Fassaden ins Innere der Häuser oder zur Seite gedrückt. Splitterbomben zersieben Fassaden und zeichnen sie mit den seltsamsten Mustern aus faustgroßen Löchern und Rissen. Brandbomben malen Fassaden schwarz und schmelzen das Glas aus den Fenstern. Die ausgeweideten Häuser umringen den Neumarkt wie riesenhafte Kulissen eines makabren, expressionistischen Theaterstücks, nur dass hier niemand mehr auf der Bühne sitzt. Kein Mensch ist zu sehen.«

Und weiter:

»Ein Dutzend verbrannter Bäume ragt wie Grabkreuze auf, verbogene Straßenbahnschienen winden sich wie Schlangen unter einem zerdrückten Trambahnwagen, geköpfte Laternen werfen bizarre Schatten. (…) Die Apostelnkirche, die romanische Königin des Neumarkts, sieht aus wie mit dem Schmiedehammer zertrümmert: Keine Kuppel, das Schiff zerschmettert, einer der beiden Fassadentürme geköpft, der Hauptturm ohne Dachstuhl und so hohl, das Joe quer hindurchsehen kann bis in den grauen Himmel über Köln.«

Die Art und Weise, wie Cay Rademacher das zerstörte Köln vor unseren Augen entstehen lässt, ist atemberaubend. Ich lebe seit zweieinhalb Jahrzehnten in dieser Stadt und natürlich habe ich mich in dieser Zeit intensiv mit der Geschichte Kölns beschäftigt, kenne die Photographien der Ruinen und der Trümmerwüste. Doch mit den Beschreibungen in diesem Buch ist es, als ob die Bilder lebendig würden, man ahnt den Geruch der Verwüstung, die letzten Spuren des Lebens und die Stille, die über allem liegt. Alle beschriebenen Straßen liegen in dem Radius, in dem ich mich tagtäglich bewege; das zerbombte Haus, in dem Joe, damals noch Joseph, aufgewachsen ist, steht an der Neuenhöfer Allee. Das ist meine Nachbarschaft und der angrenzende Beethovenpark ist geprägt von einem hohen Hügel, entstanden aus den Trümmern, die nach Kriegende weggeräumt wurden. Läuft man hier abseits der Wege, sieht man immer wieder Brocken von Ziegelsteinen aus der Erdschicht herausragen oder in den Büschen liegen – so, als wolle der Berg uns daran erinnern, aus was er besteht. 

Und auch die »Madonna in den Trümmern« hat weitere Auftritte in dem Buch, etwa als Joe den Tatort untersucht und vollkommen fasziniert ist von dem Anblick der Schönheit inmitten der Vernichtung – es gibt wohl kaum ein symbolischeres Bild für das Ende des alten Kölns. Um die Marienstatue herum wurde 1950 eine Kapelle errichtet, seit 2007 ist sie Teil des erzbischöflichen Kunstmuseums Kolumba, dessen Architekt Peter Zumthor die Kirchen- und Kriegstrümmer behutsam und gleichzeitig spektakulär in den Neubau integriert hat. 

Auch wenn ich mit der Romanhandlung in »Nacht der Ruinen« nicht warmgeworden bin, so habe ich gleichzeitig durch dieses Buch viele Denkanstöße und Anregungen erhalten, mich intensiver mit der Geschichte der Stadt zu beschäftigen, in der ich lebe. Und das machte die Lektüre zu etwas Besonderem. 

Zum Weiterlesen

Wer tiefer in das Thema einsteigen möchte, dem sei die grandios aufbereitete Seite »Kriegsenden – Stadt und Menschen zwischen dem 5. März und dem 8. Mai 1945« des NS-Dokumtationszentrums Köln empfohlen. 

Wer wissen möchte, wie die Stadt am Rhein vor dem Zweiten Weltkrieg aussah, dem sei der Prachtband »August Sander – Köln wie es war« empfohlen, der im Emons Verlag erschienen ist und mehrere hundert Köln-Bilder des berühmten Photographen enthält. Angesichts der Hässlichkeit der Kölner Nachkriegsarchitektur schmerzt der Anblick sehr – und allein diese Hässlichkeit ist ein permanentes Mahnmal, das zeigt, wohin der Weg des Faschismus führt: In Zerstörung und Untergang. 

Wer sich für die Bilder des Photographen Hermann Claasen interessiert, der bereits während des Krieges begonnen hat, das Ausmaß der Zerstörung Kölns zu dokumentieren (was gefährlich war, denn das NS-Regime duldete solche Tätigkeiten nicht), dem sei dessen Band »Gesang im Feuerofen. Köln – Überreste einer alten Stadt« empfohlen, der antiquarisch noch erhältlich ist.

Buchinformation
Cay Rademacher, Nacht der Ruinen
DuMont Verlag
ISBN 978-3-7558-0034-7

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