Der Roman »Licht und Zorn« von Lauren Groff sollte schon längst hier vorgestellt werden, denn es ist schon etwas her, dass ich ihn gelesen habe. Allerdings finde ich es auch immer wieder spannend, erst mit einigem zeitlichem Abstand über ein Buch zu berichten, denn da zeigt es sich, ob die Lektüre im Gedächtnis geblieben ist, ob sie Spuren hinterlassen hat. Und bei besonderen Büchern hat man auch noch nach langer Zeit die Stimmung im Kopf, die sie ausgestrahlt, weiß noch, was sie zu einem besonderen Leseerlebnis gemacht haben. »Licht und Zorn« ist eines dieser Bücher und jetzt, wo es wieder neben mir liegt und ich mit diesem Text beginne, steht die erzählte Geschichte mit all ihren überraschenden Wendungen vor mir.
»Dichter Nieselregen wie ein Vorhang, plötzlich vor die Sonne geweht. Die Seevögel hörten auf zu schreien, das Meer verstummte. Die Lichter über dem Strand wurden grau. Am Strand ein Mann und eine Frau. Sie blond und elegant in einem grünen Bikini, obwohl es Mai war in Maine und kalt. Er ein Hüne, strahlend und lebendig; in ihm flackerte ein Licht, das den Blick gefangen nahm und nicht mehr losließ. Sie hießen Lotto und Mathilde.«
Mit diesen starken ersten Sätzen des Buches skizziert die Autorin die beiden Menschen, deren Leben wir kennenlernen werden. Und sie benötigt dazu nur wenige Pinselstriche, um sie vor unserem inneren Auge zum Leben zu erwecken.
Lancelot Satterwhite, genannt Lotto, stammt aus einer amerikanischen Upperclass-Familie, ein Sunnyboy und Herzensbrecher, dessen egozentrische Unbeschwertheit dazu führt, dass seine Mutter ihn auf ein Internat weit weg von zu Hause schickt. In seiner Collegezeit entdeckt er das Theaterspielen für sich, und auf der Premierenfeier von »Hamlet« – er spielte die Titelrolle, »Hamlet war Lotto und vice versa« – lernt er die schöne Mathilde kennen. Es ist das Zusammentreffen zweier Menschen, die das Schicksal füreinander bestimmt zu haben scheint. Kurze Zeit später sind die beiden Zweiundzwanzigjährigen verheiratet und ziehen nach New York, planlos und abenteuerlustig; Lotto sieht eine glänzende Schauspielkarriere vor seinem inneren Auge. Und seine Mutter dreht den Geldhahn zu, der Kontakt zur Familie bricht nahezu ab, nur seine viel jüngere Schwester Rachel sieht er ab und an.
Lotto und Mathilde, Mathilde und Lotto: Die beiden gelten als Traumpaar, schön, cool, im Mittelpunkt einer schillernden Szene aus Künstlern, Schauspielern, jungen, hippen Menschen. Es ist ein exzessives Bohème-Leben, finanziell stets mit dem Rücken an der Wand, doch Drogen und Alkohol sind immer vorhanden – ein einziger, jahrelanger Rausch. Aber die Riege der feierwütigen Freunde lichtet sich, viele ziehen sich nach und nach ins bürgerliche Leben zurück, finden Jobs, gründen Familien. Und die Exzesse fordern ihren Tribut, Lotto trinkt zu viel, seine schauspielerischen Ambitionen sind zum Scheitern bestimmt, der Totalabsturz steht kurz bevor. Doch als ihn nur noch wenige Schritte vom Abgrund des endgültigen Versagens trennen, Mathilde scheinbar hilflos mit ansehen muss, wie sich Lotto zugrunde richtet – da geschieht das Wunder: Durch Zufall entdeckt er sein Talent als Dramaturg, ein Stück von ihm wird aufgeführt und nur wenige Jahre später ist er einer der erfolgreichsten Theatermacher des Landes, gefeiert und verehrt, in Theaterkreisen beinahe eine Legende.
Von beinahe ganz unten bis weit hinauf an die Spitze: Im Nachhinein betrachtet wirkt alles, als wären die Höhen und Tiefen von Lottos Leben dazu bestimmt gewesen, um ihn nach oben zu führen. Schicksal? Zufall? Oder etwas ganz anderes?
An der Seite Mathildes lebt Lotto ein intensives Leben, dessen Wendungen auch die Leere der mittleren Jahre beinhalten. Wir Leser sehen die Risse in der Fassade des Intellektuellen-Paars auftauchen, erst fein, dann immer größer werdend. Doch es ist auch ein kurzes Leben, das mit sechsundvierzig überraschend endet.
»Als beide sechsundvierzig Jahre alt waren, wurde Mathilde von ihrem Mann, dem berühmten Dramatiker Lancelot Satterwhite, verlassen. Er fuhr in einem Krankenwagen ohne Martinshorn davon. Das heißt, nicht er. Sein kaltes Fleisch.«
Und dann wird die Geschichte noch einmal neu erzählt. Denn nichts ist, wie es scheint. Im zweiten Teil des Romans steht Mathilde im Mittelpunkt, wird Mathildes Lebensgeschichte vor uns ausgebreitet. Dabei tun sich dunkle Geheimnisse auf, von denen Lotto nie etwas ahnte, von existentiellen Nöten wird die Rede sein, von einem Todesfall, von Intrigen und Einsamkeit. Vor allem aber dekonstruiert Lauren Groff gekonnt den schicksalhaft scheinenden Lebenslauf von Lotto Satterwhite und reißt die mühsam und sorgfältig aufgebaute Fassade eines Künstlerlebens ein. Um einen Gedanken Lottos zu zitieren: »Er kannte sich aus mit Geschichten; er wusste, dass ein einziges falsches Wort ein ganzes Gebäude zum Bröckeln bringen konnte.«
Auf eine grandiose Weise schafft es die Autorin, den Roman komplett zu drehen. Denn all die überraschenden Wendungen wirken aus Mathildes Perspektive betrachtet alles andere als überraschend. Die Erzählung erhält eine völlig neue Tiefe, das bisher Gelesene neue Deutungen, Zusammenhänge werden schlüssig und tödliche Dramen tauchen aus der Vergangenheit auf – die niemals vergangen war. Es wird um Rache gehen, um Freundschaften, die nie echt waren und um Rechnungen, die beglichen werden müssen. Von Beginn an lässt die Sprache des Romans etwas Düsteres hindurchscheinen, das im zweiten Teil der Handlung mehr und mehr Raum einnehmen wird. Für uns Leser, die wir nun alles wissen, bekommt Lancelot Satterwhites schillerndes Leben im Nachhinein etwas Tragödienhaftes. Nicht nur für ihn.
Und eines wird dabei klar: So etwas wie Schicksal gibt es nicht. Oder zumindest nicht so, wie wir es uns vorstellen.
Buchinformation
Lauren Groff, Licht und Zorn
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-25316-2
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Eine Antwort auf „Schicksal gibt es nicht“