Lesend durch die Cafés der Stadt

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Manchmal, nicht sehr oft, gönne ich mir etwas Auszeit und ziehe einen Tag lang von Café zu Café. Mit einem Buch als Begleiter. Einen Tag lang lesen, schauen, sitzen, schlendern, lesen, schauen, lesen, lesen – es sind intensive Lektüreerlebnisse. Bei der letzten Kaffeehaustour, wie ich diese Tage hier im Blog nenne, war ich in Berlin unterwegs. Und mit dabei hatte ich das Buch »Die einsame Stadt« von Olivia Laing. »Vom Abenteuer des Alleinseins« lautet der Untertitel; perfekt passend für einen Leser alleine im Café, dachte ich. Und wurde nicht enttäuscht. Olivia Laing schickte mich auf eine inspirierende Reise durch die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Und durch die Straßen New Yorks, gleichzeitig schillernde Kulisse und Hauptprotagonistin des Buches.

Olivia Laing: Die einsame Stadt.

Den Beginn las ich im »Spreegold«, einem schmucklosen, funktionalen Café-Restaurant in der Rosa-Luxemburg-Straße, das darauf ausgerichtet ist, die zahlreichen Touristen aus aller Welt zu versorgen, die durch Berlin-Mitte ziehen. Es regnete, der Blick aus dem Fenster war auf eine urbane Weise trostlos schön. Olivia Laing schreibt: 

»Stellen Sie sich vor, Sie stehen abends am Fenster, in der sechsten, siebzehnten oder dreiundvierzigsten Etage eines Hauses. Die Stadt entpuppt sich als eine Anhäufung von Zellen, hunderttausend Fenster, einige verdunkelt, andere geflutet von grünem, weißem oder goldenem Licht. Hinter dem Glas schwimmen Fremde hin und her, gehen Privatbeschäftigungen nach. Sie sind deutlich zu sehen und sind doch unerreichbar, und so verursacht dieses ganz alltägliche urbane Phänomen, das sich jeden Abend in jeder Stadt der Welt erleben lässt, selbst den geselligsten unter den Menschen einen Schauder der Einsamkeit, jener unguten Mischung aus Vereinzelung und Ausgesetztheit.«

Und weiter: »Einsam sein kann man überall, doch die Art von Einsamkeit, die dem Leben der Stadt entspringt, inmitten von Millionen, ist eine Sache für sich.«

Ein starker Buchbeginn und Olivia Laing weiß, worüber sie redet. Sie war der Liebe wegen von England nach New York gezogen – und merkte nach kürzester Zeit, dass jene Liebe nicht mehr existierte, als sie dort ankam. Dann saß sie dort fest, pleite, entwurzelt. Und allein. Oder vielmehr einsam, der Unterschied zwischen diesen beiden Worten kann entscheidend sein. Denn wenn ich alleine einen Tag durch Cafés ziehe, dann kann ich dies vor allem deshalb genießen, weil ich dieses Alleinsein selbst gewählt habe. Hätte ich diese Wahl nicht, dann würde ich nicht alleine in Cafés sitzen, sondern einsam. Vor vielen Jahren habe ich mich bei einem knapp einwöchigen Kafka-Leseexperiment in Prag absolut verlassen gefühlt, aber das ist eine andere Geschichte. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich bereits bei der nächsten Station angekommen war, dem Café Bilderbuch in Berlin-Schöneberg. Ein Ort zum Wohlfühlen, zum Verweilen, zum Menschen beobachten und – natürlich – zum Lesen. 

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Olivia Laing beschreibt, wie erdrückend und deprimierend ihre Einsamkeit inmitten der pulsierenden Stadt war. Wie oft sie sich ausgeschlossen, fehl am Platz, an den Rand gedrängt fühlte. Wie ihre kaum vorhandenen sozialen Kontakte immer weniger wurden, sie sich immer mehr in sich selbst zurückzuziehen begann. Ihre Wohnungen zur Zwischenmiete immer schäbiger wurden. Und wie sie physische Veränderungen an sich beobachtete, ausgelöst durch das permanente Alleinsein.

»Ich wollte überall sein, nur nicht da, wo ich war. Was nicht zuletzt daran lag, dass ich im Grunde nirgends war. Mein Leben schien leer und irreal, und ich schämte mich seiner Armseligkeit, so wie man sich schämt, wenn man ein fleckiges oder zerschlissenes Kleidungsstück trägt.«

Berlin-Schoeneberg: Cafe Bilderbuch

Die Personen in Edward Hoppers Bildern

Sie beginnt, sich in den Personen in den Bildern von Edward Hopper wiederzuerkennen, der es wie kaum ein anderer Maler geschafft hat, das Gefühl der Einsamkeit auf der Leinwand festzuhalten. Laing nennt ein Beispiel nach dem anderen, beschreibt die melancholische Tristesse der Bilder »Automat«, »Morning Sun«, »Hotel Window« oder »New York Movie« – so gelungen, dass ich gar nicht anders konnte, als mir die Bilder direkt auf dem Smartphone anzuschauen.

Und sie schreibt über ihren Besuch einer Hopper-Ausstellung im New Yorker Whitney Museum, um dort die Ikone der Bild gewordenen Einsamkeit zu besichtigen: »Nighthawks«, ein Gemälde, das in der westlichen Welt wohl fast jedem Menschen bekannt sein dürfte. Doch die Erfahrung, es einmal in natura zu sehen, muss phänomenal sein – zumindest wäre ich nach der mehrere Seiten langen Schilderung am liebsten sofort in ein Flugzeug gestiegen, um selbst einmal vor der fast greifbaren Traurigkeit zu stehen, die dieses großartige Bild ausstrahlt. 

Laing beginnt, sich mit Edward Hoppers Leben zu beschäftigen, auch mit seinen düsteren Seiten, mit seinem Schaffen, seiner Art zu malen, taucht tief ein in seine Kunst, versucht herauszufinden, warum das Thema Einsamkeit sein gesamtes Werk prägt. In seinen unzähligen Wiederholungen findet sie etwas Tröstliches: »Obwohl sie ein Gefühl völliger Isolation mit sich bringt, eine persönliche Last, die einem niemand abnehmen und die man mit niemandem teilen kann, ist Einsamkeit in Wahrheit ein gemeinschaftlicher Zustand, in dem sich viele Menschen befinden.«

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Das Buchprojekt

Und sie beschließt, sich mit weiteren Künstlern auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben; Künstlern, deren Werke geprägt sind vom Gefühl des Alleinseins, der Ausgrenzung, des Nichtdazugehörens, einer unüberwindbaren Mauer der Einsamkeit. Es ist ein Projekt, das ihr einen Weg aus ihrer Antriebslosigkeit aufzeigen wird, die das Alleinsein ausgelöst hat. Ein Projekt, an dessen Ende das vorliegende Buch steht. Und so bin ich in den kommenden Kapiteln Andy Warhol, David Wojnarowicz, Klaus Nomi und Henry Darger begegnet. Aber da war ich schon weitergezogen nach Berlin-Steglitz ins Café Baier, einem Ort, an dem man noch den Charme des alten West-Berlins erahnen kann, weit weg von den Touristenmassen in Mitte.  

Die Recherche zu diesem Buch hat Olivia Laing durch Museen, Archive und Bibliotheken geführt, kreuz und quer durch New York. Sie beschreibt die Technikfixiertheit Andy Warhols, die er nutzte, um andere Menschen auf Abstand zu halten – obwohl es ihm für sein Schaffen eine Notwendigkeit war, sich mit ihnen zu umgeben; mit Bekannten und Fremden, sein Studio war immer offen. Doch trotz seiner Popularität war Warhol, einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, zutiefst einsam. Laing beschreibt, wie dies sein Schaffen – und seine Auftritte – prägte.

Berlin-Steglitz: Cafe Baier

Sie beschreibt das kurze, aber heftige und intensive Leben von David Wojnarowicz, dessen Aufwachsen geprägt war von sexueller Ausbeutung, Gewalterfahrungen und permanenten Ausgrenzungserlebnissen aufgrund seiner Homosexualität – das Kapitel über ihn ist ein Blick in einen tiefen Abgrund voller Trostlosigkeit. Seiner Kunst hatte er es zu verdanken, dass ihn dieser Abgrund nicht völlig verschlang. Zugleich beschreibt Laing auf eine sehr beeindruckende Weise die subkulturelle Szene im New York der Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahre, deren Hotspot das East Village und die heruntergekommene Hafengegend der Chelsea Piers war. Mit Wojnarowicz als einem der wichtigsten Künstler und Aktivisten jener kurzen Zeit. 1992 starb er an AIDS, er wurde 37 Jahre alt.

Sie beschreibt das Leben von Klaus Nomi, dessen einzigartiger Stil ihn zu einem Ausnahmemusiker in der New-Wave-Szene der Achtziger machte. Wobei die Genrezuordnung ihm nicht gerecht wird, er war unvergleichbar. Es muss 1987 oder 1988 gewesen sein, als mir eine Brieffreundin aus Österreich eine Kassette mit zweien seiner Alben schickte (viele Grüße, liebe Moni, falls Du das durch irgendeinen Zufall lesen solltest – wo immer Du sein magst). Ich wusste damals nicht, dass er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte, er starb 1983 ebenfalls an AIDS und war eines der ersten prominenten Opfer dieser damals neuartigen Krankheit, die sich rasend schnell auszubreiten begann. Ich muss gestehen, dass ich mit seiner Musik nicht viel anfangen konnte, als ich mir die Kassette anhörte – doch als ich in diesem Buch nach so vielen Jahren wieder auf seinen Namen stieß und über die Hintergründe seines Schaffens, seiner Auftritte als Kunstfigur im Kontext seiner Lebenserfahrungen las – das war ein besonderer Moment. 

Berlin-Steglitz: Erker im Cafe Baier

Inzwischen war ich im nächsten Café angekommen, in der Buchkantine in Berlin-Moabit. Und bei Henry Darger, einem Menschen, der so einsam war, dass man es sich kaum vorstellen kann. Der jahrzehntelang als Hausmeister an einer Schule in Chicago arbeitete, jahrzehntelang in der gleichen, kleinen Wohnung lebte, keinerlei sozialen Kontakte hatte und durch die permanente Erfahrung gnadenlosen Alleinseins in eine Phantasiewelt abdriftete. Und – ohne dass jemals ein Mensch von seinem Talent erfahren hatte – nicht nur unzählige Bilder und Zeichnungen hinterließ, sondern ein 15.145 Seiten umfassendes Romanfragment – das längste Prosawerk der Welt. Texte und Bilder geben Einblick in die Gedanken eines vollkommen isolierten Menschen, der inmitten einer Millionenstadt in seiner eigenen – sehr dunklen – Welt lebte. 

Berlin-Steglitz: Zeitungen im Cafe Baier

Dieser grobe Überblick über den Inhalt des Buches berücksichtigt nicht die unzähligen Verästelungen und wunderbaren Abschweifungen, die Olivia Laing – ausgehend von den vier genannten Künstlern – in ihren Text eingebaut hat. Dazu beschreibt sie immer wieder die eigenen Erfahrungen mit ihrer Einsamkeit, streut wissenschaftliche Zitate über die Erforschung des Alleinseins und dessen Folgen für die Betroffenen ein, aber schreibt auch über das pulsierende Leben New Yorks und ihre Arbeit an dem Buch. Entstanden ist ein nachdenkliches, ein intensives, ein hochinformatives, ein erschreckendes, ein tröstliches, ein sehr persönliches, kurz: ein rundum gelungenes Werk.

Ausklang

Mein Tag in Berlin war aber noch nicht zu Ende, er ging direkt über in die lange Nacht der Museen. Ich ließ mich durch die Straßen treiben, saß später mit einem Bier irgendwo auf der Museumsinsel und beobachtete die zahllosen flanierenden Menschen. Und dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass nicht wenige alleine unterwegs waren. So wie ich an diesem Abend. 

Olivia Laing: Die einsame Stadt

Buchinformation
Olivia Laing, Die einsame Stadt – Vom Abenteuer des Alleinseins
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
btb Verlag
ISBN 978-3-442-76232-3

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3 Antworten auf „Lesend durch die Cafés der Stadt“

  1. Die Beschreibung des Buches und des Autors macht mich neugierig, es selbst zu lesen. Es scheint eine eindringliche und nachdenkliche Lektüre zu sein, die uns dazu anregt, die Beziehungen zwischen Stadt, Einsamkeit und Kreativität zu hinterfragen.
    Vielen Dank für diesen inspirierenden Beitrag.
    LG,
    Anika

  2. Danke für diesen schönen Artikel! Er hat mir sehr gut gefallen. Ich werde das Café Bilderbuch mit ganz anderen Augen betrachten, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme (ich wohne nicht weit entfernt davon) und mich vielleicht auch einmal wieder hineinsetzen (und womöglich mit einer alten Geschichte Frieden schließen, deretwegen ich das Café seit dreizehn Jahren nicht mehr betreten wollte).
    Viele Grüße aus Schöneberg!
    Matthias

    1. Dreizehn Jahre sind eine lange Zeit … Ich war zum ersten Mal dort, obwohl ich früher sehr oft in der Gegend unterwegs gewesen war. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
      Herzliche Grüße
      Uwe

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