Lesen ist Reisen im Kopf – dieser Satz ist vollkommen überstrapaziert, aber vor allem ist er eines: wahr. Und manchmal führen einen diese Reisen in Gegenden, in die man im echten Leben eher nicht kommen würde. So wie etwa nach Kensington im Roman »Long Bright River« von Liz Moore, einem Stadtteil Philadelphias, der allerdings mit seinem edlen Namensvetter in London nichts gemein hat. Denn Philadelphias Kensington ist einer der größten Drogen-Hotspots im Osten der USA und ein Viertel, das geprägt ist von Drogenhandel, Kriminalität, Straßenprostituion, Obdachlosigkeit, leerstehenden Industriebauten, Abbruchhäusern, zugemüllten Brachflächen, Perspektivlosigkeit und kaputten Menschen. Und einer Menge Drogentoten, Jahr für Jahr. Dazwischen leben diejenigen, die schon immer dort wohnen, die es sich nicht leisten können, wegzuziehen. Oder es auch nicht wollen. Die sich irgendwie arrangieren, durchschlagen, kleine Geschäfte betreiben, Nagelstudios, Handy-Läden, Mini-Märkte, Pfandhäuser, Diner oder einfache Cafés und auf ein besseres Morgen hoffen. Und zwischen dem Elend auf der Straße blinzelt die Gentrifizierung durch die Abgase und den Staub, denn die Mieten sind billig, ziehen die ersten jungen Leute mit Geld an, die gerne urbane Bohème spielen, »ernst, reich, naiv«. Hippe Imbisse, Craft-Bier-Kneipen oder schicke Cafés sind in den letzten Jahren im Viertel aufgetaucht; mit Preisen, die sich die Alteingesessenen kaum leisten können.
Diese Bilder, mit denen ich versuche, einen Stadtbezirk zu beschreiben, in dem ich noch nie war, hat mir Liz Moore geliefert. Denn Kensington steht im Mittelpunkt ihres Romans, die beiden Protagonistinnen sind hier im Straßengewimmel unterwegs. In diesem Viertel aufgewachsen könnten ihre Leben nicht unterschiedlicher sein. Ich-Erzählerin Michaela »Mickey« fährt als Streifenpolizistin durch Kensington, ihre Schwester Kacey ist drogenabhängig und geht auf der Kensington Avenue anschaffen; auf der »Ave«, wie die große Straße von allen genannt wird, dort, wo zahlreiche ihrer Leidensgenossinnen anzutreffen sind, denn »die Grundlinie ist immer die Ave, das Gefühl von Familie und Routine, das sie bietet.« Während die die Trasse der Hochbahn die Ave überschattet, ein schon fast bedrohlich wirkender, endloser Stahlkoloss.
Die beiden Schwestern reden schon seit Jahren nicht mehr miteinander, doch Michaela hat stets ein Auge auf ihre kleine Schwester. Begleitet sie aus der Ferne auf ihrem Weg nach unten; ihr helfen zu wollen hat sie desillusioniert aufgegeben. Aber jetzt ist Kacey verschwunden, ist seit Wochen nicht mehr an den üblichen Stellen zu sehen gewesen. Dann ereignet sich ein Mord.
Gleich mit dem ersten Satz des Romans werden wir Leser damit konfrontiert: »An dem Gleis entlang der Gurney Street liegt eine Leiche.« Michaela und ihr Einsatzpartner sichern den Tatort und von Beginn an ist die Unruhe zu spüren, die sie umtreibt. Denn die Tote ist eine Prostituierte und sie wird nicht die letzte Ermordete bleiben. Voller Sorge beginnt Michaela nach ihrer Schwester Kacey zu suchen, fragt deren Freundinnen und Bekannte auf der Straße – viele von ihnen kennt sie seit Schulzeiten. Tiefer und tiefer gräbt sie, mißtrauisch beäugt von allen Seiten. Auch von ihrer Familie, ihren Cousins und Onkeln und Tanten, die ebenfalls Verbindungen in die Drogenszene haben, ob als Verkäufer oder Konsumenten. Denn sie ist ein Cop und hat damit ihre Seite gewählt. Als sie beginnt, nach dem Mörder zu suchen, überschreitet sie ihre Kompetenzen als Streifenpolizistin, sitzt endgültig zwischen allen Stühlen. Und gibt nicht auf.
Die Suche nach der Schwester und die Suche nach dem Mörder stehen auf den ersten Blick im Zentrum der Erzählung und bringen die Handlung voran. Aber das täuscht. Denn die eigentliche Spannung entsteht aus den vielen Rückblicken auf die Leben von Michaela und Kacey. Auf ihre freudlose Kindheit, auf den frühen Tod der Mutter, auf ihr ärmliches Aufwachsen, auf die Schulzeit, in der sich ihre Wege zu trennen begannen, auf Kaceys langsamen, aber unaufhaltsamen Absturz, auf die Welt der Drogen, die den Stadtteil zerfressen, auf verpasste Chancen und Michaelas Weg in den Polizeidienst. Und auf ein Ereignis, das die beiden eng miteinander verbunden und gleichzeitig endgültig getrennt hat.
Genauso beeindruckend geschildert ist das Leben Michaelas als alleinerziehende Mutter, abhängig von einer unzuverlässigen Nanny, immer in Eile, immer zu spät, immer mit schlechtem Gewissen, immer in Furcht vor dem Ex. Und ohne die finanziellen Möglichkeiten für eine Kindertagesstätte in einem Viertel, in dem man sein Kind mit gutem Gefühl betreuen lassen würde. Auch dieser Teil ihres Alltags nimmt im Laufe des Romans mehr und mehr Raum ein. Verzahnt sich mit der Suche nach ihrer Schwester, der Suche nach einem Mörder, der Suche nach einer Perspektive für ihr Leben. Und das ihres Sohnes.
Die Krimikomponenten des Romans rücken dabei etwas an den Rand, auch wenn sie noch ordentlich Staub aufwirbeln. Natürlich wird die Mordserie aufgeklärt, aber vor allem gelingt Liz Moore mit den Mitteln eines Kriminalromans eine einfühlsame Milieustudie und eine Geschichte über Herkunft, Chancengleichheit, Korruption und verschobene Wertvorstellungen. Und das ganz ohne die Selbstmitleidschiene, die mich etwa im Roman »Writers & Lovers« so gestört hat, und ohne mit plakativ-ermüdender Betroffenheit Klassismus anzuprangern. Liz Moore schaut lediglich genau hin und das hat eine viel eindrucksvollere Wirkung. Sie schaut auf die Menschen Kensingtons, urteilt nicht, sondern beschreibt das harte Leben voll Empathie und Mitgefühl. Sie zeigt die vielen Facetten dieses Stadtteils mit seinen einfachen Menschen, die nicht viel zu erwarten haben von der Zukunft, die ständig umgeben sind von Drogen, Hoffnungslosigkeit und Gewalt und die wissen, dass es jeden treffen, dass jeder abrutschen kann. Manche bekommen eine Chance, manche sogar eine zweite. Andere aber gar keine. Nie.
Kriminalliteratur als Vehikel für eine großartig erzählte Familiengeschichte, zwei Schwestern mit unterschiedlichen, beispielhaften Lebensläufen und ein Stadtteil wie eine kleine, kaputte Welt für sich. Und als räumliche Konstante immer wieder die Kensington Avenue, die Ave, die schnurgerade durch diese Welt führt.
Irgendwann bin ich neugierig geworden und wollte mir diese Straße einmal anschauen. Und Google Streetview liefert einen Eindruck, den man nicht so schnell vergisst. Genausowenig wie dieses Buch.
Buchinformation
Liz Moore, Long Bright River
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-74884-4
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ich kann mich der Empfehlung von Kaffehaussitzer nur anschließen. Ein ganz starkes Buch , dass man noch in diesem Frühjahr 2021 lesen sollte, weil es neben Spannung und Unterhaltung sehr viel über die USA als Paradigma aussagt: die Chancenungleichheit (gender, ethnic u.a.)
Hallo Uwe,
schon lange schleiche ich um diesen Roman herum. In vielen Buchhandlungen liegt er auf den Bestseller-Tischen und er wird relativ üppig beworben. Manchmal hält mich eine derartige Omnipräsenz davon ab, ein Buch zu kaufen. Deine Empfehlung und die verlinkten weiteren Informationen haben mich jetzt aber doch überzeugt. Der Lockdown wird ja verlängert, da bleibt außer lesen ja nicht viel mehr an Freizeitgestaltung und mein Buchhändler (endlich wieder eine richtige Buchhandlung in meiner kleinen Stadt) wird sich über Bestellungen freuen.
Vielen Dank für die Empfehlung!
Liebe Grüße
Petra
Hallo Petra,
ich kann Dich gut verstehen. So manches Buch habe ich nicht gelesen, weil ich es zu oft angepriesen gesehen habe. In diesem Fall hätte ich aber wirklich etwas verpasst. Bin gespannt, ob und wie es Dir gefällt.
Herzliche Grüße
Uwe