Ins Leben geworfen: Selten war diese Formulierung passender als für die vier Protagonisten des Romans »Leben ist ein unregelmäßiges Verb« von Rolf Lappert. Frida, Ringo, Leander und Linus wachsen in den Siebzigerjahren in einer Landkommune irgendwo in Norddeutschland auf, abgeschirmt von sämtlichen Eindrücken der Außenwelt. Doch es ist keine Idylle, sondern das Aussteigerprojekt eines Trüppchens Erwachsener, die fernab der Gesellschaft leben möchten und ihren Kindern jeglichen Kontakt nach außen verweigern; sie nicht einmal wissen lassen, wer von ihnen die jeweiligen Eltern sind. Statt Schulbildung gibt es viel Arbeit auf dem Hof, statt dem Aufbau sozialer Kontakte das abgeschottete Kommunenleben. Es ist das Jahr 1980, als die Behörden die Hofgemeinschaft auflösen, den Eltern das Sorgerecht entziehen und die vier Kinder weit voneinander entfernt in Pflegefamilien unterbringen. Damit beginnt der Roman. Und damit beginnen vier Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein können, die aber eines eint: Jeder der vier versucht, seinen Weg ins Leben zu finden. Und jeder dieser Wege besteht aus verschlungenen Pfaden, unvorhergesehenen Abzweigungen und der ein oder anderen Sackgasse.
Und für jeden der vier ist die Konfrontation mit der Realität, mit der Gesellschaft und all ihren Erwartungshaltungen ein Schock. Dazu kommt, dass ihr Schicksal als »Kommunenkinder« von der Boulevardpresse gehörig ausgeschlachtet wird. Für ihre neuen Mitschüler oder Nachbarn sind sie Freaks, beäugt mit einer Mischung aus Neugier, Mitleid und Herablassung.
»Nirgendwo stand, was genau das Leben, das sie zwölf Jahre geführt hatten, falsch machen sollte. … Keiner machte sich die Mühe, in Erwägung zu ziehen, dass es den Kindern auf dem Land gut gegangen war, dass sie sich in der begrenzten Welt der Kommune wohlgefühlt hatten, dass sie auf ihre ganz eigene, ahnungslose Weise glücklich gewesen waren. Niemand schenkte der erregenden Angst während eines tobenden Sommergewitters Beachtung, dem Stolz über die Verdienste beim Kampf gegen die Mäuse. Mit keinem Wort wurde das Belauschen der Grillen erwähnt, das Debattieren über die Notwendigkeit der Sterne, die Entschlüsselung der Sprache der Krähen, das Vorausahnen des Schneefalls, die Entzifferung der Wolken. Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.«
Dieses Zitat ist eine Schlüsselstelle des Buches, denn der Roman beschäftigt sich mit einem klassischen Thema der Literatur und fügt ihm neue Facetten hinzu: Es ist das Motiv des unwissenden Toren, der aus einer Isolation kommend auf eine Gesellschaft trifft, die nicht auf ihn vorbereitet ist. Und er nicht auf sie. Die Spannungen, die sich daraus ergeben, werfen ein Schlaglicht auf die vielen Unstimmigkeiten, Ungerechtigkeiten, überholten Konventionen und überflüssigen Gepflogenheiten, von denen wir tagtäglich umgeben sind, ohne es zu merken. Oder ohne sie ändern zu können oder zu wollen – das reicht von unserem starren Schulsystem mit all dem formalisierten Wissen bis hin zum zwischenmenschlichen Verhalten mit seinen ungeschriebenen Regeln. Dies alles lässt den angeblich Unwissenden verzweifeln und vermittelt ihm ununterbrochen das Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. In diesem Buch geschieht dies gleich vier Mal.
Rolf Lappert – dessen Roman »Über den Winter« mich vor einigen Jahren sehr begeistert und beeindruckt hat – lässt die piefige Welt der alten Bundesrepublik in den Achtzigerjahren wieder auferstehen – mitsamt den Lücken und Rissen, die sich darin auftun. Und die den vieren vielleicht Möglichkeiten bieten, ihren Weg zu gehen. Wir begleiten sie dabei bis weit hinein in ihr Erwachsenwerden, bis sie um die fünfzig Jahre alt sind.
Der Autor nimmt sich viel Zeit, davon zu erzählen und wählt unterschiedliche Herangehensweisen. Jedes Kapitel ist mit dem jeweiligen Namen benannt und abwechselnd treffen wir Leander, Ringo, Frida und Linus und erleben mit, wie die Jahre vergehen. Ringo berichtet rückblickend als Ich-Erzähler – er wird als Erwachsener von einer Journalistin interviewt und lässt uns an den wenigen Höhen und vielen Tiefen seines Lebens teilhaben, die immer dunkler zu werden scheinen: »Ich habe keine Ahnung, wann mir das Interesse an meinem Wohlergehen abhanden gekommen ist, wo auf meinem Weg ich die falsche Abzweigung genommen und beschlossen habe, mich zu ruinieren. Es spielt auch keine Rolle.« Das ist eine der vielen Textstellen, die ich in dem Roman markiert habe.
Leanders und Fridas Leben werden chronologisch geschildert und nehmen den meisten Raum ein, während Linus Weg ein kurzer zu sein scheint. Wir erfahren von Enttäuschungen, kleinen Freuden, Schicksalsschlägen, Ruhelosigkeit und der verzweifelten Suche nach einem Platz zum Ankommen. Die alle vier von Stadt zu Stadt führt, manche quer durch Europa reisen oder vom endgültigen Verschwinden träumen lässt. Sie suchen ihr Zuhause in der Kunst, in Drogen, in flüchtigen Freundschaften, in der ständigen Betäubung. In der Einsamkeit. Die geschilderte innere und äußere Rastlosigkeit ist so intensiv beschrieben, dass sie schon fast spürbar ist.
Nach und nach schleichen sich weitere Perspektiven in die Handlung. Ein verschuldeter Theatermacher auf der Flucht vor seinen rabiaten Gläubigern wird eine Rolle spielen, die alten Kommunengebäude tauchen halbverfallen wieder auf. Und viele Jahre nach Beginn der Handlung spricht eine junge Frau als Tochter über die Entwurzelten – wessen Tochter soll hier nicht verraten werden. Und auch diese später auftauchenden Romanfiguren bringen wiederum eigene Nebenpersonen mit, eigene Handlungsstränge, eigene überraschende Wendungen. Aber niemals geht dabei uns Lesern der Überblick verloren.
Es sind unzählige kleine Geschichten, kurze Episoden, beiläufig eingeflochtene Details, die Rolf Lappert mit einer Souveränität zu einem großen Ganzen verbindet, die das Buch zu einem wunderbaren Leseerlebnis macht. Man spürt eine tiefe Liebe zu seinen vier Protagonisten, so, als würde der Autor sie allen Irrwegen zum Trotz behutsam durch ihre Leben geleiten, immer in der Hoffnung, dass zum Ende hin alles gut wird. Vielleicht wird es das ja auch, vielleicht aber auch nicht. Und die Frage ist dabei, was dieses »gut« für die Einzelnen überhaupt bedeuten soll, umgeben von einer Gesellschaft, die ihnen immer fremd bleiben wird. Jedenfalls wird jeder der vier ein anderes »gut« für sich definieren.
Es gibt Bücher, die beeindrucken mich durch ihre Reduktion auf das absolut Notwendige; solche, die es schaffen, auf wenigen Seiten eine Geschichte zu erzählen, die tief unter die Haut geht. Und dann gibt es andere, bei denen die grandiose Opulenz des Erzählten mich in eine Welt hineinzieht, aus der ich mich – allem Ungemach zum Trotz, das die Protagonisten erdulden müssen – nur schwer wieder verabschieden mag.
Keine einzige der 975 Seiten ist zu viel: Denn genau zu diesen Büchern gehört »Leben ist ein unregelmäßiges Verb«.
Buchinformation
Rolf Lappert, Leben ist ein unregelmäßiges Verb
Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-26756-5
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„Niemand schenkte der erregenden Angst während eines tobenden Sommergewitters Beachtung“ – ein Halbsatz aus dem längeren Zitat berührt mich.
Ja, der ist wunderschön. Und sofort hat man Bilder im Kopf und riecht den Regen.
Lappert ist eine Herausforderung, die ich bis dato noch nicht bezwingen konnte. Vielleicht wäre dieses Buch von ihm das Richtige für mich.
Unbedingt empfehlen würde ich auch »Über den Winter«, das hat mich sehr bewegt: https://kaffeehaussitzer.de/rolf-lappert-ueber-den-winter/