Der Dostojewskij-Relaunch

Fjodor M. Dostojewskij: Verbrechen und Strafe

Einmal, ein einziges Mal habe ich auf einer Buchmesse ein Buch gestohlen. Es war in Leipzig im Jahr 1998, dürfte also inzwischen verjährt sein. Außerdem geschah es eigentlich aus Versehen: Ich blätterte darin an einem Verlagsstand, völlig versunken. Der Stand, ohnehin nicht groß, wurde immer voller und ich wurde von den Menschenmassen hinaus gedrängt, immer noch lesend, ohne es richtig zu merken. Völlig gedankenverloren klappte ich das Buch irgendwann zu und steckte es ein. Später merkte ich, was passiert war und dann war es mir zu peinlich, an den Stand zurückzugehen. Das Buch war »Verbrechen und Strafe« von Fjodor Dostojewskij. Irgendwie passend.

Ich kannte es unter dem ursprünglichen Titel »Schuld und Sühne« schon seit langem und mochte es sehr. Die Neuübersetzung war schon ein paar Jahre auf dem Markt, aber erst an jenem Buchmessestand hatte ich mit Muße hineingelesen. »Verbrechen und Strafe« statt »Schuld und Sühne« – allein am Titel merkt man schon den Unterschied. Swetlana Geier, die Grande Dame der Slawistik an der Freiburger Uni, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die fünf großen Dostojewskij-Romane neu zu übersetzen. »Verbrechen und Strafe« war der Erste gewesen. Als russische Muttersprachlerin ging sie mit einem ganz anderen Sprachgefühl an die Übersetzung heran. Und herausgekommen ist dabei ein völlig neues Buch.

Die in St. Petersburg spielende Geschichte dürfte hinlänglich bekannt sein: Rodion Raskolnikow, ein völlig verarmter Student, hat eine Theorie entwickelt, nach der es hin und wieder Menschen gibt, die über den moralischen Wertvorstellungen und den geltenden Gesetzen stehen und die daher für sie nicht von Belang sind. Natürlich ist er selbst einer dieser Menschen und konsequenterweise erschlägt er mit einer Axt eine alte Pfandleiherin, nach seiner Theorie nur eine unnütze »Laus«, um ihr Geld zu rauben. Auch ihre zufällig anwesende Schwester wird von ihm getötet. Er entkommt unerkannt und muss nun mit diesem Verbrechen leben. Da zeigt es sich, dass er mitnichten über allem steht, er fiebert, es zerfrisst ihn von innen, während parallel dazu in der äußeren Welt die Polizei auf der Suche nach dem Mörder ist. Der frühere Buchtitel »Schuld und Sühne« hat dabei etwas religiös Moralisierendes, während der neue Titel das Geschehen als das darstellt, was es ist: Ein Verbrechen. Das Strafe verdient. Der Ermittler kommt Raskolnikow schnell auf die Spur, so aberwitzig und wirr wird sein Verhalten. Er kann ihm das Verbrechen aber nicht beweisen, sucht nach Indizien.

Ein großartiges Buch über die innere Zerrissenheit eines Täters. Wie er immer tiefer in den Strudel seines Wahnsinns hineingezogen wird. Wie er zum Gejagten seiner Selbst wird. Wie er keine Reue empfindet, aber sich vor seiner Tat ekelt. Wie die Justiz ihm das Verbrechen nachweisen will. Wie sich der Kreis der Ermittlungen immer enger zieht. Wer gibt zuerst auf? Ein psychologisches Duell der Extraklasse. Geschrieben vor beinahe 150 Jahren und immer noch spannend. Immer wieder. Dazu als Kulissse das St. Petersburg von 1860: Pulsierendes Leben auf den Prachtboulevards und eine Straße weiter schmutzige Hinterhöfe voller menschlichem Elend. Arm und reich auf engstem Raum nebeneinander, der Nährboden für die wirren Ideen eines Raskolnikows.

Tagelang hatte ich das Buch dabei und habe es fast komplett in Leipziger Cafés gelesen. Ein bisschen mit einem schlechten Gewissen, aber eigentlich ziemlich froh, es zu besitzen. Alle anderen Neuübersetzungen habe ich mir danach brav Buch für Buch gekauft. Denn Swetlana Geier hat es geschafft: Nach »Verbrechen und Strafe« hat sie mit ihren Übersetzungen von »Der Idiot«, »Böse Geister«, »Die Brüder Karamasow«, »Ein grüner Junge« und »Der Spieler« auch die anderen Romane Dostojewskijs behutsam in unsere Zeit gehievt. Kurz danach ist sie im Alter von 87 Jahren gestorben. Eine beeindruckende Übersetzerin. Und ein außergewöhnliches Projekt.

Hinterlassen hat sie uns, den Lesern, einen Dostojewskij für unsere Zeit. Danke dafür.

Buchinformationen
Fjodor M. Dostojewskij, Verbrechen und Strafe
Aus dem Russischen von Swetlana Geier

Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-596-12997-3

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12 Antworten auf „Der Dostojewskij-Relaunch“

  1. Ich habe die komplette Piper Ausgabe; in der Übersetzung von E.K. Rahsin : Großartig. Ich liebe Dostojewski! Mein “ Lieblingsroman“-konträr zu T. Brasch ist “ Der Idiot“.Lange habe ich über „Fürst Myschkin“ nachgedacht und denke noch heute über ihn nach- so, als obes keine Romanfigur wäre, sondern ein Mensch, der wirklich gelebt hat. eine Christusfigur. Freundlichst Ihr Jörg Kayser

  2. Guten Tag, „Verbrechen und Strafe“ war mein erstes Buch von Dostojevskij und glücklicherweise bin ich, ziemlich unbedarft, direkt an die Neuübersetzung von Swetlana Geier geraten. Sie hat mir auch sehr gut gefallen, und dass, ohne dass ich bisher je eine andere gelesen hätte. Aber nach diesem Anfang lohnt es sich ja, erst einmal eine Dostojevskij/Geier-Sammlung aufzubauen – jetzt, wo die großen Werke übersetzt sind.

  3. Wieder herrlich, das zu lesen. Ich hatte bei meiner Einmischung zur Frage, was große Literatur sei (http://thomasbrasch.wordpress.com/2014/09/14/ich-bin-zu-klein-fur-grose-literatur/) eingestanden, dass mir bei der Idiot die Lust auf weitere Dostojewskij erstmal abhanden gekommen ist. Doch „Schuld und Sühne“ hatte ich da zum Glück schon gelesen. Es zählt zu den wichtigsten Büchern meiner Jugend. Denn ich las es in einem Alter als man sich sehr intensiv mit Fragen „Was wäre wenn“ beschäftigte. Und unter anderem eben auch mit der Frage, was wäre, wenn Du jemanden tötest. Dabei war es bei mir nicht mal eine Frage der Absicht, sondern eine der Verantwortung.

    Verantwortlich sein für den Tod eines anderen Menschen, das war und ist mir bis heute eine Gräuel-Vorstellung. Ich benutze diese Argumentationskeule gerne, wenn es um Alkohol am Steuer geht. Was nützt es mir, wenn ich im juristischen Sinn nicht schuldig bin (da der andere den Unfall verursacht hat), aber dennoch befürchten muss, dass ich nüchtern eine Unfall vielleicht hätte vermeiden können.

    Zurück zu Dostojewskij: ich spüre noch heute, wie fasziniert ich von der Entwicklung des überheblichen & coolen Raskolnikows war hin zum vom Gewissen geplagten und Angst zerfressenen menschlichen Elend. Vielleicht verklärt sich da einiges in meiner Erinnerung. Doch ich habe auch diese wachsenden Gewissensbisse in Erinnerung. Und deshalb irritierte mich der Titel der Neuübersetzung damals. Schuld und Sühne war für mich genau der Ausdruck dessen, was ich für mich mitgenommen habe: du wirst niemals über diese Gefühle erhaben sein. Du magst vorher glauben, dass dich manches nicht berührt oder gar kalt lässt. Doch wenn es erstmal unwiederbringlich geschehen ist, wirst du merken, wie es auf ewig besitzt von dir ergreift.

    Ich hatte in meiner Jugend eine heftige Klau-Phase. Rückblickend verharmlose ich sie immer gerne. Doch ich wünsche mir, dass mein Sohn nie soweit geht wie ich damals.

    1. Beeindruckend. Denn das klingt nach einem unglaublilch intensiven Leseerlebnis, danke für das Berichten darüber. Und trifft die Grundaussage von „Schuld und Sühne“ perfekt.

    1. Danke. War mir damals aber wirklich etwas peinlich. Zumal das Buch als gebundene Ausgabe ja auch richtig teuer war bzw. ist. Als späte Wiedergutmachung empfehle ich es hier weiter.

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