Beim Lesen des Romans »Simón« von Miqui Otero war ich mir etwa ab der Hälfte nicht ganz sicher, ob ich ihn hier im Blog vorstellen und empfehlen möchte. Das Buch hat einen starken Anfang, schnell entsteht ein Sog, der einen in die Geschichte hineinzieht. Aber in der Mitte zerfasert die Handlung, der Spannungsbogen droht verloren zu gehen. Doch dann, gerade rechtzeitig, schaffte es der Autor, mich zurückzuholen. Im letzten Drittel nimmt die Story wieder Fahrt auf, Kreise schließen sich, Handlungsstränge biegen auf die Zielgerade ein und ich war gespannt, wie alles enden würde. Es war dann mitten in der Nacht, als ich das Buch zugeklappt und mich über die Feier des Lebens gefreut habe, an der ich teilhaben durfte. Und so ist trotz der ein oder anderen erzählerischen Schwäche »Simón« ein Roman, der in Erinnerung bleiben wird. Und im Herzen.
Im Klappentext wird »Simón« als Barcelona-Roman angekündigt, es wird von der Magie der Literatur gesprochen – und das hat zu Beginn bei mir etwas falsche Erwartungen geweckt. Wahrscheinlich hatte ich sofort Zafón-Settings im Kopf, aber damit hat das Buch nichts zu tun. Es ist in der Tat ein Barcelona-Roman und Bücher spielen eine wichtige Rolle, aber beides auf eine ganz andere Weise. Denn es geht um die katalanische Metropole unserer Zeit, die erzählte Geschichte beginnt im Sommer 1992 und endet im Frühjahr 2018. In diesen sechsundzwanzig Jahren begleiten wir vier Personen durch ihre Leben, allen voran den titelgebenden Simón, seinen Cousin Rico, seine beste Freundin Estela und die zwischen zwei Welten lebende Betty.
Zu Beginn ist Simón ein kleiner Junge, sein deutlich älterer Cousin Rico ist wie ein großer Bruder für ihn. Das familiäre Zentrum ist eine Bar: das Baraja, gelegen mitten in Barcelonas altem Arbeiterviertel Sant Antoni. Das Baraja wird von den Eltern Simóns und Ricos gemeinsam betrieben; die Väter der beiden sind Brüder, die Mütter sind Schwestern. Die Tage und Nächte sind voller Arbeit, Rico ist der einzige, der sich um den kleinen Simón kümmert – und in ihm schon früh die Liebe zu den Büchern und zu den Geschichten, die sie erzählen, weckt. Denn rund um die altehrwürdige Markthalle Mercat de Sant Antoni gibt es jeden Sonntag einen großen Bücherflohmarkt; hier findet Rico Nachschub für seinen Cousin und schickt ihn in ein Abenteuer nach dem anderen. Er bringt Simón bei, »so zu leben, als wäre dein Leben ein Film oder ein Song oder ein Roman, deinen Stern zu suchen und der Stern deines eigenen Lebens zu sein.«
Allerdings das ist ein großer Irrtum, wie die Jahre zeigen werden. Denn »Songs sind dazu da, gehört zu werden, Filme, um gesehen zu werden, und Romane, um gelesen zu werden, während man versucht, sich ein Leben aufzubauen, und nicht, um sie von innen heraus zu leben oder gar ihre Hauptfiguren zu sein.« Denn so sehr gerade die Literatur einem helfen kann, das Leben zu ertragen, so sollte man niemals den Fehler begehen es mit einem zu Roman zu verwechseln und die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Das muss Simón erst lernen und dieser Prozess wird kein einfacher sein.
Im Sommer 1992 verschwindet Rico aus Barcelona und damit beginnt der Roman. Er lässt Simón einen Satz zurück: »Alles ist in den Büchern« – und noch ahnt der Junge nicht, wie sehr dieser Satz sein Leben ändern und prägen wird. Doch erst einmal ist Simón allein. Alleine zwischen seinen ständig arbeitenden Eltern, Tante und Onkel. Allein zwischen all den Stammgästen der Bar, die sein Zuhause ist. Irgendwann wird er Rico wiedersehen, aber auch das weiß er noch nicht. Und dieses Wiedersehen wird anders sein, als er es sich ausmalt. Ganz anders.
Simóns Zuhause muss man sich so vorstellen: »Die Gäste, die im Baraja tranken, waren ein seltsames Ensemble aus Gitanos, die echte gefälschte Markenhandtücher und herrliche Anzüge aus billigem Stoff verkauften, Malochern der Industriewaagen-Fabrik Pivernat und Telefónica-Angestellten, Grundschullehrern, Friseuren und sogar Varieté-Tänzerinnen, Schauspieler ohne Autoren und Regisseur. Sie wählten ihre Rollen selbst, stilisierte, aber lebenspralle Figuren, die sich aus dem Studium dessen ergaben, was das Stück, die Bar, benötigte: den Zyniker, den Eifersüchtigen, den Chaoten, den Virtuosen, den Rechthaber. Den Klugscheißer, der immer alles besser weiß, vor allem dann, wenn er keine Ahnung hat. Den, der das Leben liebt, außer seinem eigenen.«
In der gleichaltrigen Estela, Tochter eines stets betrunkenen Stammgasts und einer Bücher verkaufenden Mutter, findet er eine Gefährtin und es entsteht eine Freundschaft fürs Leben – der einige harte Proben bevorstehen. Betty oder Beth – je nachdem, in welcher Umgebung sie sich bewegt – ist ein Partygirl aus reichem Hause, die sich dies nicht anmerken lassen möchte, und eigentlich eine Freundin des verschwundenen Rico. Als die Jahre vergehen und der Altersunterschied immer weniger eine Rolle spielt, wird auch sie eine wichtige Person in Simóns Leben.
Das sind die vier: Simón, Rico, Estela und Betty. Es gibt eine ganze Menge Nebenfiguren, aber es sind vor allem diese vier, die wir bei ihrem Älterwerden und bei ihrer Suche nach ihrem Platz im Leben begleiten. Wir erleben mit, wie sie scheitern, weitermachen, scheitern, versuchen neu anzufangen, wieder scheitern, weitermachen, wie sie nicht mehr können, am Ende sind, aber trotzdem weitermachen, immer weiter, es zumindest versuchen, irgendwie. Denn das ist das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen und ein anderes gibt es nicht.
Dazu ist dieses Buch eine Liebeserklärung an Barcelona, an das Viertel Sant Antoni, an die Nachbarschaftskneipe als kollektives Wohnzimmer der Einsamen. Aber es erzählt auch von unserer Klassengesellschaft, aus der es kaum einen Weg hinaus gibt, keine Möglichkeit, die eigene Herkunft abzuschütteln. Und von den dramatischen Auswirkungen der spanischen Wirtschaftskrise zwischen 2009 und 2013, die zahllose Existenzen zerstörte und gerade in den Arbeitervierteln wie Sant Antoni für gnadenlose Verheerungen sorgte. Eine grandiose Textstelle beschreibt diese Jahre treffend:
»Die Krise, sagte Estela immer, habe wie ein Kontrastmittel gewirkt: Sie habe sichtbar gemacht, wo im Körper, also im System, sich die bösartigen Stellen befinden. All das, was vorher schon krank gewesen sei, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Ungerechtigkeit vererbten Vermögens, sei jetzt deutlicher zu erkennen, und trotzdem wüssten die Patienten, die am schlimmsten betroffen seien, oft nicht, mit welchen Medikamenten sie sich selbst heilen könnten, und diejenigen, die sich im Besitz dieser Medikamente befanden, täten so, als hätten sie sich in der Diagnose geirrt, während sie gleichzeitig von den Rezepten profitierten.«
Als das Schlimmste überstanden scheint, beginnen die Gentrifizierung und der Tourismus bedrohliche Ausmaße anzunehmen. Und das alte Barcelona, die alten Viertel verschwinden im Lärm der Rollkoffer, die überall aus dem Boden sprießenden Airbnb-Wohnungen sind das Symbol der Zerstörung einer Stadt, die eigentlich ihren Bewohnern gehören sollte. Doch – und das ist das Schöne an diesem Buch – auch jetzt geht es weiter, auch wenn sich alles wandelt, gibt es Neuanfänge und Hoffnung auf ein Morgen. Die Protagonisten des Romans haben in diesen sechsundzwanzig Jahren ihre Narben und Blessuren davongetragen, sind älter oder alt geworden. Und vielleicht sitzen sie irgendwann alle gemeinsam an einem viel zu kleinen Tisch, essen, lachen, streiten und versöhnen sich. Und feiern das Leben.
Das Leben feiern – das ist kein Ausdruck für eine rauschende Party. Es bedeutet: Weiterzumachen. Irgendwie.
Über all dem liegt eine weitere Konstante dieses Romans: es ist die Präsenz der Bücher, die immer wieder eine Rolle in der Handlung spielt, ebenso wie die Kraft der Literatur und die Magie der Geschichten. Daher gibt es zum Abschied ein weiteres, ein letztes Zitat, das mir voll und ganz aus der Seele spricht: »Er hatte nie Schreiben studiert, aber Schreiben konnte man ja auch nicht studieren. Dafür musste man lesen und manchmal auch leben.«
Buchinformation
Miqui Otero, Simón
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98074-5
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Danke für diese Ermunterung! (Hier liegt das Original des Romans herum, und ich hatte bisher nicht den geringsten Elan, mich mit dem Buch zu beschäftigen. Aber jetzt hast Du mich auf die Sour gesetzt, auch wenn es wohl noch etwas dauern wird, bis ich zum Lesen komme.)