Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss: In dem Roman »West« von Carys Davies packt der Witwer Cy Bellman im Jahr 1815 seine Sachen und zieht los, in Richtung Westen, in Richtung Prärie. Er lässt sein Leben hinter sich, das er sich als Einwanderer in den damals noch jungen Vereinigten Staaten aufgebaut hatte. Zurück bleibt seine zwölfjährige Tochter Bess, die nun bei ihrer ungeliebten und hartherzigen Tante leben soll.
Wer ist Cy Bellman? Und was treibt ihn an? Er ist schnell beschrieben, mit wenigen Worten skizziert ihn die Autorin: »John Cyrus Bellman war ein hochgewachsener, breitschultriger, rothaariger Mann von fünfunddreißig Jahren. Er hatte große Hände und Füße, einen dichten rotbraunen Vollbart, und er verdiente sein Geld mit der Maultierzucht. Er war einigermaßen gebildet.«
In den Zeitungen, die er ab und an zu Gesicht bekam, standen Nachrichten, die ihn regelrecht elektrisierten. Große, nein, riesige Knochen von bisher unbekannten Lebewesen waren gefunden worden. Und je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass es auch noch lebende Exemplare dieser Tiere geben müsse. Weit im Westen, tief im Indianerland, dort, wo bisher kaum ein weißer Trapper gewesen war. Immer mehr steigerte er sich in die Idee hinein, diese geheimnisvollen Wesen als erster zu entdecken. So sehr, dass er tatsächlich eines Tages aufbricht, seine Tochter zurücklässt und sich sicher ist, dass der Ruhm des Naturforschers auf ihn warten würde.
»Er konnte seine prickelnde Ahnung, dass die riesigen Wesen für ihn und sein Leben irgendwie von Bedeutung wären, nicht in Worte fassen; da war nur noch dieses Kribbeln, das an Übelkeit grenzte, und die Gewissheit, dass er nicht bleiben konnte, wo er jetzt war.«
Selten ist dieser ohnehin absurde Ein-Mann-muss-tun-was-ein-Mann-tun-muss-Gedanke ironischer dargestellt worden wie in diesem Buch. Getrieben von seiner fixen Idee reitet Cy Bellman immer weiter gen Westen, tagelang, wochenlang, monatelang, nicht nur einen Winter wird er in der eisigen Prärie verbringen. Er wird an seine Grenzen kommen und noch weit darüber hinaus, körperlich wie psychisch. Andere Menschen werden ihm begegnen, wenige nur; das Wissen oder manchmal auch nur die Ahnung, ob es sich um Freund oder Feind handelt, ist dort draußen überlebenswichtig.
Und nach und nach wird er in der Endlosigkeit der Landschaft verloren gehen. Die Frage, ob er irgendwann den Punkt erreicht, an dem es keine Wiederkehr mehr geben kann, stellt sich von Seite zu Seite drängender. Denn eigentlich müsste er nur umdrehen und Meile um Meile zurückreiten. Falls er das noch weiß.
»Überhaupt, war es vielleicht ein Fehler gewesen, nach Amerika zu kommen? Hätte er in England bleiben sollen, in den engen Gassen und auf den Hügeln seiner Jugend, die ihm inzwischen wie Miniaturen vorkamen, alles klein und dunkel und beengt und er mit dem Gefühl, er müsste platzen, wenn er nicht entkam? Damals schon ein Hauch von diesem Kribbeln, vom Schwindel; eine Sehnsucht nach dem, was er noch nie gesehen hatte und nicht kannte.«
Cy Bellman mag wahnhaft wirken, doch bei aller Ironie macht sich Carys Davies nicht über ihn lustig. Dieser eben zitierte Satz, »eine Sehnsucht nach dem, was er noch nie gesehen hatte und nicht kannte« beschreibt ein zutiefst menschliches Gefühl, das wohl jedem vertraut ist, der sich nicht mit dem eigenen kleinen Horizont begnügen mag.
Parallel dazu erzählt die Autorin die Geschichte von Bess, die nie eine Nachricht von ihrem weggerittenen Vater erhält, die hart arbeiten muss und in einem vollkommen freudlosen Leben zurückgelassen wurde. Ein Leben in einer trostlosen Kleinstadt irgendwo in Pennsylvania, mit gelegentlichen heimlichen Besuchen der bescheidenen Bibliothek als einziger Abwechslung. Und ein Leben, das für sie gefährlich zu werden beginnt, als der lüsterne Nachbar bemerkt, dass aus dem Mädchen eine junge Frau wird.
Viel mehr darf ich nicht verraten; die beiden Handlungsstränge laufen auf den gerade mal 204 Seiten nebeneinander her, das langsame Verschwinden des Vaters und das Erwachsenwerden der Tochter geschehen gleichzeitig. Es taucht noch ein weiterer Protagonist auf, ein junger Indianer. Er wird zum Bindeglied zwischen den beiden, auch wenn sie das nie erfahren sollen. Und vor allem ist er zum Schluss in exakt dem richtigen Moment an der richtigen Stelle – das Ende des Buches hat etwas Märchenhaftes, auf eine ganz und gar wunderbar komponierte Weise.
In den vergangenen Jahren haben Autoren wie Cormac McCarthy mit »Die Abendröte im Westen«, Pete Dexter mit »Deadwood« oder James Carlos Blake mit »Das Böse im Blut« Maßstäbe im Genre des Noir-Western gesetzt. Bruce Holbert es es geschafft, dieses Genre mit »Einsame Tiere« in das 20. Jahrhundert zu führen. Es sind allesamt grandiose Werke, die einen tiefen Ernst ausstrahlen, hart, brutal und gnadenlos.
Carys Davies ist mit »West« etwas Besonders gelungen. Sie knüpft an diese Werke nahtlos an und verbindet die Handlung mit subtilem Humor und feiner Ironie, dezent eingestreut, doch stets durchscheinend. Damit bricht sie souverän die manchmal übertrieben ernsthafte Männerwelt dieses Genres auf und hievt ihren Noir-Western auf eine neue erzählerische Ebene, leichtfüßig und elegant.
Und genauso gnadenlos.
Buchinformation
Carys Davies, West
Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné
Luchterhand Literaturverlag
ISBN 978-3-630-87606-1
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Eine sehr lesenswerte Buchbesprechung gibt es in Ninas Buchblog.
Hallo Uwe,
eine großartige Besprechung! Eigentlich interessierte mich dieses Genre bislang nicht sonderlich. Nachdem ich im Sommer aber auf Empfehlung meiner Buchhändlerin „Tage ohne Ende“ von Sebastian Barry gelesen habe und restlos begeistert war, bin ich schon sehr gespannt auf „West“. Ich habe es noch auf meinen schon recht vollen Bücher-Wunschzettel gequetscht und hoffe jetzt auf ein großzügiges Christkind.
Hallo Petra,
Dein Lob freut mich sehr und ich bin schon gespannt, wie Dir das Buch gefallen wird. Das Genre der Noir-Western – oder wie auch immer man sie nennen mag – fasziniert und begeistert mich schon lange. Dieser Roman war aber noch einmal etwas ganz Besonderes.
Kommt auf meine Weihnachtswunschliste. Der Western als Genre bietet einfach die Möglichkeit, die großen Themen wie Gerechtigkeit, Leidenschaft, Rebellion, usw. umzusetzen. Wenn das mit feiner Ironie gepaart ist, dann muss das Buch her. Danke für den Tipp!
Großartiger Artikel, großartiges Buch!
Das Kompliment gebe ich gerne zurück.