Mein Lesejahr 2021: Die besten Bücher

Mein Lesejahr 2021: Die besten Buecher

In vielen Literaturblogs gibt es am Ende des Jahres Rückblicke und Berichte über die Bücher, die am meisten Eindruck hinterlassen haben. Spannend ist dabei vor allem die Unterschiedlichkeit der Listen. Oftmals finde ich darin nur wenige Übereinstimmungen mit meinen eigenen Lese-Highlights – und das beweist immer wieder die Vielfalt der Literatur und die Vielfalt der Lesevorlieben. Und zeigt, wie viel großartige Bücher es zu entdecken gibt. Auch hier im Blog Kaffeehaussitzer ist ein solcher Rückblick inzwischen eine kleine Tradition. Und auch wenn das pandemische 2021 in vielerlei Hinsicht anstrengend, irritierend und manchmal auch frustrierend war, so bot die Literatur immer wieder festen Halt und Trost in seltsamen Zeiten. Fünfzehn Bücher haben es in meine persönliche Bestenliste geschafft, es sind – wie immer – nicht nur Titel, die im vergangenen Jahr erschienen sind; manche von ihnen standen schon eine lange Zeit im Regal, bis nun endlich ihre Zeit gekommen war. Daher bezieht sich dieser Jahresrückblick nicht auf 2021 als Erscheinungsjahr, sondern es sind diejenigen Bücher, die mich in den vergangenen zwölf Monaten am meisten berührt, inspiriert oder begeistert haben.

Hernan Diaz: In der Ferne
Diejenigen, die schon länger in meinem Blog Kaffeehaussitzer mitlesen, wissen, dass ich ein Faible habe für eher düstere Romane, deren Protagonisten ihrem Leben verloren gegangen sind. Getriebene, Einsame, Suchende – das sind meine literarischen Helden. Dieses Entwurzelte oder dieses Gefühl, komplett auf sich alleine zurückgeworfen zu sein, sind derart existenzielle Situationen, dass sie jene Romanfiguren zu Sinnbildern des Lebens an sich machen. Sie regen zum Nachdenken an, zur Beschäftigung mit den Gedanken, woher wir kommen, wohin wir gehen und was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben ist – und die viel schneller vorbei sein wird, als wir es uns in jungen Jahren vorstellen können. »In der Ferne« von Hernan Diaz ist daher ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und ist dabei etwas sehr Besonderes, denn noch nie habe ich einen Text gelesen, in dem die geschilderte Einsamkeit so überwältigend präsent war, wie in diesem.

Elsa Osorio: Die Capitana
»Die Capitana« ist ein besonderes Buch; eines das heraussticht, eines, das einen beim Lesen nicht mehr loslässt und eines, das sich tief ins Gedächtnis eingräbt. Mit diesem biographischen Roman hat die Autorin Elsa Osorio nicht nur eine beeindruckende Frau dem Vergessen der Geschichte entrissen, sondern sie nimmt uns mit in jene Epoche des 20. Jahrhunderts, als der Traum von einer gerechten Welt beinahe mit Händen zu greifen war. Es sind Jahre der Umwälzungen, der revolutionären Ideen, der Diskussionen. Jahre des Kampfes. Und Micaela Feldman Etchebéhère, genannt Mika, war immer dabei, niemals am Rand, sondern stets im Zentrum des Geschehens. Rastlos und ruhelos und angetrieben von dem unbändigen Wunsch, die Welt zu verändern. Die extremste Episode ihres Lebens war ihre Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Als Capitana befehligte sie eine Kolonne der Republikaner – eine Rolle, die sie nicht gesucht hatte, die sich aber fast zwangsläufig so ergeben musste, wenn man ihre Lebensgeschichte liest. Diese zwei Jahre als Kämpferin in vorderster Linie stehen im Mittelpunkt des Buches, doch in vielen Rückblicken und aus unterschiedlichen Perspektiven breitet die Autorin in den Kapiteln dazwischen das gesamte Leben Mika Etchebéhères vor uns aus. Die Übersetzung stammt von Stefanie Gerhold.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Die Handlung führt uns mitten hinein in das zerstörte Nachkriegsdeutschland, ins Jahr 1946. In »Ritchie Girl« verknüpfen sich mehrere thematische Schwerpunkte: Zum einen die Frage nach Schuld und Sühne, denn kann einem Tätervolk, das unfassbare Barbarei über einen Kontinent gebracht hat, jemals vergeben werden? Zum anderen die enge Verzahnung zwischen der Nazi-Herrschaft und der Industrie – nicht zufällig ist auf dem Schutzumschlag ein Bild des I.G.-Farben-Gebäudes in Frankfurt zu sehen. Der Name steht wie kaum ein anderer für eine über Leichen gehende Profitgier in den Diensten des »Dritten Reiches«. Andreas Pflüger beschäftigt sich dabei mit einem besonderen Aspekt: Mit dem Engagement US-amerikanischer Investoren bei I.G. Farben und anderen deutschen Unternehmen, das noch bis weit in den Krieg hinein dauerte. Dabei geht es dem Autor aber in keinster Weise um Relativierung der Nazi-Verbrechen, denn auch wenn Gewinnmaximierung jenseits aller moralischen Vorstellungen verachtenswert sein mag – die Täter saßen an deutschen Schreibtischen. Und während in den Nürnberger Prozessen die Hauptkriegsverbrecher gerichtet werden, entstehen hinter den Kulissen neue Allianzen. Denn der neue Feind heißt Sowjetunion und aus Mördern in SS-Uniformen werden Verbündete – ein widerwärtiger Vorgang, dessen Schatten weit in die bundesrepublikanische Geschichte hineinreichen. All diese Geschehnisse spiegeln sich in der Protagonistin Paula Bloom wider; ein beeindruckend komplexer erzählerischer Kniff, der das Buch zu einer großartigen Lektüre macht.

Matteo Righetto: Das Fell des Bären
1963, in einem Bergdorf irgendwo in den Dolomiten ist ein Bär aufgetaucht, verwüstet Bienenstöcke, tötet das Wild, bricht in Ställe ein und versetzt Menschen und Tiere in Angst. Der Außenseiter Pietro Sieff macht sich zusammen mit seinem zwölfjährigen Sohn Domenico auf, um die Bestie zu erlegen. Sie werden nur wenige Tage unterwegs sein, doch diese kurze Zeit prägt Domenicos gesamtes Leben. Erinnerungen an die verstorbene Mutter mischen sich mit dem verwirrenden Gefühl einer plötzlichen Nähe zum Vater, der ein neuer Mensch zu sein scheint. Und wie buntes Herbstlaub leuchten die wunderbaren Naturbeschreibungen durch die Erzählung, verleihen ihr ein Strahlen, eine Sehnsucht nach den Bergen, nach Wildnis und Einsamkeit. Doch ist dies alles andere als ein harmloser Jagdausflug und das Ende erwischt uns Leser mit einer erzählerischen Wucht, die man nicht so schnell wieder vergisst. Matteo Righetto hat seiner mitreißenden Vater-Sohn-Geschichte ein Hemingway-Zitat vorangestellt. Das ist sehr passend, denn der amerikanische Meister hat in seinen Romanen die Mischung aus Dramatik, vager Hoffnung und Fatalismus nahezu perfekt miteinander in Einklang gebracht. Und genau dies zeichnet auch Righettos »Das Fell des Bären« aus. Übersetzt wurde der Roman von Bruno Genzler.

Uwe Wittstock: Februar 33 – Der Winter der Literatur
Dies ist das einzige Sachbuch in diesem Jahresrückblick, wobei es mitreißender geschrieben ist, als so mancher Roman. Der Autor Uwe Wittstock schafft es, die Ereignisse in der Zeit unmittelbar nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten auf eine so packende Weise zu schildern, dass ihre Dramatik uns Lesern sehr eindrücklich vor Augen steht. Es dauerte nur wenige Wochen, bis sich die Weimarer Republik in eine faschistische Diktatur verwandelt hatte, in der viele Menschen um ihr Leben oder ihre Freiheit fürchten mussten. Am Beispiel von zahlreichen Autorinnen und Autoren – manche noch heute weltberühmt, andere nicht zuletzt durch diesen tiefen Einschnitt vergessen – zeigt er, wie von einem Tag auf den anderen die Heimat zu einem unsicheren, einem gefährlichen Ort geworden war. Viele Verknüpfungen zwischen den betroffenen Personen machen uns deutlich, dass in jenen Wochen nicht nur einzelne Akteure verschwanden, sondern dass eine ganze Literaturszene unterging. 

Steve Sem-Sandberg: W.
Es ist wahrscheinlich der bekannteste Kriminalfall der deutschen Literaturgeschichte: Am 21. Juni 1821 ersticht der Tagelöhner und ehemalige Soldat Johann Christian Woyzeck die Arztwitwe Johanna Woost. Er stellt sich der Polizei, wird verurteilt und knapp drei Jahre später öffentlich hingerichtet. Das Besondere für die damalige Zeit war die psychologische Untersuchung des Verurteilten, um seine Schuldfähigkeit festzustellen. Diese Ereignisse waren die historische Vorlage für Georg Büchners Drama »Woyzeck«, das zwar durch seinen frühen Tod 1837 unvollendet blieb, aber trotzdem heute zum Kanon der Klassiker zählt. Nun hat sich der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg des Stoffes angenommen und anhand der vorhandenen Eckdaten eine Romanbiographie über das Leben Woyzecks verfasst. Es ist die Geschichte eines Ausgestoßenen, eines von Wahnvorstellungen und Schuldgefühlen Verfolgten, der es nie schaffte, einen Platz im Leben zu finden. Dabei geht es nicht darum, sein Verbrechen zu relativieren oder zu entschuldigen. Sondern um ein Leben, das geprägt war von Unrast und Zerrissenheit, von Armut und Krieg. Ein grandios-düsteres Buch, das uns tief hinein führt in die Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Bald mehr dazu.

Fjodor Dostojewskij:  Der Idiot
Die Romane von Dostojewskij begleiten mein Leserleben schon sehr lange und der 200. Geburtstag des Autors im Jahr 2021 war ein guter Anlass, sich wieder einmal eines seiner Werke vorzunehmen. »Der Idiot« hatte ich 1990 auf einer InterRail-Fahrt durch Schweden und Norwegen gelesen. Einige Stellen sind seit damals im Kopf geblieben – etwa die Szene im Treppenhaus, in dem Fürst Myschkin nur deshalb einem Messerangriff entgeht, weil ihn genau in diesem Moment ein epileptischer Anfall nach hinten reißt und die Treppe hinunterstürzen lässt. Jener Fürst ist »Der Idiot«, ein Mensch, dessen Epilepsie-Erkrankung ihn zu einem Außenseiter der Gesellschaft macht. Als er nach einem jahrelangen Kuraufenthalt nach St. Peterburg kommt, stolpert er von einer unbeholfenen Peinlichkeit in die nächste und setzt mit seinem naiven Verhalten dramatische Ereignisse in Gang, die irgendwann nicht mehr zu stoppen sind. Dostojewski demaskiert mit seinem Roman gesellschaftliche Normen, macht sich über Gepflogenheiten und überholte Umgangsformen lustig und hat ein in seiner Tragik zeitloses Werk geschaffen. Die Wieder-Lektüre war die Übersetzung von Swetlana Geier, die mit ihrem Dostojewski-Projekt Maßstäbe gesetzt hat. Und gerade in diesen bewegten und unruhigen Zeiten hat es mehr als gutgetan, einen Text zu lesen, der schon seit 153 Jahren existiert und schon so vieles überlebt hat. Ein Vorsatz für 2022 könnte sein: #mehrklassikerlesen

Jackie Thomae: Brüder
Als »Brüder« 2019 erschien, war der Roman eine Zeit lang omnipräsent, Feuilleton und Literaturblogs berichteten ausgiebig darüber, es gab zahlreiche Interviews mit der Autorin, überall war das Werk in den Buchhandlungen zu sehen. Natürlich ist ein solcher Erfolg für die Verfasserin und den Verlag wunderbar, doch als Leser habe ich dann oft das Gefühl, dass ich schon so viele Berichte über den Inhalt gelesen, schon von so vielen Aspekten des Buches gehört habe, dass ich es gar nicht mehr selbst lesen muss, auch wenn ich es ursprünglich vorhatte. In diesem Fall hätte ich einen brillant erzählten Roman verpasst, doch zum Glück war »Brüder« 2021 in Köln das »Buch für die Stadt«, einer Gemeinschafts-Leseaktion des Literaturhauses und des Kölner Stadt-Anzeigers. Bei einer Sonntagsmatinee im Schauspiel Köln stellte Jackie Thomae ihr Buch vor – und ihr charismatischer Auftritt hat mich so begeistert, dass ich »Brüder« direkt danach gelesen habe. Die Geschichte zweier Brüder, die noch in der DDR geboren wurden, die sich nicht kennen, aber denselben afrikanischen Vater haben und deren Leben vollkommen unterschiedlich verlaufen, ist ein wilder Ritt durch die Neunzigerjahre mit überraschenden Wendungen und Verknüpfungen. Bald mehr dazu.

Salih Jamal: Das perfekte Grau
Mit »Das perfekte Grau« hat Salih Jamal nicht nur eine mitreißende Geschichte über das Davonlaufen, die Suche nach dem eigenen Leben und über eine vage Hoffnung auf ein Ankommen geschrieben. Mich hat dieses Buch zurück in eine Zeit katapultiert, in der ich in mein Erwachsenenleben gestartet war und jahrelang planlos darin herumstolperte, nicht wissend, wohin mit mir. Meine literarischen Helden jener Zeit fand ich in den Büchern von Philippe Djian, dessen Romane die Türen aufgestoßen haben in eine Welt der Entwurzelten, der mit sich selbst Hadernden, der unglücklichen Träumer, die beides stärker werden lässt: Das Unglück und die Träume. Und jetzt, viele Jahre später, knüpft Salih Jamal mit »Das perfekte Grau« an diese Zeit an, weckt Erinnerungen, transportiert mich als Leser aber gleichzeitig ins Hier und Jetzt. Denn auch wenn viele Stellen klingen wie eine Hommage an Djian, gelingt es dem Autor souverän, daraus einen ganz eigenen, schwermütig-poetischen Stil zu entwickeln. Ich schaffe es selten, ein Buch zu lesen, ohne den Versuch zu unternehmen, es in Bezug auf eigene Erlebnisse zu setzen, aber das Eintauchen in diesen Roman fühlte sich auf eine wunderbare Weise besonders vertraut an. 

Liz Moore: Long Bright River
Im Roman »Long Bright River« stehen zwei Schwestern im Mittelpunkt der Handlung, deren Leben kaum unterschiedlicher hätten verlaufen können. Michaela fährt als Polizistin Streife in Philadelphias Drogen-Hotspot Kensington, ihre Schwester Kacey ist drogenabhängig und geht auf der Straße anschaffen. Als sie verschwindet und mehrere Morde geschehen, macht sich Michaela besorgt auf die Suche – und muss dabei tief eintauchen in die eigene Familiengeschichte. Mit den Mitteln eines Kriminalromans gelingt der Autorin Liz Moore eine einfühlsame Milieustudie und eine Geschichte über Herkunft, Chancengleichheit, Korruption und verschobene Wertvorstellungen. Übersetzt wurde das Buch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Große Leseempfehlung.

Bernadine Evaristo: Mädchen, Frau etc.
Nach den ersten Ankündigungstexten hatte ich »Mädchen, Frau etc.« von Bernadine Evaristo gedanklich in die Schublade ›identitätspolitisches Manifest‹ gepackt und nicht vor, mich damit zu beschäftigen. Ohne eine der Buchhändlerinnen meines Vertrauens wäre mir dabei fast ein beeindruckendes Leseerlebnis entgangen, denn ihre Begeisterung warf meine vorgefasste Meinung über den Haufen. Also bin ich eingetaucht in eine mir unbekannte Welt. Oder eigentlich in zwölf Welten, denn mit Hilfe der Literatur bringt uns Bernadine Evaristo zwölf Schicksale sehr unterschiedlicher Frauen nahe. Vor dem Hintergrund der Themen Identität, Herkunft, Rassismus und Ausgrenzung erzählt die Autorin mit großer Liebe für ihre Figuren vom Kampf um Anerkennung und ein menschenwürdiges Leben, vom Weitermachen, vom Ausbrechen aus abgegrenzten Welten. Über all die prägenden Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht berichtet Evaristo nicht in einem anklagenden Ton. Sie beschreibt sie sachlich, mit einer Prise Sarkasmus. Und das hat eine viel intensivere Wirkung; als (weißer) Leser war ich immer wieder fassungslos, lernte Lebenswelten kennen, die weit entfernt von der eigenen sind – und sich in der eigenen Stadt im Nachbarviertel befinden mögen. Gleichzeitig strahlt »Mädchen, Frau etc.« eine ungemein positive Botschaft aus: Gesellschaften verändern sich, zwar nur langsam, aber stetig. 

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)
Wahrscheinlich gibt es kein Buch, das mir von so vielen vollkommen unterschiedlichen Menschen empfohlen wurde, wie »Das achte Leben (für Brilka)«. Ich hatte es mir vor einigen Jahren gekauft und als nun der Zeitpunkt gekommen war, es zu lesen, war ich dementsprechend gespannt. Und was soll ich sagen – auch mich hat dieses epische Werk vollkommen begeistert. Nicht nur, weil die sich über ein Jahrhundert erstreckende georgische Familiengeschichte brillant erzählt ist. Nicht nur, weil Nino Haratischwili gekonnt historische Fakten mit Fiktion verknüpft und anhand Georgiens eine Geschichte Europas erzählt. Nicht nur, weil mich die von ihr geschaffenen Frauenfiguren – es sind die Frauen der Familie, um die es geht – begeistert haben; vom Leben und Schicksal gezeichnet, die Träume zertrümmert, aber niemals aufgebend. Und nicht nur, weil mir der Roman ein Land nahegebracht hat, das ich schon längst einmal bereisen möchte. Sondern auch deshalb, weil die kunstvoll ineinander verschlungene Mehrgenerationen-Saga dazu anregt, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Mit all den Entscheidungen unserer Vorfahren, die einen zu dem gemacht haben, der man nun geworden ist – und die unbewusst immer noch im eigenen Handeln mitschwingen mögen. Dazu bald mehr. 

Anne von Canal & Heikko Deutschmann: I get a Bird
Jeder Roman hat eine Entstehungsgeschichte, doch nur wenige sind so charmant wie die von »I get a Bird«. Denn alles begann mit dem Wurf einer Münze – so erzählen es Anne von Canal und Heikko Deutschmann, die das Buch gemeinsam verfasst haben. Die beiden erdachten sich je eine fiktive Person und begannen sich zu schreiben; der Münzwurf entschied, dass Heikko Deutschmann alias Johan Zweipfennig das erste Schreiben an Anne von Canal verfassen würde die als Jana Richter auftrat. Damit bestimmte der Zufall die Grundidee des Projekts. Was als Schreibübung gedacht war, entwickelte ein Eigenleben, auf jeden Brief musste reagiert werden, mit jedem Schreiben spann sich der Faden des Erzählten weiter, begann sich zu verästeln, sich zu einer Geschichte zu verweben. Zu einer Geschichte, die weder geplant noch beabsichtigt war, die aber trotzdem immer komplexer und emotionaler wurde. Schon von der sprachlichen Eleganz und der inhaltlichen Ausgestaltung her ist »I get a Bird« ein sehr lesenswerter Roman. Und die Geschichte dahinter macht dieses Buch zu einem einzigartigen Werk.

Hari Kunzru: Red Pill
Der Roman »Red Pill« von Hari Kunzru führt uns hinein in die Gedankenwelt eines mittelmäßigen Schriftstellers. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist ein Mensch, der zutiefst verunsichert ist, der Angst vor der Zukunft hat, gefangen in dem Gefühl, hilflos mitansehen zu müssen, wie sich unsere Welt in Kriegen, Umweltkatastrophen und Flüchtlingsströmen auflöst, und er es nicht schaffen wird, seine Familie vor dem was kommen mag zu beschützen. Hari Kunzru spielt gekonnt mit den Ebenen von Wahn und Wirklichkeit. Schildert die Unterwanderung der medialen Öffentlichkeit durch faschistoides Gedankengut, beschreibt wie sich Hass und Umsturzphantasien in der digitalen Welt Bahn brechen – und in die reale Welt hinüberschwappen können. Gleichzeitig zeigt er in »Red Pill« die Hilflosigkeit jener, die an das Gute im Menschen glauben, die unsere Welt ein Stück besser machen möchten. Und überrollt werden von einem Rechtspopulismus, der anfangs subtil daherkommt, sich aber zu einer Lawine entwickeln kann, die alles hinwegfegt. Und es ist ein Roman, der mit einer Textstelle beginnt, die mich lange innehalten ließ, nicht zuletzt dank der wunderbaren Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence. Denn plötzlich liest man Gedanken, die einen selbst bewegen, die einen schon seit einiger Zeit nicht mehr loslassen, die man aber bisher nicht in Worte fassen konnte. Jedenfalls nicht so elegant.

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke 
Das Jahr endete mit einer Art Leserausch: Im Dezember hatte mich der Roman »Gesammelte Werke« von Lydia Sandgren voll und ganz in den Bann gezogen, hatte einen regelrechten Sog entwickelt, der mich nicht mehr losgelassen hat. Abendelang las ich bis zur Übermüdung, doch auch 874 Seiten sind leider irgendwann einmal zu Ende. Dann begann das Gelesene zu sacken, sich im Kopf auszubreiten und mir wurde – verbunden mit der Wehmut, die liebgewordenen Protagonisten nun nicht mehr wiederzutreffen – nach und nach klar, was für ein grandioses Leseerlebnis mir die Autorin und die beiden Übersetzer Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig beschert haben. Literatur, die wie ein helles Licht über den trüben pandemischen Winter strahlt. Dabei behandelt »Gesammelte Werke« ernste Themen, es geht um Verlust, um das Gefühl der Leere und die Suche nach einem Sinn im Leben; es gibt viele Fragen und nicht immer Antworten darauf – das alles aber ist eingebettet in eine wunderbare Erzählung über die Freundschaft, das Älterwerden, die Liebe zur Kunst, zur Literatur und zur Sprache. 

Das ist sie also, meine persönliche Jahresbestenliste gelesener Bücher. Die Reihenfolge im Text und die Anordnung im Photo sind komplett willkürlich und haben nichts mit einer Wertung innerhalb der Liste zu tun. Beenden möchte ich diesen Jahresrückblick mit einer Bitte, die mir ohnehin sehr am Herzen liegt, die ich in diesen Zeiten aber noch wichtiger finde als sonst: Kauft bei euren Buchhandlungen vor Ort ein. Sie sind Treffpunkte für Literaturinteressierte, kulturelle Zentren in Stadtteilen und Innenstädten, Schaufenster für Bücher und Literatur im öffentlichen Raum. All das brauchen wir dringend; jetzt und dann, wenn irgendwann das normale Leben wiedergekehrt sein wird.

Passt auf euch auf. 

#SupportYourLocalBookstore

5 Antworten auf „Mein Lesejahr 2021: Die besten Bücher“

  1. Hallo Uwe,
    ich wünsche dir ein glückliches, gesundes, neues Jahr und viele inspirierende Leseerlebnisse. Vielen Dank für deine wunderbaren Empfehlungen im Laufe des letzten Jahres und die eindrucksvolle „Bestenliste 2021“ auf diesem Blog. Immer wenn Kontakte wieder eingeschränkt waren und die Arbeit mich wegen neuer Corona-Vorgaben gelegentlich wie ein Tsunami überrollt hat, kam mir der „Kaffeehaussitzer“ gerade recht. Lesen geht ja bekanntlich immer und gerade dann, wenn man nur noch um ein Thema kreist, ist ein Kurztrip mit einem Buch in eine andere Welt sehr wohltuend. „Mädchen, Frau etc., Das achte Leben (Brilka) und Long Bright River“ wären auch auf meiner Bestenliste, „Gesammelte Werke und Ritchie Girl“ waren Weihnachts-geschenke und liegen noch auf meinem Stapel der ungelesenen Bücher.
    Ich habe in deinem Blog viele gute Anregungen erhalten und bin schon sehr gespannt auf das nächste Jahr.

    1. Hallo Petra,
      ich danke Dir für Dein Lob, deine den Blog bereichernden Kommentare und wünsche Dir ebenfalls alles Gute für 2022 – und viele wunderbare Leseerlebnisse.
      Herzliche Grüße
      Uwe

  2. Danke für die eindrucksvolle Rückschau und alle Beiträge übers Jahr. Schon gespannt auf die Vorschau …
    Wir haben hier tolle Buchhandlungen – die während des Lockdowns auch geliefert hatten -, Second Hand Shops sowie öffentliche Bücherschränke.
    Gute Wünsche zu einem friedlichen und gesunden neuen Lesejahr!

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