Täterland ist abgebrannt

Andreas Pflueger: Ritchie Girl

»So hätte ein Roman beginnen können, der im Reich der Toten spielte: mit den Schemen von Häusern, die sie fühlte, obwohl sie nicht mehr da waren, Geistergebäude, blumengeschmückt, fahnenbehängt, an jedem Fenster schreiende Menschen, ihre Heil-Rufe ein Echo, so wie alles in  Deutschland nur noch ein Echo war – von Schamlosigkeit und Obszönität und Gier, von Hass, von weißer Farbe, die auf Schaufensterscheiben klatschte, von klirrendem Glas, von Zahnbürsten auf Straßenpflaster, vom Wegschauen, Schulterzucken, dem Was-hätte-ich-denn-tun-können, dem Das-ging-mich-nichts-an. Das schlimmste und lauteste Echo, der wahre Grund für all dies. Sie fragte sich, was käme, wenn die Echos irgendwann verhallt wären, wenn es still wurde.«

Der Roman »Ritchie Girl« von Andreas Pflüger ist voller Textstellen, die einen den Atem stocken lassen und die einen tief in die erzählte Geschichte hineinziehen. Doch diese starke Passage ragt noch einmal daraus hervor und ich konnte nicht anders, als die Buchvorstellung mit ihr beginnen zu lassen. Denn mit wenigen Worten skizziert der Autor darin ein Land in Trümmern, besiegt, zerstört, am Ende. Und beladen mit einer Schuld, wie es sie nie zuvor gegeben hat.

Mit »sie« ist Paula Bloom gemeint, die gegen Ende des zweiten Weltkriegs im Dienst der US-Army in Italien eintrifft. Mit der Ankunft in Genua beginnt das Buch – die Stadt liegt in Schutt und Asche, im Hafenbecken treiben Leichen, »von den Quais hingen Krangerippe halb ins Wasser, ihr Stahl verbogen von gewaltiger Hitze.« 

Paula hatte eine Ausbildung im Camp Ritchie erhalten, einer Einrichtung in der unter anderem deutschstämmige Amerikaner oder deutsche Emigranten trainiert wurden, um gegen das NS-Regime in Europa zu kämpfen. Prominente Namen waren dabei, Stefan Heym etwa oder Klaus Mann. Paula Bloom ist eine der wenigen Frauen, die von dort an die Front geschickt werden, um als Dolmetscherin zu arbeiten. Ihr Vater war Douglas Bloom, ein amerikanischer Geschäftsmann. Nachdem er gegen den Willen seiner reichen Familie eine Deutsche geheiratet hatte, lebte er seit den Zwanzigerjahren in Berlin, der Stadt, in der Paula geboren wurde. Er vertrat dort die Interessen amerikanischer Großunternehmen in Deutschland – auch nach der Machtergreifung der Nazis, als die Geschäfte zunehmend schmutziger wurden. In seiner Villa in Berlin-Grunewald gehen Männer wie Hjalmar Schacht, Albert Speer oder Allen Dulles ein und aus – widerwärtige Menschen, die beispielhaft dafür stehen, dass Profite wichtiger sind als Moral oder Menschenleben.

Paula bekommt nicht viel von den Geschäften ihres Vaters mit; erst später wird ihr klar, mit wem er sich eingelassen hat. Sie wächst in wohlhabenden Verhältnissen auf, doch der frühe Tod der Mutter wirft einen ersten Schatten auf ihr Leben. Bald darauf verdunkelt sich das ganze Land, und als 1937 ihr Vater mit betrunkenen SA-Schlägern aneinandergerät und von ihnen ermordet wird, verlässt sie Deutschland in Richtung USA. Zurück bleiben Georg, eine unglücklich geendete Jugendliebe, und ihre beste Freundin Judith, die nach zahlreichen antisemitischen Anfeindungen verschwunden ist – zwei Namen, die im Verlauf der Romanhandlung sehr oft erwähnt werden. Paula ist eine junge Frau, gezeichnet von Verlust, Sorge und Angst. Doch als sie wiederkommt, trägt sie die Uniform der amerikanischen Armee. 

Gerade frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, die Komplexität der Hauptfigur Paula Bloom mit ein paar dürren Worten darzustellen. Denn mit ihr hat Autor Andreas Pflüger eine Protagonistin geschaffen, in deren Leben die historischen Verwerfungen, von denen er erzählen wird, fast komplett aufeinandertreffen. Ein beeindruckender erzählerischer Kniff, der es wiederum nicht einfach macht, sie hier zu charakterisieren. Durch ihre Herkunft ist sie bestens vernetzt, doch durch ihre Erlebnisse gleichzeitig wurzellos, unendlich traurig. Und wütend. Wütend auf die Deutschen, die Europa mit einem verbrecherischen Krieg überzogen haben, wütend auf die Mörder in SS-Uniformen, die unfassbare Grausamkeiten zu verantworten haben, willfährig unterstützt von der Wehrmacht. Wütend auf die Profiteure dieses Zivilisationsbruchs, zu denen auch die alten Geschäftspartner ihres Vaters auf beiden Seiten des Ozeans gehören. Und wütend auf die amerikanischen Bestrebungen, zahlreiche deutsche Verantwortliche ungestraft davonkommen zu lassen.

Der größte Teil des Romans spielt im Jahr 1946. Während in Nürnberg die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher stattfinden, bilden sich hinter den Kulissen neue Allianzen. Wir treffen Paula bei ihrer Ankunft in Frankfurt wieder, »die Stadt gähnte sie an wie ein Mund, aus dem alle Zähne herausgebrochen waren.« Sie soll in »Camp King« eingesetzt werden, einem Lager, in dem Deutsche interniert sind, die möglicherweise über wertvolle Informationen verfügen. Bei ihrem Einsatz wird uns Lesern die Dramatik jener Zeit deutlich, denn es geht nicht um Gerechtigkeit und Verantwortung, sondern darum, sich gegen den neuen Feind Sowjetunion in Stellung zu bringen – und aus SS-Kadern und Kriegsverbrechern werden neue Verbündete. Bestes Beispiel dafür ist Reinhard Gehlen, der Gründer unseres Bundesnachrichtendienstes, den wir in Andreas Pflügers Roman ebenfalls kennenlernen. Bei all diesen Entwicklungen und Winkelzügen konkurriert der CIC, der Geheimdienst der US-Army, dabei mit dem OSS, einem Vorläufer der CIA – deren erster Direktor Paulas alter Bekannter Allen Dulles werden sollte. 

An dieser Stelle bin ich beim Schreiben dieser Buchvorstellung hängengeblieben und habe zwei, drei Tage lang überlegt, wie ich sie weiterführen und beenden soll. Üblicherweise liegt das Buch, um das es jeweils geht, neben dem Rechner, ich überlege, was es für mich besonders gemacht hat und wie ich dies in Worte fassen kann. »Ritchie Girl« allerdings hat so viele Facetten, die es zu einem außergewöhnlichen Buch machen, dass ich Gefahr laufe, mich in diesem Text zu verzetteln. Mehr zur Handlung sollte ich nicht erzählen, und was genau Paulas Auftrag im »Camp King« sein wird, muss nicht Gegenstand dieser Buchvorstellung sein. Es sind drei Hauptthemen, um die es in diesem Roman geht, und die Andreas Pflüger in der Person seiner Protagonistin meisterhaft miteinander verknüpft hat. 

Zum einen ist es die Situation im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Durch Paulas Augen sehen wir Elend und Not, halbverhungerte Menschen, die versuchen, inmitten der Trümmer irgendwie zu überleben. Durch ihre Nase riechen wir den Gestank der Verwesung, der über den eingestürzten und zerbombten Häusern hängt. Während nach und nach das Ausmaß der deutschen Verbrechen deutlich wird, während Ortsnamen wie Auschwitz oder Treblinka zu Synonymen für einen vollkommenen Zivilisationsbruch werden; im Roman fällt der Name Eichmann zu Beginn wie beiläufig und kaum jemand kennt ihn – was sich im Laufe der Handlung ändern wird. Eines der vielen Details dieses Buches. 

Und damit sind wir beim zweiten Hauptthema des Buches: Schuld und Sühne. Kann einem Tätervolk, das unfassbare Barbarei über einen Kontinent gebracht hat, jemals vergeben werden? Anfangs hat Paula keinerlei Mitleid mit den ausgemergelten Menschen in den Stadtruinen, die in ihren Augen das erhielten, was sie verdienten, als sie voller Begeisterung einer Verbrecherbande in den Abgrund folgten. Erst durch ihren Kollegen und Freund Sam – ein jüdischer Emigrant, den sie aus dem Camp Ritchie kennt – lernt sie, Dinge differenzierter zu sehen. Besonders als sie merkt, wie die Hauptverantwortlichen in Scharen davonkommen werden, da ihr Wissen zu wichtig für die Geheimdienste ist. 

Und das dritte große Thema ist die enge Verzahnung zwischen der Nazi-Herrschaft und der Industrie. Nicht zufällig ist auf dem Buchcover ein Bild des I.G.-Farben-Gebäudes in Frankfurt abgedruckt. Die I.G. Farben waren ein Zusammenschluss von acht großen deutschen Unternehmen; in dieser Konstellation seinerzeit das größte Chemieunternehmen der Welt. Der Name steht wie kaum ein anderer für eine über Leichen gehende Profitgier in den Diensten des »Dritten Reiches«. Andreas Pflügers Roman beschäftigt sich dabei mit einem besonderen Aspekt: Mit dem Engagement US-amerikanischer Investoren bei I.G. Farben, das noch bis weit in den Krieg hinein dauerte. Abgewickelt wurden diese Geschäfte mit Hilfe entsprechend ausgerichteter Kanzleien in den USA, etwa der von Allan Dulles. Dabei geht es dem Autor aber in keinster Weise um Relativierung der Nazi-Verbrechen, denn auch wenn eine Profitgier jenseits aller moralischen Vorstellungen verachtenswert sein mag – die Täter saßen an deutschen Schreibtischen. 

Die gesamte Romanhandlung bewegt sich eng an der historischen Realität; im Nachwort gibt es Erläuterungen, wann vereinzelt aus dramaturgischen Gründen davon abgewichen wurde. Ein Großteil der Handelnden hat es tatsächlich gegeben, auch über sie können die Leser sich im Nachwort informieren. 

Andres Pflüger verbindet die geschichtlichen Fakten mit einer spannenden Romanhandlung, aber vor allem besticht das Buch durch seine Sprache. Eine Sprache, die real wirkende Bilder im Kopf entstehen lässt und uns dadurch eindrucksvoll eine Zeit nahebringt, in der die Weichen für unsere heutige Weltordnung gestellt wurden. Zum Abschluss dieser Buchvorstellung gibt es daher eine weitere Textstelle, in der wenige Sätze genügen, um mit den Lebenslügen einer ganzen Generation abzurechnen. 

»So bitter sehnte Paula sich danach, dass es einen gäbe, einen Einzigen bloß, der vor sich selbst und der Welt sein Versagen eingestand, nicht jammerte, wie schlimm es ihm erging, nicht fragte, womit er dieses Elend verdient hatte, nicht stammelte, er habe ja nichts gewusst und seine Kinder hätten mit Juden gespielt; der nicht von Befreiung faselte, das verlogene Blöken von Schafen, die nach einem Wolfsrudel gelechzt hatten. Und genauso schamlos war das Wort Zusammenbruch. Wie konnte man das in den Mund nehmen nach der totalen Kapitulation jeder Menschlichkeit? 
Und damit meinte Paula nicht 1945. 
Sondern 1933.«

Große, sehr große Leseempfehlung!

Buchinformation
Andreas Pflüger, Ritchie Girl
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3518-43027-9

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