Im Jahr 2007 startete Volker Kutscher seine Buchreihe um den Kommissar Gereon Rath, den es 1929 von Köln nach Berlin verschlägt und der dort den Weg in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« miterleben wird. Ich weiß noch, wie ich den ersten Band – »Der nasse Fisch« – zum ersten Mal sah und durch das Buchcover sofort meine Neugier geweckt wurde: Eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren, eine Limousine, die am Bürgersteig parkt und von Kindern bewundert wird, daneben eine Litfaßsäule, die wie eine Reminiszenz an »Emil und die Detektive« wirkt. Seitdem begleite ich Gereon Rath und Charlotte Ritter auf ihrem Weg durch die immer finsterer werdende Geschichte und auch dreizehn Jahre später ist meine Begeisterung für diese Reihe ungebrochen; der im November 2020 erschienene achte Band »Olympia« spielt im Jahr 1936. Und Gereon Rath ist inzwischen ein desillusionierter Polizist, der sich Gedanken macht über den Sinn von Mordermittlungen in einem Land, das von Mördern regiert wird.
Mit der Olympiade in Berlin, deren Termin noch zu Zeiten der Weimarer Republik festgelegt worden war, ergab sich für das Nazi-Regime eine einzigartige Möglichkeit, sich der Welt als friedliches, weltoffenes Land zu präsentieren. Und damit das Image aufzupolieren, das durch Ausschreitungen, Morde, Verfolgung Andersdenkender, das Verbot anderer Parteien und die zahlreichen gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung gerichteten Maßnahmen stark gelitten hatte. Unzählige Besucher aus aller Herren Länder wurden in der Hauptstadt erwartet, die Schaukästen des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer« waren entfernt oder mit anderen Inhalten bestückt worden, allerorts verschwanden die »Nicht für Juden«-Schilder aus dem Straßenbild. Während gleichzeitig hinter den Kulissen das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet wird – nur wenige Kilometer vom Olympiagelände entfernt.
»Obwohl es bis zur Eröffnung der Spiele noch eine Woche hin war, bejubelten die Zeitungen schon jetzt jede Mannschaft, jeden Staatsmann, jede Berühmtheit, die wegen der Olympiade in der Stadt eintraf. Berlin war auf eine ekelerregende Weise von sich selbst besoffen.«
Das sind die Gedanken von Charlotte »Charlie« Ritter, die den Lesern seit dem ersten Band bekannt ist und seit einigen Bänden Charlotte Rath heißt. Sie ist die Hellsichtigere der beiden, denn ihr ist schon längst klar, wohin die Reise geht, was die Nazi-Herrschaft für Deutschland bedeutet. Den Polizeidienst hat sie verlassen und arbeitet gemeinsam mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten Wilhelm Böhm – für den es nach der »Machtübernahme« ebenfalls keine Zukunft in der Mordinspektion mehr gab – als Privatdetektivin. Gereon Rath hat lange, viel zu lange, an dem Gedanken festgehalten, dass Polizeiarbeit nichts mit Politik zu tun habe. Welch ein fataler Irrtum! Im Polizeipräsidium wird er schief angesehen, weil er kein Parteimitglied ist, viele seiner Kollegen sind zu überzeugten Nazis geworden; allen voran sein alter Freund Reinhold Gräf, der jetzt für die Gestapo arbeitet. Überhaupt dürfte spätestens 1936 auch für den naivsten Polizisten klar sein, dass der Polizeiapparat zum Handlanger des Regimes verkommen ist: Mit einem Erlass vom 17. Juni 1936 – kurz vor der Olympiade – wurde Heinrich Himmler zum Chef der deutschen Polizei ernannt. Damit waren SS, Gestapo, Sicherheitsdienst und die Polizei unter einem Dach vereint; das Instrument einer verbrecherischen Willkürherrschaft mit enormer Durchschlagskraft. Wer mehr darüber wissen möchte: Auf der Seite Zukunft braucht Erinnerung wird die Geschichte der Polizei im Nationalsozialismus übersichtlich dargestellt.
Mitten in dieser unheilvollen Gemengelage steckt Gereon Rath fest. Als wenige Tage vor der Eröffnung der Olympiade ein amerikanischer Funktionär an einer Vergiftung stirbt, wittert die Gestapo eine kommunistische Verschwörung, die den Erfolg der Olympiade torpedieren will. Rath wird als Ermittler in das olympische Dorf eingeschleust und soll die Verschwörer finden – während die SS das macht, was sie am besten kann: Foltern. Es gibt weitere Tote, die olympischen Spiele beginnen und Gereon Rath stößt auf eine Mordserie, der bereits mehrere Angehörige einer Sondereinheit von Hermann Göring zum Opfer gefallen sind. Die Ermittlungen führen Gereon Rath zurück zu einem Ereignis, das er gerne vergessen würde, aber das im Jahr zuvor alles für ihn geändert hat. Und wie so oft sitzt er am Ende zwischen sämtlichen Stühlen, aber diesmal geht es für ihn – und für Charlotte – darum, zu überleben. Eine einzige Chance wird es geben, aber er muss die schwerste Entscheidung seines Lebens treffen.
Volker Kutscher gelingt mit seiner Romanreihe etwas Einzigartiges: Er schlüpft in die Rolle eines Chronisten dieser unheilvollen Zeit und beschreibt ohne »Wie konntet ihr nur«-Attitüde der Nachgeborenen Deutschlands Weg in die Dunkelheit – mit Hilfe von Kriminalfällen. Zahllose Figuren tauchen in den mittlerweile acht Bänden auf; überzeugte Nazis, Mitläufer und Opportunisten, Gleichgültige, Opfer und Verfolgte, Menschen, die voller Verzweiflung die Entwicklungen sehen, ohne daran etwas ändern zu können – und viele, die einfach nur über die Runden kommen möchten, die Angst haben, verunsichert sind und sich wegducken. Aber auch die großmäuligen Blockwarte, Hausmeister, Uniformträger, Denunzianten und die unzähligen anderen, die ein Unrechtssystem am Laufen halten, sind allgegenwärtig.
Der Autor lässt die Schicksale seiner lebendig gestalteten Figuren für sich selbst sprechen. Und damit entsteht ein Bild jener Zeit mit einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Zustande kommt diese Tiefe durch seine Vorgehensweise beim Schreiben: In einem Gespräch erzählte mir Volker Kutscher einmal, dass er zur Vorbereitung eines neuen Bandes ganze Zeitungsjahrgänge aus den Archiven durcharbeitet, um den Ton des betreffenden Jahres kennenzulernen, egal, ob es sich um Nachrichten, um Klatsch- und Tratschmeldungen oder um Werbeanzeigen handelt. Ebenso wichtig für die Recherche ist die riesige Photosammlung des Bundesarchivs. Viele dieser dadurch gewonnenen Details fließen wie selbstverständlich in die Handlungen der Romane ein, ohne dass die Fülle an historischen Einzelheiten – von der Zigarettenmarke bis zur technischen Ausstattung der Kripo – in irgendeiner Weise aufgesetzt wirkt. Auf der Seite gereonrath.de werden zahlreiche Bilder und Hintergrundinformationen präsentiert.
In »Olympia« treffen die Leser zahlreiche Figuren der letzten Bände wieder: Fritze etwa, erst Straßenjunge, dann Ziehsohn von Gereon und Charlotte, bevor ihnen wegen politischer Unzuverlässigkeit die Fürsorge aberkannt und der Junge in einer Nazi-Familie untergebracht wurde. Jetzt gehört er zu den HJ-Angehörigen, die bei den Olympischen Spielen als »Jugendehrendienst« eingesetzt werden – in einer Szene läuft er dem Kameramann Leni Riefenstahls ins Bild. Oder Sebastian Tornow, der einst als Polizistenmörder von Gereon Rath verfolgt wurde und ihn nun als SS-Obersturmbannführer herumkommandieren darf – was er mit sadistischer Freude auskostet. Auch Abraham Goldstein, ein amerikanischer Syndikatsgangster, gibt sich in Berlin zur Olympiade die Ehre. Bei seinem letzten Besuch noch vor 1933 war Gereon Rath auf ihn angesetzt; ein Auftrag, der dramatisch endete. Und eine Person, mit er er ganz zu Beginn seiner Berliner Zeit zu tun hatte, taucht überraschend wieder auf und bringt auf den letzten Seiten eine vollkommen neue Dynamik in die Handlung.
»Olympia« stellt auf unterschiedlichen Ebenen Bezüge zu den Vorgängerbänden her und eignet sich daher nur bedingt als Einstieg in die Reihe. Zwar kann man jedes der Bücher – auch dieses – losgelöst von den anderen lesen, doch die gesamte Wirkung entfalten sie erst, wenn man mit dem ersten Band beginnt und Gereon Rath auf seinem Weg in die finsterste Zeit unseres Landes begleitet. Mit dem achten Fall sind wir im Jahr 1936 angekommen und eigentlich sollte die Serie dann zu Ende sein. Volker Kutscher bei unserem oben erwähnten Gespräch, das inzwischen über drei Jahre her ist: »Ich hatte die Reihe ursprünglich bis 1936 angelegt. In diesem Jahr wurde die Kriminalpolizei dem SS-Chef Himmler unterstellt. Spätestens jetzt musste es Gereon Rath klar werden, dass die ganze Sache kein gutes Ende nehmen kann. Und spätestens jetzt muss er eine Wahl treffen. Momentan weiß ich aber noch nicht, was genau geschieht. Auf jeden Fall wird die Geschichte dann noch nicht zu Ende sein …«
Das lässt hoffen. Denn Band acht endet mit einem großen Knall. Einem sehr berühmten Knall. Einige lose Enden bleiben zurück – die darauf warten, in den nächsten Fällen miteinander verknüpft zu werden. In einem Interview in der Frankfurter Rundschau zum Erscheinen von »Olympia« wird der Autor konkreter: »Ich kann nicht 1936 aufhören, zu einem Zeitpunkt, wo das Regime die Gelegenheit der Olympischen Spiele ergreift, um eine große Propagandakulisse aufzufahren. Ich muss mit meinen Figuren noch zum Zivilisationsbruch des Jahres 1938, bei dem auch dem letzten ›Unpolitischen‹ klar wurde, dass die nationalsozialistischen Machthaber auf den Weltkrieg und den Holocaust zusteuern, auf die große Menschheitskatastrophe. Das wird bitter, und für viele meiner Figuren wird es nicht gut ausgehen, aber nur da kann ich die Reihe abschließen.«
Die Art, wie es Volker Kutscher schafft, Romanhandlungen und Zeitgeschichte miteinander zu verbinden, macht die Gereon-Rath-Reihe für mich zum Besten, was die Kriminalliteratur gegenwärtig zu bieten hat. Und jeder Band bestärkt mich aufs Neue in diesem Urteil.
Buchinformation
Volker Kutscher, Olympia
Piper Verlag
ISBN 978-3-492-07059-1
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Lieber Uwe, als wir 2013 in die USA gingen, habe ich auf deinen Tipp hin (für immer dankbar ;-) die ersten Bände der Kutscher Serie mitgenommen und seitdem jeden Band verschlungen. Während ich „Olympia“ (zurück in Deutschland) las, wurde in den USA gewählt. Eine Textstelle aus dem Briefwechsel des durch den Atlantik getrennten Liebespaares ergab für mich im November schon ein Stück im Puzzle „Amerika verstehen“. Auch wenn man fünf Jahre lang in einem Land gelebt hat, bleiben viele Fragen offen.
Ich habe deine (wie immer wunderbare) Rezension absichtlich erst gelesen, als ich mit dem Buch fertig war. Ich hätte wetten können, dass du diese Textstellen zitieren würdest. Well – falsch gelegen ;-)
Aber ich möchte es gerne tun. Vor allem jetzt. Hat sie doch (trauriger weise) nach den Ereignissen der letzten Woche in Washington D.C. an Bedeutung und Aktualität gewonnen.
„… Jeder ist sich selbst der Nächste, jeder glaubt an den amerikanischen Traum, aus dem Arbeiterelend rauszukommen und reich zu werden, und sei es auf Kosten der Anderen. Dieser Traum, der ist in diesem Lande das Opium fürs Volk, mehr noch als die Religion. Ich kann dir sagen, es ist gar nicht so einfach, in Menschen, die so denken, den Sinn für Solidarität zu wecken. … Dies hier ist ein Land, das den Sozialismus nötiger braucht, als die meisten anderen. Politik und Wirtschaft, gerade in Chicago, sind durchseucht vom Verbrechen.“