306 Quadratmeter in Manhattan

Johan Harstad, Max, Mischa & die Tet-Offensive

Normalerweise hat bei mir ein gelesenes Buch fast keine Gebrauchsspuren; ich kann gar nicht anders, als meine Bücher äußerst pfleglich zu behandeln. Bei »Max, Mischa & die Tet-Offensive« von Johan Harstad war das allerdings nicht möglich, denn dieses 1.242-Seiten-Werk habe ich über mehrere Wochen überallhin mitgeschleppt, um so oft wie möglich darin zu lesen. Verschrammt ist es nun, die Ecken angeschlagen, der Buchblock nicht mehr strahlend weiß und das Vorsatzblatt vollgeschrieben mit notierten Seitenzahlen. Und es fühlte sich an, als würden mich ein paar Freunde die ganze Zeit begleiten; nachdem die letzte Seite umgeblättert war, empfand ich so etwas wie Abschiedsschmerz, nun, da ich Max, Mischa, Mordecai und Owen zurücklassen musste. Dabei hatte ich ursprünglich gar nicht vor, den Roman zu lesen.

Ein Buch in Form und Umfang eines Ziegelsteins mit einem gekünstelt klingenden Titel: Nein, ein Spontankauf war »Max, Mischa & die Tet-Offensive« nicht. Und auch nachdem die ersten vielversprechenden Buchvorstellungen eintrudelten, reizte mich der Roman nicht besonders. Doch als Sarah »Pinkfisch« Reul mir dringend zur Lektüre riet und meinte, dass ich mir als New-York-Aficionado dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen dürfe, griff ich endlich zu. Und bin mehr als froh, ihrem Rat gefolgt zu sein, denn sonst wäre mir eines der intensivsten Leseerlebnisse der letzten Jahre entgangen.

Der Einstieg war nicht leicht. Auf den ersten 70 Seiten lernen wir den Ich-Erzähler Max kennen, einen gefeierten Theaterregisseur, der 2012 mit seiner aktuellen Inszenierung durch die USA tourt. Das Auto ist der einzige Ort, an dem er auf Parkplätzen unruhigen Schlaf findet, geplagt von seinen Erinnerungen. Andeutungen nehmen kommende Handlungsstränge vorweg, der Name Mischa fällt das erste Mal. Dazwischen gibt es viele Gedanken über Theatertheorie, die den Romanbeginn teilweise recht zäh werden lassen. Doch es lohnt sich sehr, hier durchzuhalten. Denn dann folgt der Rückblick in Max Kindheit und die Geschichte startet durch.

Nun soll das hier keine nacherzählende Inhaltsangabe werden; ganz davon abgesehen wäre die Handlung dafür viel zu lang und zu vielschichtig. Daher belasse ich es dabei, die vier, nein eigentlich fünf Hauptpersonen vorzustellen.

Der Theaterregisseur

Max Hansen wächst im norwegischen Stavanger auf. Als er zwölf Jahre alt ist, zieht die Familie wegen des Pilotenjobs seines Vaters in die USA, genauer gesagt nach Garden City auf Long Island in der Nähe von New York. Diese Verpflanzung prägt das gesamte Leben von Max; er fühlt sich herausgerissen, wurzellos, hat das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Als die Familie zerbricht, wird die Heimatlosigkeit überwältigend.

Der Schauspieler

Mordecai Weintraub kommt irgendwann als neuer Mitschüler in die Klasse von Max. Hinter seiner coolen Fassade steckt ein sensibler Mensch, unverstanden von seinen Eltern. Zeit seines Lebens droht er an den Ansprüchen an sich selbst zu scheitern. Max und Mordecai werden Freunde und entdecken in der Theatergruppe der Schule gemeinsam ihre Leidenschaft für die Bühne. Mit Folgen für ihre Zukunft: Mordecai wird Schauspieler, einer der sich durchbeißt, der talentiert ist, aber dem nichts geschenkt wird. Und Max wird Theaterregisseur.

Die Malerin

Mischa Grey ist Malerin, und als Mordecai und Max sie kennenlernen, steht sie an dem Beginn einer vielversprechenden Künstlerkarriere. Einer Karriere, die sie bis an die Spitze bringen wird. Sie ist dreiundzwanzig und Max sechzehn, fast siebzehn, als die beiden zusammenkommen. Was als anfängliche Tändelei beginnt, wird für beide zur Liebe ihres Lebens. Mischa stammt aus Toronto, doch ihr Leben als Künstlerin hat auch sie wurzellos werden lassen.

Der Klavier spielende Veteran

Und dann gibt es da noch Owen Larsen. Er ist der Bruder von Max Vater, doch der Kontakt ist abgebrochen. Owen ist der zweite Ich-Erzähler des Romans und auch seine Geschichte ist geprägt von Gefühlen der Einsamkeit, des Unerwünschtseins, des nirgendwo Dazugehörens. Owen ist schon gegen Ende der Sechziger nach New York ausgewandert; Jazz-Pianist wollte er werden, doch sein Talent reichte nie ganz aus. Aus einer verrückten Idee heraus hatte er sich freiwillig nach Vietnam gemeldet – danach erhielt er zwar die amerikanische Staatsbürgerschaft, aber die dröhnende Leere im Inneren wurde immer unterträglicher. Eine Wende in seinem Leben sorgte für oberflächliche Stabilität und über verschlungene Wege, die viele Dutzend Seiten des Buches füllen, wurde er zum Nachmieter einer mietpreisgebundenen, riesigen und fast leeren Wohnung im legendären Apthorp-Gebäude in der Upper West Side in New York.

Die Wohnung

Diese 306 Quadratmeter große Wohnung in dem damals ziemlich maroden und heruntergekommenen Prachtbau ist ein weiterer Protagonist der Handlung, Johan Harstad erweckt sie mit seiner Beschreibung zum Leben, sie erhält eine schon beinahe körperliche Präsenz.

»Die Wohnung ist so, wie alle Leute, die nicht in New York wohnen, meinen, so würde man in New York wohnen. Und über die jene, die tatsächlich in New York wohnen, mit gedämpfter Stimme und voller Andacht reden. Es sind Wohnungen, die hauptsächlich gerüchteweise existieren, in Erzählungen, an der Grenze zur Fiktion; man würde seine Seele an den Teufel verkaufen, um an sie heranzukommen; sie bilden die Ausnahme von der gnadenlosen Regel der kleinen Studioapartments und Bruchbuden, Souterrainwohnungen, die so weit vom Zentrum Manhattans entfernt liegen, dass man nicht einmal mehr die Schatten der Wolkenkratzer sieht, und Sozialbauten in verrufenen Vierteln und mit schlechtem Raumklima. Aber es gibt sie. (…)
Sie werden weitervererbt oder jemandem vermacht, den man kennt oder der jemanden kennt, der jemanden kennt, für den man bis zum entscheidenden Moment der Schlüsselübergabe die Hand ins Feuer legt. Und wenn man bereit ist, sich ein Auge auszureißen, die Hand abzuhacken, mit dem eigenen Blut zittrig und krakelig unverständlichste Verträge zu unterschreiben, während der Raum von Schwefelgestank erfüllt wird, sollte man die Gelegenheit ergreifen.«

In dieser Wohnung also lebt Owen. Als Max nach seinem verschollenen Onkel sucht und ihn in Manhattan findet, dauert es nicht lange, bis er zusammen mit Mischa zu Owen zieht. Und die Adresse »The Apthorp, 390 West End Avenue / W 78th Street« wird zum Rückzugsort, zu einem zentralen Punkt der vielschichtigen Handlung. Zu einem Kokon. Zu einem Zuhause.

Jedenfalls eine Zeit lang. Bis alles beginnt, sich aufzulösen, zu zerbröseln. Wohnung, Beziehungen, Leben. Einer der schönsten Sätze des Buches: »Es gibt keine Helden; es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen, ihr Bestes zu tun.«

Denn jeder von uns ist in die Welt geworfen und jeder sucht sein Leben lang nach dem Gefühl, irgendwo hinzugehören. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Manche haben Glück, manche sind für immer auf der Suche. Manche leiden darunter, manche merken es vielleicht nicht einmal. Manchmal hat man ein paar gute Jahre zusammen mit Menschen die einem wichtig sind, an einem Ort, der für eine Weile zu einer Art Heimat wird. Max, Mischa und Owen sind Entwurzelte, die für eine Zeit lang einen Platz finden, an dem sie sie selbst sein können, bevor es sie das Leben wieder auseinandertreibt. Und Mordecai hat es inzwischen nach Kalifornien verschlagen, doch auch sein Schicksal ist mit dem seiner Freunde untrennbar verknüpft.

Und irgendwann sind wir wieder im Jahr 2012, die Handlung knüpft an die Anfangsszene an – und nimmt auf den letzten 200 Seiten noch einmal dramatisch Tempo auf. Denn planen lässt sich ein Leben nicht und dem Lauf seines Schicksals kann niemand entkommen.

Was ist nun das besondere Leseerlebnis an »Max, Mischa & die Tet-Offensive«? Es ist zum einen die Sprache. Lange, gefühlt endlose Sätze über eine halbe oder eine ganze Seite reißen den Leser regelrecht in die Handlung hinein. Atemlos liest und liest man, immer weiter und weiter. Und aus so vielen Textstellen weht einem eine Sehnsucht nach Leben entgegen, ein Verlangen nach Ankommen, nach Menschen, die einem wichtig sind. Es ist eine großartige Übersetzungsleistung, die Ursel Allenstein vollbracht hat.

Im Laufe der Lesezeit, der Tage, der Wochen werden Max, Mischa, Owen und Mordecai zu vertrauten Personen, zu Freunden. Das Buch zu einem ständigen Begleiter. Und das Lesen zu einem intensiven Teilhaben an ihren erfundenen Leben, die so echt wirken, als würde die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwinden, als wäre man dabei gewesen: In der Wohnung im Apthorp, in New York, in Vietnam, in Kalifornien, auf einer langen, unplanbaren Reise zu sich selbst. Mit faszinierenden Längen, ausufernden Detailbeschreibungen, Abhandlungen über Theater, Film, Jazz und Malerei, wunderbar zu lesen und keine einzige Seite zuviel.

New York ist dabei die grandiose Kulisse der zentralen Handlung. Wobei es schon mehr als nur eine Kulisse ist: Ein Sehnsuchtsort, ein Mikrokosmos, eine Stadt, in der alles geschehen kann.

Eine weitere erzählerische Klammer ist der Vietnamkrieg. Als Kind spielte Max mit seinen Freunden in Norwegen Tet-Offensive. Owen erlebte diesen Krieg am eigenen Leib. Und später wurden Max und Mordecai nicht müde, über Francis Ford Coppolas filmisches Meisterwerk »Apokalypse Now« zu sprechen. Inbesondere die Anfangsszene wird regelmäßig zitiert, in der zu dem Doors-Song »The End« die Palmen im Napalmhagel verglühen. Nachdem ich dann an einem Abend die letzte Seite des Romans umgeblättert hatte, musste ich mir dringend ein Bier aus dem Kühlschrank holen und »The End« anhören. Ein würdiger Abschluss.

Jetzt ist diese Buchvorstellung doch recht lang geworden und dabei habe ich nur die allerwichtigsten Handlungsstränge angedeutet; es steckt so viel mehr zwischen diesen beiden Buchdeckeln als ich hier unterbringen kann. Daher als kurzes und knappes Fazit: »Max, Mischa & die Tet-Offensive« ist für mich einer der besten Romane der letzten Dekade.

Und etwas bleibt zurück, das mich lange noch an diese intensive Leseerfahrung erinnern wird: Ein verschrammtes Buch mit angestoßenen Ecken, ramponierten Kanten und anderen Macken. Wie Narben, die im Laufe der Zeit jedes Leben zeichnen.

Buchinformation
Johan Harstad, Max, Mischa & die Tet-Offensive
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-03033-9

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8 Antworten auf „306 Quadratmeter in Manhattan“

  1. Ich habe den Deckel gestern Abend zugeklappt, mit einem Lächeln (wegen dem was noch gesagt wurde) und einer Wehmut, weil ich nicht weiter am Leben von Max, Mischa, seiner Mutter … teilnehmen kann und einer sehr großen Dankbarkeit. Das Buch, die vielen Geschichten in der einen Geschichte, hat so viel zu bieten. Ich konnte so eintauchen (ja, deshalb ist keine Seite zu viel) und ich dachte, wie toll es wäre, Max als Freund zu haben! Aber so war das Buch in den letzten Wochen ein sehr enger Vertauter und beim Zuklappen dachte ich, das Buch ist mein Freund.

    Danke für die vielen Anregungen.

  2. ………..und deine Worte zum Buch sind so klasse gewählt, dass alles noch einmal wie ein kleiner Film vorüberzog. Dennis Scheck hat zu dem Buch gesagt : Ein Bildungsroman erster Güte! Sicher meinte er diese Form von Herzensbildung, die manchmal mehr vermittelt als alles Ringen um intellektuelle Brillanz. Für mich waren die langen Sätze mal wie ein stiller Fluß dann wieder wie ein reißender Strom….:) Ganz feine Rezension …Thänx

  3. Ich werde die Lektüre dieses wundervollen Romans auch nicht vergessen. Ich hatte den dicken Wälzer im Herbsturlaub auf Bornholm dabei, er begleitete mich bei meinen Ausflügen, gut verstaut im Rucksack. Was mich besonders neben den Figuren und den vielen Themen, die das Buch enthält, beeindruckt hat, ist wie großartig es Harstad gelungen ist, das Schaffen und den beruflichen Weg der Künstler auszugestalten. Man könnte glauben, Max, Mischa und Mordecai hat es wirklich gegeben. Viele Grüße

    1. Ja, genau das macht den Reiz des Romans aus. Dazu noch die feine Gestaltung des Innnen- und Außencovers mit Werkverzeichnissen, Plakaten etc. Ein echtes Gesamtkunstwerk.

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