Aus einem Münzwurf wird Literatur

Anne von Canal und Heikko Deutschmann: I get a bird

Jeder Roman hat eine Entstehungsgeschichte, doch nur wenige sind so charmant wie die von »I get a Bird«. Denn alles begann mit dem Wurf einer Münze – so erzählen es Anne von Canal und Heikko Deutschmann, die das Buch gemeinsam verfasst haben. Seit vielen Jahren sind die beiden miteinander befreundet und bei einem ihrer Gespräche ging es um die Kunst des Briefeschreibens; eine Kunst, die in unserer Welt im Begriff ist, zu verschwinden. Wie wäre es wohl – so die Überlegung – wenn zwei vollkommen Fremde einen Briefwechsel begännen. Natürlich gibt es etliche Romane zu genau dieser Idee, aber sie stammen stets aus der Feder eines einzigen Autors, einer einzigen Autorin. Doch wie würde es sich entwickeln, wenn es tatsächlich zwei Personen wären, die sich schreiben? Die beiden beschlossen, dies auszuprobieren;  jeder würde eine fremde Identität annehmen und unter diesen Namen begänne ein Briefwechsel. Nicht abgesprochen, spontan und unberechenbar. Nur wer sollte damit anfangen, wer den ersten Brief schreiben?

Es folgte der Münzwurf und Heikko Deutschmann alias Johan Zweipfennig verfasste das erste Schreiben an Anne von Canal, die als Jana Richter auftrat. Damit bestimmte der Zufall die Grundidee des Projekts. Denn Heikko Deutschmann musste sich nun überlegen, warum sein Johan Zweipfennig dazu käme, der ihm unbekannten Jana Richter zu schreiben. Hätte die Münze mit der anderen Seite nach oben gelegen, dann wäre Anne von Canal mit dem ersten Brief am Start gewesen. Und ein ganz anderes Buch läge jetzt vor uns.

Johan Zweipfennig jedenfalls ist ein Busfahrer aus Neumünster, der Jana Richter, die als Zukunftsforscherin in Freiburg lebt, einen Terminkalender zuschickt, den sie vor drei Jahren in einer Telefonzelle am Wendeplatz seines Busses vergessen hat. Warum hat er so lange damit gewartet? Gleich im ersten Brief steht diese Frage im Raum. Und warum wäre es für Jana Richter so unendlich wichtig gewesen, diesen Terminkalender schon viel früher zurückzuerhalten, der ihr bei einem Besuch in Neumünster verloren gegangen war? Das wiederum ist die Frage, zu der wir Leser erste Andeutungen im Antwortbrief erhalten. 

»I get a Bird« – übrigens die Aufschrift des schmuddeligen Leinenbeutels, in dem Johan den gefundenen Terminkalender jahrelang aufbewahrte – ist ein Buch voller Improvisationen. Die beiden Autoren wachsen so hinein in ihre Rollen, dass sich tatsächlich zwei völlig Fremde schreiben und aus den ersten beiden Briefen entwickelt sich ein intensiver Austausch. Vor den Augen der Leser breiten sich zwei Leben aus, die von Verlust und Enttäuschungen schwer getroffen sind. Zwei Menschen, die mit dem Rücken an der Wand stehen, denen das Glück abhandengekommen ist. Und die beide in ihrem Briefwechsel Trost und Hoffnung finden.

Oder wie es Johan ausdrückt: »Ihre Briefe sind das einzige Zeichen dafür, dass ich aus mir selbst heraus lebe. Der einzige Faden, der mich ohne Hintergedanken mit der Welt verbindet.«

Dabei beginnt sich das Erzählte ganz sachte zu verzahnen, bis sie erkennen, dass sie sich eigentlich viel näher sind, als sie es jemals gedacht hätten. Sie, zwei Fremde, tausend Kilometer voneinander entfernt. 

Um mit Jana zu sprechen: »Ich schreibe Ihnen das alles, weil Sie der ›Ort‹ geworden sind, an dem meine Gedanken und meine Geister ein Zuhause gefunden haben.«

Als Leser verfolgt man den Briefwechsel atemlos, die unterschiedlichen Tonalität des Geschriebenen bringt dabei eine zusätzliche Dynamik in die Geschichte. Und so, wie zwei Fremde sich vorsichtig einander zu öffnen beginnen, entwickeln die beiden Autoren mit großer Liebe ihre Protagonisten – zwei Gescheiterte, zwei Versehrte, die aber zwischen all der Tragik etwas Hoffnung finden werden. In und durch ihre Briefe. Ein Gedicht von Tomas Tranströmer wird darin vorkommen, ein Gedankenspiel aus der Sicht einer abwesenden Person, Blicke in seelische Abgründe, familiäre Dramen, Erinnerungen an fatale Fehlentscheidungen, ein psychischer Zusammenbruch und Reisen in die eigene Vergangenheit. Und in die des anderen. Bis nach und nach so viele Puzzlesteine auf dem Tisch liegen, dass sich langsam daraus ein Bild ergibt. Eines, mit dem niemand gerechnet hatte, niemand rechnen konnte. Weder die Leser, noch die Protagonisten, noch die Autoren.  

»Die Suche nach Ordnung, Sinn und Zusammenhang ist eine Einbildung, die uns so wirklich erscheint wie die Wirklichkeit selbst – die doch auch nur eine Einbildung ist. Diese Suche ist eine Sucht. Diese Sucht schwächt uns. Sie bringt uns um, bevor wir sterben.«

Zwei Jahre lang schrieben sich Anne von Canal und Heikko Deutschmann als Jana und Johan. Was als Schreibübung gedacht war, entwickelte ein Eigenleben, auf jeden Brief musste reagiert werden, mit jedem Schreiben spann sich der Faden des Erzählten weiter, begann sich zu verästeln, sich zu einer Geschichte zu verweben. Zu einer Geschichte, die weder geplant noch beabsichtigt war, die aber trotzdem immer komplexer und emotionaler wurde. Und dann, genauso ungeplant, war aus der Idee, die mit einem Münzwurf begonnen hatte, ein Buch entstanden. Die geschriebenen Briefe sind unverändert darin eingegangen, eine dezente Rahmenhandlung sorgt für eine zusätzliche Ebene und verleiht dem Roman einen letzten erzählerischen Feinschliff.

Schon von der sprachlichen Eleganz und der inhaltlichen Ausgestaltung her ist »I get a Bird« ein sehr lesenswerter Roman. Doch die Entstehungsgeschichte dahinter macht dieses Buch zu einem einzigartigen Werk.

Und zu Literatur, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Buchinformation
Anne von Canal und Heikko Deutschmann, I get a bird
mare Verlag
ISBN 978-3-86648-682-9

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