Das Ende des Davonlaufens

Salih Jamal: Das perfekte Grau

Wenn ich ein Buch aufschlage, dann schaue ich instinktiv, ob auch ein Bleistift in Reichweite liegt, mit dem ich die Stellen, die den Text für mich besonders machen, markieren kann. Beim Roman »Das perfekte Grau« von Salih Jamal allerdings hatte ich den Bleistift fast von Beginn an in der Hand und habe ihn über weite Strecken des Buches nicht mehr losgelassen. Gleich auf den ersten Seiten stieß ich auf eine Stelle, die mich schon innehalten ließ, bevor die Geschichte richtig gestartet war.

»Heute weiß ich es besser: Du kannst noch so starr nach vorne blicken, dich noch so verbissen der Erinnerung verweigern und noch so schnell laufen – irgendwann schaust du dich um, blickst zurück und stellst fest, dass der ganze Weg, den du gegangen bist, dich nur einen Steinwurf weit von deiner Herkunft fortgeführt hat. Man kann seine Heimat verlassen, aber es gibt keine Gegenwart ohne Herkunft. Niemals und nirgends.«

Bäm. Drei Sätze, die etwas zusammenfassen, über das ich mir schon mein halbes Leben lang Gedanken mache. Und die ein zentraler Punkt der Handlung sind, denn darum geht es in »Das perfekte Grau«: Um das Davonlaufen, aber auch um das Wissen, dass man nur irgendwo ankommen wird, wenn man sich seinen Dämonen, seiner Furcht oder der Wut auf sich selbst stellt. Dies ist die Erkenntnis von Dante, dem Ich-Erzähler der Geschichte. Eigentlich heißt er Ante, die kroatische Kurzform von Anton, wird aber sein Leben lang Dante genannt, »wie der mit dem Inferno.« Dante ist gestrandet; in einem maroden Hotel irgendwo in einem verschlafenen Kaff an der Ostsee jobbt er vor sich hin, ist hier hängengeblieben auf der Flucht vor sich selbst. 

»Ich hatte nicht viel. Etwas Kleidung, ein paar Bücher. Sie waren der beste Ort für mich, die Poesie entband mich vom Gewicht der Welt.«

Das war die zweite Stelle des Buches, die mir unter die Haut ging. Denn sie beschreibt ziemlich genau meinen Start ins Erwachsenenleben. Bei mir ist damals noch eine alte Matratze dazugekommen, die mir die Mitbewohnerin meiner ersten WG geschenkt hatte, außerdem noch eine Musikanlage mitsamt einem Karton CDs und einer alten Weinkiste voller Schallplatten. Dazu der unbändige Wunsch, die Kleinstadt des Aufwachsens hinter sich zu lassen, um ein intensives Leben zu führen; eigentlich kein konkreter Wunsch, sondern ein schwer zu beschreibendes Gefühl, das dazu führte, jahrelang vollkommen planlos durch die Zufälle zu stolpern und nicht zu wissen, wohin mit mir. Und meine literarischen Helden jener Zeit fand ich in den Büchern von Philippe Djian, besonders natürlich in »Betty Blue«, der Roman, der die Türen aufgestoßen hat in eine Welt der Entwurzelten, der mit sich selbst Hadernden, der unglücklichen Träumer, die beides stärker werden lässt: Das Unglück und die Träume. »Wie willst du dieses Leben durchstehen, ohne nicht mindestens einmal an was zerbrochen zu sein?« – das ist ein typischer Djian-Satz, immer auf dem schmalen Grat zwischen Attitüde und Empfindsamkeit. Ich habe diese Sätze geliebt. 

Und jetzt, viele Jahre später, knüpft Salih Jamals Buch an diese Zeit an, weckt Erinnerungen, transportiert mich als Leser aber gleichzeitig ins Hier und Jetzt. Denn auch wenn viele Stellen klingen wie eine Hommage an Djian, gelingt es dem Autor souverän, daraus einen ganz eigenen, schwermütig-poetischen Stil zu entwickeln. Gerne auch mit einem Augenzwinkern, denn sein Protagonist liest tatsächlich gerade »Betty Blue«, ohne dass der Titel je genannt wird, »ein Roman eines Franzosen, der beinahe wie eine Senfmarke im Supermarkt hieß.« Ich schaffe es selten, ein Buch zu lesen, ohne den Versuch zu unternehmen, es in Bezug auf eigene Erlebnisse zu setzen – weshalb ich auch nie Literaturkritiker sein könnte. Aber das Eintauchen in diesen Roman fühlte sich auf eine wunderbare Weise besonders vertraut an. 

In jenem maroden Hotel ist nicht nur Dante gestrandet. Er begegnet dort drei Schicksalsgenossen, die das Schicksal oder der Zufall oder was auch immer auf der Suche nach einem einfachen Job zusammentreffen lässt. Auch die anderen laufen vor etwas weg: Mimi, die eigentlich nicht so heißt, ist seit Jahren auf der Flucht vor dem Gesetz. Novelle – »ich hab mir den Scheißnamen nicht ausgesucht, ihr Wichser« – ist auf der Flucht vor ihren Dämonen, vor ihrer zerstörten Jugend, vor der Leere in ihrem Kopf. Und Rofu hat es unter Lebensgefahr auf verschlungenen Wegen vom Sudan nach Europa geschafft. Aber auch er hat ein Geheimnis, das er erst viel später preisgibt. 

Nach einem Zwischenfall, der für die vier ernsthafte Konsequenzen haben würde, halten sie es für besser, zu verschwinden. Gemeinsam. Sich wieder einmal auf den Weg zu machen, mit einem gestohlenen Boot, mit gestohlenen Fahrrädern oder einfach zu Fuß sich durch Mecklenburg in Richtung Süden zu schlagen. Schön überspitzte »Tschick«-Momente wechseln sich ab mit pointierten Dialogen, mit Gesprächen, durch die sich die vier so unterschiedlichen Menschen näherkommen. Und durch die eine Gemeinschaft entsteht.

Sehr gelungen beschreibt Salih Jamal, wie langsam das Vertrauen zwischen den vier Einzelgängern wächst, wie sie nach und nach die Masken fallen lassen und ebenso ihre Panzer, mit denen sie sich gegen das Leben abschotten. Sie erzählen sich ihre Geschichten, lassen die anderen in ihre Abgründe blicken. Und die sind sehr tief. Und sehr dunkel. Dante wird dabei eines klar: Es gibt zwei Arten von Fliehenden. Da sind diejenigen, die nicht anders können, für die ihre Flucht überlebenswichtig ist. Die anderen hatten eine Wahl. Wie er selbst, der aus Feigheit, das Falsche zu tun, viele Jahre lang gar nichts tat. Sich von den Menschen zurückzog und sich in seinem Selbstmitleid wälzte.

»Es ist nicht die Physik, die die Erde dreht. Es sind die Träume, die alles bewegen und uns zum Leben drängen. Und dennoch bringen dich manche Träume um. Meist sind es die, denen du nachjagst oder die dich verfolgen. Ich wollte keinen neuen Traum, der mich ins Ungewisse führen würde. Ich wollte mir Zeit nehmen, bis sich etwas Richtiges ergab. Zu oft zündeln Träume in der Hitze eines einzigen Moments, schwelen unbemerkt und heimlich und entfachen neues Feuer, bis man an ihnen zu Asche verbrannt ist.«

Doch nun brennt es wieder, das Feuer in Dantes Leben und das Richtige, auf das er wartete, hat nicht gefragt, ob er soweit sei. Es entsteht ein vager Plan, eine Idee, die zum Ziel des Trips werden könnte, aber natürlich kommt nach vielen Umwegen alles vollkommen anders. Aber alle vier werden am Ende der Reise nicht mehr dieselben sein. Und Dante muss eine Entscheidung treffen, mit der er ein Leben retten kann, aber nach der es für ihn kein Zurück mehr geben wird. 

»Manchmal findet sich die Heimat nicht an einem Ort, sondern in Menschen.«

»Das perfekte Grau« ist ein Roman über das Alleinsein und über die Freundschaft, über das Ende des Weglaufens und die Verantwortung, die man für andere zu übernehmen bereit ist. Mit einem grandiosen, aber auch harten Schluss, über den ich noch lange nachgedacht habe. Und es ist ein Buch, das immer wieder Bilder im Kopf entstehen lässt, die mir Erinnerungen an meine Djian-Dekade zurückgebracht haben, an eine Zeit der Rastlosigkeit, die anstrengend war, die lange zurückliegt, aber die mir bis heute sehr kostbar ist. Danke dafür, lieber Salih Jamal. 

Buchinformation
Salih Jamal, Das perfekte Grau
Septime Verlag
ISBN 978-3-99120-001-7

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