Don’t judge a book by its cover

»Don’t judge a book by its cover« – diese Redewendung wird meist metaphorisch benutzt. Doch bei dem Roman »Feindesland« von Christopher J. Sansom ist der Satz im wortwörtlichen Sinne zutreffend. Denn wäre mir der Autorenname nicht bereits von der grandiosen Matthew-Shardlake-Reihe her bekannt gewesen, dann hätte ich das Buch aufgrund der Covergestaltung keinesfalls beachtet. Ein Mensch in Rückenansicht vor einem neblig-dramatischen Hintergrund: von außen sieht es aus wie einer dieser Thriller von der Stange; austauschbare Genre-Literatur, Dutzendware, vorhersehbar und uninteressant. Doch weit gefehlt, denn hinter dem unsäglichen Umschlagbild verbirgt sich eine düstere, alternativ-zeitgeschichtliche Romanhandlung vom Feinsten. Eine, die es sogar fast mit Robert Harris »Vaterland« aufnehmen kann – und das will etwas heißen.

Der 10. Mai 1940 ist ein wichtiges Datum in der Geschichte unserer Zeit. Am späten Nachmittag dieses Tages wurde Winston Churchill zum britischen Premierminister ernannt, nachdem sein Vorgänger Neville Chamberlain zurückgetreten war. Churchill war nicht sonderlich beliebt; seit dem katastrophal gescheiterten Angriff auf die Dardanellen im Ersten Weltkrieg, den er als damaliger Erster Lord der Admiralität zu verantworten hatte, galt er auch in seiner eigenen Partei – den Konservativen – als umstritten. Doch als rücksichtsloser, hochintelligenter Machtmensch ist er genau die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn Winston Churchill ist ein erbitterter Feind Hitlers und der faschistischen Tyrannei, die Europa zu verschlingen droht. Während die Wehrmacht Westeuropa überrennt, schwört er die Briten auf eine harte Zeit und auf heftige Kämpfe ein. Seine Rede »We shall fight at the beaches«, die er am 4. Juni 1940 im britischen Unterhaus hielt, ist eine Sternstunde der Rhetorik. Die zentrale Aussage lautet »we shall never surrender«. Und genau so ist es gekommen. 

»We shall go on to the end, we shall fight in France, we shall fight on the seas and oceans, we shall fight with growing confidence and growing strength in the air, we shall defend our island, whatever the cost may be, we shall fight on the beaches, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and in the streets, we shall fight in the hills; we shall never surrender.« Hier im Originalton

Sein Gegenhalten, sein unnachgiebiger Widerstand, seine Weigerung, mit Hitler zu verhandeln, trug entscheidend dazu bei, dass Nazi-Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte. 

Im Roman »Feindesland« hat nichts davon stattgefunden, denn hier verläuft die Geschichte anders. Und eine einzige Entscheidung verändert alles. Der Prolog beginnt am 10. Mai 1940, doch nicht Churchill wird Premierminister, sondern der zögerliche und vorsichtige Lord Halifax. Und als wenige Seiten später die eigentliche Handlung startet, werden wir Leser in das Europa des Jahres 1952 geschickt. Eines, das nicht mehr wiederzuerkennen ist. 

Nachdem Lord Halifax mit Hitler ein Friedensabkommen geschlossen hatte, machte dies den Weg frei für ein vom »Dritten Reich« dominiertes Europa. Ein gigantischer Unrechtsstaat entstand; die besetzten Gebiete wurden ausgebeutet und ächzten unter der Knute von SS und Gestapo. 1952 war die jüdische Bevölkerung Europas so gut wie verschwunden, deportiert in Richtung Osten. Angeblich »umgesiedelt«, doch furchtbare Gerüchte über Vernichtungslager kursierten, die niemand laut auszusprechen wagte. Gleichzeitig dauerte der Abnutzungskrieg zwischen Deutsch-Europa und der Sowjetunion nun viele Jahre, verschlang Unmengen an Menschenleben, Ressourcen und Geld. Und ein Ende ist nicht abzusehen. 

Die britische Insel war zwar kein besetztes Gebiet, doch durch engste wirtschaftliche Abhängigkeit an das deutsche Europa gebunden. Die faschistischen Organisationen Großbritanniens, die bereits vor dem Krieg aktiv waren, haben staatstragenden Einfluss erlangt, die Regierung ist eine Marionette Berlins und ein von Deutschland gesteuerter Geheimdienst hält das Land unter Kontrolle. Die eigentliche Macht geht von der deutschen Botschaft aus, einem neunzehnstöckigen, festungsartigen Gebäudeensemble mitten in London. Winston Churchill wiederum ist untergetaucht und wirkt als Anführer einer Widerstandsbewegung, der »Resistance«, im Verborgenen. Immer wieder tauchen illegal gepresste Schallplatten auf, mit denen er zum Kampf gegen die herrschenden Zustände aufruft.

Das ist die Welt, die Christopher J. Sansom in seinem Roman entwirft; unzählige Details lassen sie schaurig echt wirken und im Nachwort beschreibt er ausführlich, wie er anhand geschichtlicher Analysen sein Alternativeuropa erschaffen hat. Und vor dieser dystopischen Kulisse entwickelt er ein Drama, das langsam beginnt, aber dann eine Fahrt aufnimmt, die nicht mehr zu stoppen ist. 

Dabei sind die Eckpunkte der Handlung schnell erzählt: In einem psychiatrischen Krankenhaus in der Nähe Birminghams wurde ein Patient namens Frank Muncaster untergebracht, nachdem er seinen Bruder Edgar bei einem Streit aus dem Fenster gestoßen hatte. Edgar wiederum lebt in den USA und arbeitet dort an einem streng geheimen Waffenprojekt mit; es ist nicht schwer zu erraten, um was es sich handeln könnte. Als es zur Auseinandersetzung kam, war er nur kurz zu Besuch in England – aber der Vorfall hat genügt, um eine Menge Aufmerksamkeit auf Frank zu lenken, denn möglicherweise weiß er mehr von der Tätigkeit seines Bruders.

Gunther Hoth ist Sturmbannführer der SS, der von der SS-Zentrale in Berlin mit einem Sonderauftrag nach London geschickt wurde: Er soll mit allen Mitteln herausfinden, was Frank Muncaster weiß. Allerdings im Geheimen, denn Hitler ist schwerkrank und seine potentiellen Nachfolger bringen sich in Stellung für einen Machtkampf – für den SS-Chef Heinrich Himmler wäre es ein gelungener Coup, mehr über die US-Atomwaffenforschung in Erfahrung zu bringen.  

David Fitzgerald arbeitet in der Dominions-Verwaltung; durch seinen Freund Geoff Drax ist er in Kontakt mit der Resistance gekommen. Während ihrer Studienzeit in Oxford wohnten sie mit Frank zusammen – und so erhalten die beiden den Auftrag, zusammen mit der Aktivistin Natalie zur Psychiatrie zu fahren, Frank Muncaster herauszuholen und ihm mit Hilfe anderer Widerständler die Flucht aus England zu ermöglichen. 

Natürlich kommt alles anders als geplant und viele weitere Menschen werden in die Aktion hineingezogen; alle zu nennen ließe diese Buchvorstellung aus den Nähten platzen. Eine blutige Jagd beginnt, bei der niemand mit offenen Karten spielen wird. Bei der die Verfolger zunehmend brutaler agieren. Und bei der kein Pardon zu erwarten ist. Von beiden Seiten nicht. Dabei sind die Personen, die im Auftrag der Resistance unterwegs sind, nie als Helden dargestellt – sie sind unsicher, haben Angst, aber machen einfach das, was sie tun müssen. Weil sie ihre Wahl getroffen haben. Und weil es für sie kein Zurück mehr geben kann.

Dem Autor C.J. Sansom geht es bei alldem nicht nur um eine packende Story mit Verfolgungsjagden und Schießereien. Vielmehr beschreibt er eine britische Gesellschaft kurz vor dem endgültigen Abgleiten in den Faschismus, in ein System der Unterdrückung und Ressentiments – allen mutigen Resistance-Aktionen zum Trotz. Besonders das Gift des Antisemitismus hat sich bereits tief eingefressen: In einer der bedrückendsten Szenen des Buches werden jüdische Familien in den Straßen Londons zusammengetrieben, um in Auffanglager gebracht zu werden – von wo aus die Deportation in das deutsche Hoheitsgebiet erfolgen soll. Eine düstere Stimmung liegt über der gesamten Romanhandlung und als Leser stellte ich mir immer dringlicher die Frage: Kann sich das alles noch wenden? 

Und wie konnte es so weit kommen?

Kann ein einzelner Mensch den Lauf der Geschichte prägen?

In seinem epischen Werk »Krieg und Frieden« hat sich Leo Tolstoi an mehreren Stellen seitenlang über Geschichtsphilosophie ausgelassen. Er war der Meinung, dass insbesondere kriegerische Ereignisse stets von der Masse ausgelöst und getragen werden und es daher für einen einzelnen Menschen nahezu unmöglich ist, sie in die eine oder andere Richtung zu beinflussen. Oder gar steuern zu können. Meine Lektüre von »Krieg und Frieden« ist schon einige Jahre her und ich hoffe, dass ich die Essenz seiner geschichtsphilosophischen Ausführungen hier richtig wiedergebe. Als ich »Feindesland« gelesen habe, kamen sie mir jedenfalls wieder in den Sinn, denn ich glaube sehr wohl, dass einzelne Personen Entscheidendes bewirken können: Winston Churchills Ernennung zum Premierminister, die in der Realität glücklicherweise stattgefunden hat, ist ein Beispiel dafür. Und – wie schon gesagt – er war die richtige Person zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, um das personifizierte Böse aufzuhalten und letztendlich zu besiegen.

Heute werden Stimmen laut, die Churchill als Imperialisten, als Rassisten, als Werkzeug des britischen Kolonialismus bezeichnen und die an ihn erinnernden Denkmäler in Frage stellen. Man mag ihm das in unserer dauerempörten Zeit posthum alles vorwerfen und sicherlich gibt es viel an Winston Churchill zu kritisieren. Doch alleine für seine Unnachgiebigkeit gegenüber dem »Dritten Reich« und dem Faschismus hat er jedes einzelne Denkmal verdient. 

Gestern. Heute. Und morgen.

Buchinformation
Christopher J. Sansom, Feindesland
Aus dem Englischen von Christine Naegele
Heyne Verlag 
ISBN 978-3-453-43942-9

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4 Antworten auf „Don’t judge a book by its cover“

  1. Interessant – hast Du es in Ubersetzung gelesen? Weil ich es nicht fertiglesen konnte auf Englisch (obwohl ich die Shardlake Serie sehr gern mag). Obwohl das Konzept recht interessant war, und am Anfang hab ich es sogar genossen, aber dann war die Geschichte einfach zu lang, zu viele Personen (verwechselbar oder ein Stereotyp) und die Sprache sehr steif, unnaturlich.

    1. Ich habe die Übersetzung gelesen, aber ich weiß, was Du meinst. Wobei mich eine gewisse Langatmigkeit nicht gestört hat, da sie mit dazu beiträgt, die geschilderte alternative Welt mit immer weiteren Details anzureichern. Und das fand ich sehr gelungen und spannend. Als steif habe ich die Sprache nicht empfunden; sie passte für mich zur geschilderten Zeit. Aber es ist immmer wieder interessant, wie unterschiedlich Menschen ein Buch lesen – danke für Deinen Kommentar.

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