Schreibmaschine und Karabiner

Elsa Osorio: Die Capitana

»Die Capitana« von Elsa Osorio ist ein besonderes Buch; eines das heraussticht, eines, das einen beim Lesen nicht mehr loslässt und eines, das sich tief ins Gedächtnis eingräbt. Mit diesem biographischen Roman hat die Autorin nicht nur eine beeindruckende Frau dem Vergessen der Geschichte entrissen, sondern sie nimmt uns mit in jene Epoche des 20. Jahrhunderts, als der Traum von einer gerechten Welt beinahe mit Händen zu greifen war. Es sind Jahre der Umwälzungen, der revolutionären Ideen, der Diskussionen. Jahre des Kampfes. Und Micaela Feldman Etchebéhère, genannt Mika, war immer dabei, niemals am Rand, sondern stets im Zentrum des Geschehens. Rastlos und ruhelos und angetrieben von dem unbändigen Wunsch, die Welt zu verändern.

Die extremste Episode ihres Lebens war ihre Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Als Capitana befehligte sie eine Kolonne der Republikaner – eine Rolle, die sie nicht gesucht hatte, die sich aber fast zwangsläufig so ergeben musste, wenn man ihre Lebensgeschichte liest. Diese zwei Jahre als Kämpferin in vorderster Linie stehen im Mittelpunkt des Buches, doch in vielen Rückblicken und aus unterschiedlichen Perspektiven breitet die Autorin in den Kapiteln dazwischen das gesamte Leben Mika Etchebéhères vor uns aus. 

Geboren wurde sie 1902 im argentinischen Moisés Ville, einer Siedlung jüdischer Einwanderer, die im 19. Jahrhundert vor den russischen Pogromen geflohen waren. Schon früh engagiert sie sich politisch, ohne sich jemals dogmatisch zu binden. Anarchistin, Trotzkistin, Marxistin – alle diese Begriffe greifen zu kurz, im Zentrum ihres Denkens und Handelns steht ihr Leben lang der Kampf gegen Ungerechtigkeit und gegen die Unterdrückung der Armen durch die herrschende Klasse. Als Studentin in Buenos Aires lernt sie durch ihre Mitarbeit an der linken Zeitschrift »Insurrexit« Hippolyte Etchebéhère kennen. Er wurde die Liebe ihres Lebens und sie die des seinen. Zwei charismatische Menschen, wie füreinander geschaffen, sich gegenseitig bestärkend in ihrem revolutionären Idealismus. Die Schilderung ihrer Aktivitäten ist atemberaubend, hier ein weiteres Zeitschriftenprojekt, dort eine vertiefende Beschäftigung mit einem klassenkämpferischen Thema; zusammen mit anderen gründeten sie eine eigene Partei, die »Partido Communista Obrero«, nachdem sie in der Moskau-hörigen Partido Communista keine politische Heimat finden konnten.

Von 1926 an lebten sie mehrere Jahre in Patagonien und arbeiteten als Zahntechniker; diesen Beruf hatten sie an der Uni erlernt. Sie zogen durch das riesige Gebiet, richteten in wechselnden Orten ihre Praxis ein; getrieben von dem Wunsch, Informationen zum 1921 blutig niedergeschlagenen Landarbeiterstreik zu sammeln, bei dem etwa 1.500 Menschen von der Armee erschossen wurden – ein Ereignis, das in Südamerika und in der Welt kaum bekannt war. Und nach wie vor kaum bekannt ist. Auch ich hatte noch nie davon gehört, doch das ist einer der grandiosen Nebeneffekte bei der Lektüre von »Die Capitana«: Als Leser erhält man zahllose Anregungen, sich mit den geschilderten Ereignissen weiter zu beschäftigen. So manches Mal bin ich in der Google-Recherche abgetaucht – mit hochinteressanten Fundstücken wie etwa Informationen über den deutschen Anarchisten Kurt Gustav Wilckens, der ein abenteuerlich-revolutionäres Leben lebte und 1923 ein Attentat auf den Verantwortlichen jenes Massakers an den Landarbeitern verübte.

Mika und Hippolyte zieht es 1931 nach Europa, denn hier »wird das Schicksal der weltweiten Arbeiterklasse entschieden.« In Paris schlagen sie ihre Zelte auf, sie finanzieren sich durch das Schreiben von Zeitschriftenartikeln, durch Sprachunterricht, durch Übersetzungsarbeiten. Immer wieder beeindruckend ist die Schilderung ihrer engen Vernetzung mit unzähligen linken Intellektuellen jener Zeit. Die Kommunikation erfolgt durch Briefe, Diskussionsrunden vor Ort in verqualmten Räumen mit Rotwein und Brot auf dem Tisch, durch Zeitschriftenartikel, durch Besuche in anderen Städten.

Im Herbst 1932 reisen sie für mehrere Monate nach Berlin, um ihre Kontakte zu den deutschen Genossen weiter auszubauen. Hier werden sie Zeugen der Machtübernahme der Nazis und müssen erleben, wie der Faschismus triumphiert – nicht zuletzt auch durch die dogmatische Verbohrtheit der unterschiedlichen linken Kräfte. Zurück in Paris erkrankt Hippolyte an Tuberkulose und vor allem des warmen Klimas wegen sollte Spanien das nächste Ziel sein. Im Juli 1936 sind sie in Madrid – es wird das Schicksalsjahr der europäischen Linken. Und das Schicksalsjahr für Mika und Hippolyte Etchebéhère; mittlerweile sind sie verheiratet. 

»Man konnte die Anspannung förmlich greifen, und endlich stellte sich der Feind. Es war eine Erleichterung, dass es losging. Vor ihnen lag ein schwerer Weg, voller Kämpfe, aber ein wahrhaftiger. Das spanische Volk beschloss, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und rüstete sich zu einer Schlacht, die fast drei Jahre dauern sollte.« 

So erlebten sie die Stimmung auf Madrids Straßen, als die Nachrichten vom Putsch des Militärs den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs markierten, der mit großer Brutalität geführt werden sollte und fast eine Million Tote fordern würde. Und für die beiden ist jetzt die Zeit gekommen, um die Schreibmaschine gegen den Karabiner zu tauschen.

Der Krieg schlägt hart zu und zerstört das persönliche Glück: Hippolyte fällt bereits in den ersten Wochen – und Mika wird zur Kämpferin, immer an vorderster Front, in den Schlachten von Sigüenza, Moncloa, Pineda de Húmera und am Cerro de Ávila. Sie wird bei einem Bombeneinschlag verschüttet, kann im letzten Moment aus der eingeschlossenen und von allen Seiten beschossenen Kathedrale von Sigüenza entkommen, aber sie sorgt auch dafür, dass in den Gefechtspausen Bücher an die Front geschafft werden, um ein Bildungsprogramm für die Soldaten aufzubauen, meist Arbeiter und Bauern, die kaum die Schule besuchen konnten. Mika Etchebéhère erringt die die Achtung ihrer Kameraden, die sie zur Capitana machen – was extrem ungewöhnlich ist angesichts des spanischen Machismo, allen revolutionären Idealen zum Trotz. 

Das alles ist so lebendig beschrieben, dass man die Kämpfer vor sich zu sehen meint; wettergegerbte, von den Strapazen gezeichnete Gesichter, wie auf den Bildern von Gerda Taro und Robert Capa, die den Spanischen Bürgerkrieg photographisch dokumentierten und von denen hier im Blog noch in der Rubrik »Gestatten …?« die Rede sein wird. Von Gerda Taro stammt das Photo auf dem Buchcover, es trägt den Titel »Republikanische Milizionärin bei der Ausbildung, Barcelona 1936«. 

Als die Sowjetunion Verstärkung für die Republik schickt, geraten Mika und die anarchistischen Milizen in das Räderwerk der stalinistischen Säuberungsmaschinerie. Sie stehen damit symbolisch für das Schicksal der spanischen Republik, die es mit Feinden von zwei Seiten zu tun hatte; die zermahlen wurde zwischen Faschismus und sowjetischem Bolschewismus, im Stich gelassen von den europäischen Demokratien, die Stalin mehr fürchteten als alles andere. 

Die Autorin Elsa Osorio, selbst Argentinierin, hat sich zwanzig Jahre mit dem Leben von Mika Etchebéhère beschäftigt, bevor sie begann, »Die Capitana« zu schreiben. Sie sprach mit Zeitzeugen, fand Mikas Publikationen, konnte nach langer Suche ihre Tagebücher und Aufzeichnungen auswerten. Nur Mika selbst hat sie nie getroffen, die 1992 in einem Altenheim in Paris gestorben war.  

Durch Osorios Erzähltechnik entfaltet sich vor unseren Augen ein revolutionäres Leben, immer auf dem Sprung, nur mit dem allernötigsten Besitz, von der Hand in den Mund lebend, engagiert bei Streiks, Revolten, Aufständen. Ein großer Teil des Textes berichtet über Mika Etchebéhère in der dritten Person, dazwischen eingeflochten sind Passagen aus Mikas Ich-Perspektive, es gibt Abschnitte aus der Perspektive von fiktiven und realen Zeitzeugen und in Kursivschrift erfahren wir die Gedanken der Autorin bei ihrer Recherche für das Buch. Hautnah erleben wir dramatische Momente der Geschichte mit, Tage und Wochen, in denen sich das Schicksal der europäischen Arbeiterbewegung entscheiden sollte: Berlin 1933, Madrid 1936 und ein anderes Madrid, nur ein Jahr später, das der Belagerung durch Franco trotzte, sich aber schon unter der Knute von Stalins Handlangern befand: »Das von Artillerie und faschistischen Flugzeugen in die Zange genommene Madrid riecht nach Tod. Kalt. Verletzt. Eine klaffende Wund in der Hochebene.«

Wir schauen hinter das Bild einer unerschrockenen Kämpferin und sehen Trauer und Verlust.

»Als sie vom Tod umgeben war, ertrug sie das Alleinsein gut. Er fehlte ihr nicht, als die Bombe sie unter dem Schlamm begrub, auch nicht, als die Feinde mit Maschinengewehren auf sie schossen, als sie unter Hunger litten, den Läusen und der Kälte, die ihnen in die Knochen kroch. In der täglichen Brutalität des Krieges hat sie die Einsamkeit nicht gefühlt, aber in diesem schönen und lichten Zimmer sitzt er überall.«

Und wir tauchen tief ein in die Welt der linken Intellektuellen, die sich in den Zwanziger- und Dreißigerjahren jenes blutigen Jahrhunderts für eine gerechte Gesellschaft einsetzten – ein linker Universalismus, sich durch ständigen Austausch selbst verstärkend und Millionen von Menschen mobilisierend. Und krachend scheiternd. Die Arbeiterbewegung mit all ihren unterschiedlichen Ansätzen wurde vom Faschismus zerstört, aufgerieben und brutal niedergekämpft. Die Vereinnahmung durch den Kommunismus sowjetischer Prägung mit unzähligen Opfern eines staatlichen Terrors hat sie delegitimiert und jenem universellen, linken Gedankengut den Rest gegeben. 

Über das, was heute als »links« gilt, kann der enfesselte, global agierende Kapitalismus nur müde lächeln. Ein Beispiel sind etwa identitätspolitische Aktivisten, die in ihrer eigenen Engstirnigkeit gefangen sind und mit ihrem Klein-klein schon längst das große Ganze aus den Augen verloren haben.

Was fehlt, ist ein universalistisches, linkes, undogmatisches Denken für einen großen gesellschaftlichen Gegenentwurf.

Was fehlt, sind solche Intellektuelle, Vordenker, Idealisten, Kämpfer, wie wir sie im Buch »Die Capitana« treffen. Und von denen viel zu viele im Strudel der Geschichte untergegangen sind.

Was fehlt, sind Menschen wie Mika Etchebéhère.

Diese Frau kennengelernt zu haben ist nicht nur eine große Bereicherung meines Wissens über das 20. Jahrhundert. Es ist eine Inspiration für das eigene Denken. Was für ein Leben, was für ein Mensch, was für ein Buch.

¡Salud, Compañera!

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg.

Buchinformation
Elsa Osorio, Die Capitana
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold
Insel Verlag
ISBN 978-3-458-17517-9

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2 Antworten auf „Schreibmaschine und Karabiner“

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