Der Wächter und seine Dämonen

Gerhard Jaeger: All die Nacht ueber uns

Einen Zaun. Einen Wachturm. Einen Mann. Und seine Dämonen. Mehr benötigt Gerhard Jäger nicht, um uns in seinem Roman »All die Nacht über uns« auf eine Reise tief in die Seele eines Menschen zu schicken, dorthin, wo es dunkel ist. So dunkel, wie die Nacht, die diesen Mann umgibt, als er auf dem Wachturm steht, um einen Zaun zu bewachen. Eine einzige, endlose Nacht lang begleiten wir Leser ihn dabei.

Europa in einer nahen Zukunft: Die Flüchtlingskrise hat einen neuen Höhepunkt erreicht, als tausende von Menschen versuchen, dem tödlichen Chaos im zerfallenden Nahen Osten zu entkommen. Die Staaten Mitteleuropas riegeln ihre Grenzen ab, bauen Zäune. In einem nicht näher genannten Land sind die widerwärtigen Phantasien rechtsnationaler Politiker Wirklichkeit geworden: Es wird geschossen, wenn Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun zu überwinden; egal, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelt. Dies ist die Aufgabe des einsamen Soldaten auf dem Wachturm. Auf den Zaun zu achten, in die Nacht hinaus zu starren und im Zweifelsfall das Feuer zu eröffnen.

»Der Soldat«. Mehr erfahren wir nicht über ihn. Kein Name, kein Alter. Er bleibt anonym, nur auf seine Funktion reduziert. Es ist das Ergebnis seines Versuchs, die eigene Individualität auszulöschen, um alles zu vergessen, was ihn genau an diese Stelle gebracht hat, nachts auf einem Wachturm, ein schussbereites Gewehr neben sich. Doch seine Gedanken kann er nicht auslöschen, sie verfolgen ihn, egal, was er tut. Die Nacht ist lang, und nach und nach erfahren wir in mehreren Rückblicken, was geschehen ist. Erste Gedankenbruchstücke deuten die Vorkommnisse an, sie verdichten sich, bis ein Bild vor uns entsteht. Und wir zu verstehen beginnen.

Am Anfang steht der Wunsch, als junger Mensch aus einem vorhersehbaren Leben auszubrechen, »er ist losgezogen, mit diesem Rucksack auf dem Rücken, hat sich beurlauben lassen und ist in die Welt hinaus, anstatt sich um seine Wurzeln in der kleinen Ecke der Heimat zu kümmern und sich dort gemütlich einzurichten, in einem Beruf, in einem Verein und was es sonst noch alles gibt, um die Zeit herumzubringen. Er ist losgezogen mit dem verbitterten Gesicht seines Vaters und den kaum verborgenen Tränen seiner Mutter im Rücken.« Lange war weg und als er zurückkam, hatte er die Liebe seines Lebens gefunden. Damals, in einem anderen Leben.

Jetzt verbringt er die meiste Zeit in der Kaserne, ist nur selten am Wochende im Haus seiner Eltern, in dem auch seine Großmutter lebt. Seine Großmutter, die seit seiner Kindheit Briefe geschrieben hat; an Menschen, die nur noch in ihrer Erinnerung leben. Es ist ihre Art, die Erlebnisse zu verarbeiten, die sie seit 1945 begleiten. Damals, als sie selbst noch ein Kind war und von heute auf morgen ihre Heimat verlassen musste, von heute auf morgen auf der Straße lebend, ständig in Todesgefahr auf dem weiten Weg nach Westen. Diese nie abgeschickten Briefe gibt sie dem Soldaten mit, als er sich für diese Nacht auf den Weg zum Grenzzaun macht.

»Aber was soll ich …?«
»Es soll dich erinnern.«
»Erinnern?«
»… wenn sie kommen!«
Und in diesem Moment sahen sie einander in die Augen, für einen kurzen Augenblick, und doch schien es ihm wie eine Ewigkeit. Der Satz »… wenn sie kommen!« dröhnte in seinem Kopf.
»Erinnern«, sagte sie und ihre Stimme war heiser, »nicht jeder hat das Glück, dass ihm die Heimat bleibt.«

Die Nacht zieht sich hin. Um sich abzulenken, beginnt der Soldat im Schein einer abgeblendeten Taschenlampe in den Aufzeichnungen seiner Großmutter zu lesen. Es sind Geschichten voller Schrecken, Leere und Verzweiflung. Geschichten von der Flucht und dem bloßen Überleben. Es sind die realen Erinnerungen der Künstlerin Dietlinde Bonnlander, die Gerhard Jäger in seinem Roman verarbeitet hat, eine Tatsache, die mich beim Lesen des Buches besonders bewegte. Denn meine eigene Großmutter, mein Vater und dessen Brüder könnten Ähnliches erzählen, würden sie noch leben.

Und jetzt, Jahrzehnte später, sind andere Menschen, andere Familien auf der Flucht. Und der Soldat hat den Auftrag, auf sie zu schießen.

»… wenn sie kommen.« 

Es ist zu viel für den Soldaten. Da ist die Nacht mit ihren Geräuschen, da ist die Geschichte der Flucht seiner Großmutter, deren Tragik ihm erst jetzt klar wird. Und da sind die Dämonen seiner Vergangenheit, die ihn verzweifeln lassen. Ist er wirklich bereit, auf Flüchtlinge, auf verzweifelte Männer, Frauen und Kinder zu schießen? Und damit sein Menschsein endgültig aufzugeben? Doch gleichzeitig gibt es keinen Ort des Entkommens, nicht im realen Leben, in dem er den Wachturm nicht verlassen darf, nicht in seinen Gedanken, denn die Zeit dehnt sich endlos, die Nacht nimmt kein Ende und seine Dämonen krallen sich tief in sein Inneres.

»Der Turm ist zu eng, zu klein, um all das aufzunehmen, die Gedanken, Erinnerungen, dieses Leben, diese Welt.«

Der Autor verknüpft drei Fluchterzählungen: Diejenige unserer Zeit, den Bericht der Großmutter und die Flucht des Soldaten vor sich und seiner Schuld. Gerhard Jäger gelingt dies souverän und überzeugend, niemals rutscht diese Verknüpfung ins Plakative. Geschaffen hat er einen mitreißenden Roman, der die großen Dramen unserer Welt mit einer persönlichen Tragödie verbindet. Mit einem einsamen Menschen im Mittelpunkt, der langsam in den Wahn abgleitet und droht, endgültig an seinen Erinnerungen zu zerbrechen.

Gerhard Jäger ist nur wenige Monate nach Veröffentlichung dieses Buches im Alter von nur 52 Jahren gestorben. Sein eigenes Leben war von Tragik überschattet; nach einem Unfall querschnittsgelähmt schrieb er seinen Debütroman »Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod« mit Hilfe eines Sprachcomputers. Einen Roman, der für mich zu den besten Büchern des letzten Jahrzehnts zählt.

Buchinformation
Gerhard Jäger, All die Nacht über uns
Picus Verlag
ISBN 978-3-7117-2064-1

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3 Antworten auf „Der Wächter und seine Dämonen“

  1. Hallo Uwe,
    ich habe im vorletzten Winter „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ von Gerhard Jäger gelesen und war ebenfalls restlos begeistert von diesem Roman, dessen Sprache grandios ist und der nicht als klassischer Krimi daherkommt. Das Tatmotiv ist durchaus kompliziert aber großartig herausgearbeitet. Dann habe ich von Gerhard Jägers Tod gelesen und mir gedacht: Wie schade, dieser Autor hätte bestimmt noch viele große Romane geschrieben. Von „All die Nacht über uns“ habe ich noch nichts gehört. Deine Rezension klingt sehr vielversprechend. Ich werde den Roman auf meinen Wunschzettel aufnehmen. Vielen Dank für den Tipp!!!

  2. Ich habe gerade „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ gelesen- per Zufall entdeckt- und es hat mich sehr begeistert und berührt. Ich kannte den Autor gar nicht.

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