Weit oben in den Bergen

Regina Denk: Die Schwarzgeherin

Als ich mir Gedanken darüber gemacht habe, wie ich die Vorstellung des Romans »Die Schwarzgeherin« von Regina Denk beginnen könnte, ist mir aufgefallen, dass hier im Blog inzwischen etliche Romane zusammengekommen sind, die weit oben in den Bergen spielen. Und es geht darin meist um Menschen, die in einer Umgebung, einer Landschaft überleben müssen, die keinen Fehler verzeiht. Oft um Einzelgänger, die versuchen, aus gesellschaftlichen Strukturen auszubrechen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihnen vielleicht sogar Risse zuzufügen. Es sind festgefügte Regeln des Zusammenlebens, die sich über die Jahrhunderte geformt haben und die – bedingt durch die Einsamkeit und Lebensfeindlichkeit der Berge – noch undurchdringlicher sind als anderswo. Ein weiterer Gedanke: Vielleicht hat die Faszination für Bücher, deren Handlung im Gebirge angesiedelt ist, auch damit zu tun, dass ich in Sichtweite der Alpen aufgewachsen bin, wer weiß.

Menschen in Ausnahmesituationen, auf sich allein gestellt; Menschen die kämpfen müssen, um ihren eigenen Weg zu gehen – das ist eines der klassischen literarischen Themen, von denen ich nie genug bekomme. In den Bergen angesiedelt entsteht dabei eine Situation, in der es kein Ausweichen geben kann und in der alles auf ein Drama hinausläuft. Hinauslaufen muss. Und trotz der ähnlichen Rahmenbedingungen erzählt jeder dieser Romane seine Geschichte auf eine einzigartige Weise. So, dass man sie nicht wieder vergisst. »Die Schwarzgeherin« ist eines dieser Bücher. „Weit oben in den Bergen“ weiterlesen

Das Abschiedsbuch

Paul Auster: Baumgartner

Ein seltsamer Zufall, falls es so etwas gibt. Am 30. April 2024 stand ich spätabends vor dem Bücherregal und überlegte, was ich als nächstes lesen möchte. Es ist eines meiner liebsten Rituale, ich schaue die Buchrücken entlang, lese hier kurz hinein und dort, bei manchen Büchern ist es sofort klar, dass sie gerade nicht passen, bei anderen bin ich unschlüssig, stelle oder lege sie dann doch zurück und schaue weiter. Irgendwann kommen zwei, drei Titel in die engere Wahl, ein Favorit kristallisiert sich heraus – und die Entscheidung ist getroffen. Da es inzwischen sehr spät geworden war, wollte ich mich am nächsten Morgen endgültig für die nächste Lektüre entscheiden. Mit in die engere Wahl gekommen war der Roman »Baumgartner« von Paul Auster, das zuletzt erschienene Buch eines meiner Lieblingsautoren, dessen Werke einige Spuren in meiner Leserbiographie hinterlassen haben. Am nächsten Morgen dann verbreitete sich weltweit die Nachricht von Paul Austers Tod, er war 77jährig an einer schweren Krebserkrankung gestorben. Und »Baumgartner« ist zu seinem Abschiedsbuch geworden. „Das Abschiedsbuch“ weiterlesen

Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches. „Lesend durch die Cafés der Stadt“ weiterlesen

Die Augen seines Vaters

Remo Rapino: Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio

Ein Mann mit Rucksack auf dem Weg ins Ungewisse: Das Cover des Romans »Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio« von Remo Rapino erinnert ein wenig an Robert Seethalers »Ein ganzes Leben«. Und wie bei diesem Werk geht es ebenfalls um die Lebensgeschichte eines Einzelgängers, eines Menschen der sich immer wieder mit der Einsamkeit arrangieren muss, die ihn wie ein Kokon umgibt. Es ist jener Liborio Bonfiglio, den wir Leser als alten Menschen kennenlernen. Als Ich-Erzähler nimmt er uns mit auf eine Reise durch acht Jahrzehnte Leben und durch die Wechselbäder der italienischen Geschichte. „Die Augen seines Vaters“ weiterlesen

Über die Leere, die uns umgibt

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke

Anstatt über den Roman »Gesammelte Werke« von Lydia Sandgren zu schreiben, würde ich viel lieber noch darin lesen, wäre gerne noch in der Geschichte gefangen, die mich vollkommen in ihren Bann gezogen hat. Aber auch 874 Seiten sind leider irgendwann zu Ende und es war mitten in der Nacht, als ich das Buch zugeklappt habe; übermüdet und hellwach gleichzeitig. Am nächsten Tag begann das Gelesene zu sacken, sich im Kopf auszubreiten und mir wurde nach und nach klar, was für ein grandioses Leseerlebnis mir beschert worden war – verbunden mit der Wehmut, die liebgewordenen Personen nun nicht mehr wiederzutreffen. Literatur, die wie ein helles Licht über den trüben pandemischen Winter strahlt. Dabei behandelt »Gesammelte Werke« ernste Themen, es geht um Verlust, um das Gefühl der Leere und die Suche nach einem Sinn im Leben; es gibt viele Fragen und nicht immer Antworten darauf – das alles aber ist eingebettet in einer wunderbaren Erzählung über die Freundschaft, das Älterwerden und die Liebe zur Kunst, zur Literatur und zur Sprache. „Über die Leere, die uns umgibt“ weiterlesen

Aus einem Münzwurf wird Literatur

Anne von Canal und Heikko Deutschmann: I get a bird

Jeder Roman hat eine Entstehungsgeschichte, doch nur wenige sind so charmant wie die von »I get a Bird«. Denn alles begann mit dem Wurf einer Münze – so erzählen es Anne von Canal und Heikko Deutschmann, die das Buch gemeinsam verfasst haben. Seit vielen Jahren sind die beiden miteinander befreundet und bei einem ihrer Gespräche ging es um die Kunst des Briefeschreibens; eine Kunst, die in unserer Welt im Begriff ist, zu verschwinden. Wie wäre es wohl – so die Überlegung – wenn zwei vollkommen Fremde einen Briefwechsel begännen. Natürlich gibt es etliche Romane zu genau dieser Idee, aber sie stammen stets aus der Feder eines einzigen Autors, einer einzigen Autorin. Doch wie würde es sich entwickeln, wenn es tatsächlich zwei Personen wären, die sich schreiben? Die beiden beschlossen, dies auszuprobieren;  jeder würde eine fremde Identität annehmen und unter diesen Namen begänne ein Briefwechsel. Nicht abgesprochen, spontan und unberechenbar. Nur wer sollte damit anfangen, wer den ersten Brief schreiben? „Aus einem Münzwurf wird Literatur“ weiterlesen

Ein Echo aus der Vergangenheit

Leif Davidsen: Der Augenblick der Wahrheit

Es gibt mehrere Kriterien, nach denen ich entscheide, ob ein gelesener Roman dauerhaft im Bücherregal bleibt oder nicht. Eine wichtige Frage ist dabei: Hat mich das Buch so begeistert, dass ich mir vorstellen könnte, es noch einmal zu lesen? Denn das mache ich gerne und manchmal ist es sehr spannend, wie ganz anders das Erzählte auf einen wirken kann, wenn seit der ersten Lektüre viele Jahre vergangen sind. So geschehen bei »Der Augenblick der Wahrheit« von Leif Davidsen; ein Roman, den ich vor etwa zwanzig Jahren las – und in dem ich beim erneuten Lesen viele Textstellen fand, die mir damals kaum aufgefallen waren, die dieses Mal aber eine vollkommen andere Stimmung schufen. „Ein Echo aus der Vergangenheit“ weiterlesen

Mit eleganter Leichtigkeit

Juan Gabriel Vasquez: Lieder für die Feuersbrunst. Erzaehlungen

Es war der Buchtitel, der mich neugierig gemacht hat. »Lieder für die Feuersbrunst« klingt auf eine so poetische Weise dramatisch, dass ich an diesem Buch auf keinen Fall vorbeigehen konnte. Es enthält Erzählungen des kolumbianischen Autors Juan Gabriel Vásquez, ebenso wie der Band »Die Liebenden von Allerheiligen«. Auf beide Bücher machte mich Vanessa Marzog aufmerksam, die für Holtzbrinck Berlin arbeitet und unter anderem für die Kommunikation rund um die Samuel Fischer Gastprofessur verantwortlich ist. Sie bot an, mir diese beiden Bücher zuzusenden; dafür sollte ich sie photographisch in Szene setzen und ein paar Sätze über den Autor schreiben, der im Sommer 2021 Dozent der Samuel Fischer Gastprofessur an der FU Berlin ist. Eigentlich gehe ich auf Kooperationsanfragen dieser Art nie ein, denn zu viele noch nicht vorgestellte Bücher stehen in der Blog-Warteschlange. Aber wie gesagt, den Buchtitel fand ich so grandios und das Thema der Gastprofessur so interessant, dass ich in diesem Fall nicht anders konnte, als zuzusagen. Zumal ich ein Faible für Literatur aus Süd- und Mittelamerika habe. Und es hat sich gelohnt, denn die Erzählungen der beiden Bände haben mich sehr begeistert. „Mit eleganter Leichtigkeit“ weiterlesen

Majestätische Hoffnungslosigkeit

Hernan Diaz: In der Ferne

Diejenigen, die schon länger in diesem Blog mitlesen, wissen, dass ich ein Faible habe für eher düstere Romane, deren Protagonisten ihrem Leben verloren gegangen sind. Getriebene, Einsame, Suchende – das sind meine literarischen Helden. Dieses Entwurzelte oder dieses Gefühl, komplett auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, sind derart existenzielle Situationen, dass sie jene Romanfiguren zu Sinnbildern des Lebens an sich machen. Sie regen zum Nachdenken an, zur Beschäftigung mit den Gedanken, woher wir kommen, wohin wir gehen und was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist – und die viel schneller vorbei sein wird, als wir es uns in jungen Jahren vorstellen können. »In der Ferne« von Hernan Diaz ist daher ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und ist dabei etwas sehr Besonderes, denn noch nie habe ich einen Text gelesen, in dem die geschilderte Einsamkeit so überwältigend präsent war, wie in diesem. „Majestätische Hoffnungslosigkeit“ weiterlesen

Ins Leben geworfen

Rolf Lappert: Leben ist ein unregelmaessiges Verb

Ins Leben geworfen: Selten war diese Formulierung passender als für die vier Protagonisten des Romans »Leben ist ein unregelmäßiges Verb« von Rolf Lappert. Frida, Ringo, Leander und Linus wachsen in den Siebzigerjahren in einer Landkommune irgendwo in Norddeutschland auf, abgeschirmt von sämtlichen Eindrücken der Außenwelt. Doch es ist keine Idylle, sondern das Aussteigerprojekt eines Trüppchens Erwachsener, die fernab der Gesellschaft leben möchten und ihren Kindern jeglichen Kontakt nach außen verweigern; sie nicht einmal wissen lassen, wer von ihnen die jeweiligen Eltern sind. Statt Schulbildung gibt es viel Arbeit auf dem Hof, statt dem Aufbau sozialer Kontakte das abgeschottete Kommunenleben. Es ist das Jahr 1980, als die Behörden die Hofgemeinschaft auflösen, den Eltern das Sorgerecht entziehen und die vier Kinder weit voneinander entfernt in Pflegefamilien unterbringen. Damit beginnt der Roman. Und damit beginnen vier Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein können, die aber eines eint: Jeder der vier versucht, seinen Weg ins Leben zu finden. Und jeder dieser Wege besteht aus verschlungenen Pfaden, unvorhergesehenen Abzweigungen und der ein oder anderen Sackgasse. „Ins Leben geworfen“ weiterlesen