Die Gescheiterten von Slough House

Mick Herron: Slow Horses

Wie die Zeit vergeht: Im Dezember 2018 habe ich »Slow Horses« von Mick Herron gelesen, den Auftaktband einer Reihe, und seitdem steht der Roman auf der Liste der Bücher, die ich hier unbedingt vorstellen möchte. Inzwischen sind einige Jahre verstrichen, unsere Welt ist eine andere geworden, aber die Reihe wächst und gedeiht; gerade ist in der Übersetzung von Stefanie Schäfer der mittlerweile fünfte Band mit dem Titel »London Rules« erschienen. Und hier kommt nun endlich der Blogbeitrag dazu.

Auf den allerersten Blick handelt es sich um eine Krimireihe, um Agententhriller rund um den britischen Inlandsgeheimdienst MI5. Und im Prinzip ist das richtig, allerdings sind es keine gewöhnlichen Agententhriller, denn die Protagonisten sind zwar noch offiziell Angehörige des britischen Geheimdienstes, aber allesamt wegen beruflichen Versagens auf dem Abstellgleis gelandet. Übersetzt man »Slow Horses« mit »lahme Gäule«, trifft es das ganz gut. Im Zentrum der Handlung steht »Slough House«, ein altes, mehrstöckiges und vollkommen heruntergekommenes Gebäude in London, in dem die Büros der Slow Horses untergebracht sind. »Es war eine dieser verlorenen Gegenden, die jede Stadt kennt; eine übersehene Lücke zwischen zwei Postleitzahlen.« Hier sitzt die Versagertruppe tagein, tagaus; da es nicht möglich ist, sie einfach aus dem Staatsdienst zu entlassen, sollen sie mit sinnlosen Tätigkeiten in einer trostlosen Umgebung mürbe gekocht werden.

Klingt das Setting der Reihe auf eine schräge Art schon sehr vielversprechend, so erweckt es Mick Herron mit seinem Mikrokosmos der Gescheiterten auf eine großartige Weise zum Leben. Und die überaus gelungene Mischung aus Sarkasmus, tiefschwarzem englischem Humor, derben Dialogen, Spannung und einer fein geschliffenen Sprache machen die Reihe zu etwas ganz Besonderem. 

An oberster Stelle steht Jackson Lamb, der Chef der Slow Horses. Und die oberste Stelle ist wortwörtlich gemeint, denn er residiert in einem Büro im obersten Stockwerk. Das Wort »Büro« wiederum ist eher allegorisch zu verstehen, denn es handelt sich um einen permanent abgedunkelten, verstaubten und vollkommen verwahrlosten Raum, in dem er im schummrigen Licht einer altersschwachen Schreibtischlampe sitzt und raucht, ein Glas Whisky ständig in Reichweite. Doch hinter den löchrigen Socken, die er gerne auf der Tischplatte präsentiert, den knatternden Fürzen, den zerknitterten Hemden und dem stinkenden Zigarettenqualm, hinter seinem Sarkasmus, seinen Beleidigungen, mit denen er seine Mitarbeiter traktiert und hinter seiner offensiven Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem verbirgt sich ein brillanter Agent – der über viele Leichen Bescheid weiß, die im Keller des MI5 ruhen. Nicht nur im übertragenen Sinn. Zusammenfassend könnte man ihn als echten Kotzbrocken beschreiben. Eigentlich. 

River Cartwright ist trotz hervorragender familiärer Beziehungen im Slough House gelandet, um sinnlose Dateien auszuwerten und irgendwie den Tag herumzubekommen. Sein Großvater mit dem Spitznamen O. B., der Abkürzung für Old Bastard, ist eine MI5-Legende aus den Jahren des Kalten Krieges – der großen Zeit der Geheimdienste. Auch O. B. taucht immer wieder einmal in der Handlung auf, im Band »Spook Street« geht es um einige seiner dunklen Geheimnisse der Vergangenheit, die fatal ins Heute nachwirken: »Bis heute konnte er hinter den Schlagzeilen der Presse Gestalten aus der Vergangenheit ausmachen, wie Raubtiere, die man durch trübe Gewässer hindurch erspäht.« Doch auch dieser exzellente familiäre Kontakt konnte River nicht vor seinem Dienst bei den Gescheiterten bewahren; zu massiv war der Schaden, den er angerichtet hatte. 

Catherine Standish ist Jackson Lambs Assistentin, die versucht, Contenance gegenüber den Manieren ihres Chefs zu bewahren, ihm aber auch deutliche, sehr deutliche Worte an den Kopf werfen kann. Catherine ist trockene Alkoholikerin und sie verbindet vieles mehr mit Jackson Lamb, als sie ahnt – wir Leser erfahren es nach und nach. Und es hat natürlich mit den schon genannten Leichen im MI5-Keller zu tun. Im Band »Spook Street« wird sie gekidnappt und auch da geht es um alte Rechnungen. 

Und dann gibt es noch Roddy Ho, einen brillanten Hacker und lächerlichen Angeber, den niemand mag. Wirklich niemand. Auch nicht – und das kann ich versprechen – wir Leser. Natürlich hat er längst durch ein paar nicht ganz legale Recherchen die Gründe herausgefunden, warum es seine, na ja, Kolleginnen und Kollegen nach Slough House verschlagen hat. Nur warum es ihn erwischt hat, konnte er bis heute nicht ergründen – und das macht ihn wahnsinnig.  

Das sind vier der zentralen Personen der Reihe – es gibt natürlich noch etliche weitere, wie etwa Louisa Guy, Einzelgängerin mit einem kleinen Kokainproblem oder Min Harper, der einst eine streng geheime Akte im Zug vergaß, aber alle vorzustellen würde den Rahmen des Textes sprengen. Und dazu kommen immer wieder auch Protagonisten, die im Laufe der Handlung auf der Strecke bleiben – denn bei all der Situationskomik und all den Dialogen voller Wortwitz, gegenseitigen Sticheleien und Beleidigungen sind es eben auch waschechte Thriller. Mit Verschwörungen, Bedrohungen, Entführungen, Anschlägen und Morden. Geschehnisse, die die Slow Horses zuerst nur am Rande betreffen – doch durch von Mick Herron wunderbar konstruierte Zusammenhänge werden sie immer wieder zum Zünglein an der Waage. Zu denjenigen, die im falschen Moment am falschen Ort sind und dadurch den Verlauf der Erzählung ändern. 

Um die Inhalte und die Fälle der einzelnen Bände soll es hier gar nicht gehen, aber es gibt ein paar Konstanten, die sich durch alle hindurchziehen: Die Slow Horses misstrauen einander, beäugen sich scheel, versuchen, jeden Vorteil, der sich bieten mag, für sich selbst zu nutzen, um irgendwann wieder beim richtigen MI5 arbeiten zu können. Doch von Fall zu Fall bilden sich vorsichtige Allianzen, manchmal liegt ein Hauch Freundschaft in der Luft und wenn es hart auf hart kommt, müssen sie zu einer Art Team zusammenfinden. Irgendwie jedenfalls. Doch gleichzeitig gibt es bei allen Erfolgen, die meist ein Werk des Zufalls sind, keine Änderung ihres Verliererstatus und bei internen Machtkämpfen im MI5 drohen sie regelmäßig, unter die Räder zu geraten. Wenn nicht – und auch das ist eine Konstante – Jackson Lamb im Geheimen dann doch seine schützende Hand über seine Mitarbeiter halten würde. Und manchmal blitzt dabei hinter seinem ungepflegten Äußeren, seiner Gleichgültigkeit und seinen widerlichen Manieren etwas Fürsorgliches, etwas Menschliches auf – bis es wieder im stinkenden Zigarettenqualm verschwindet, heruntergespült mit einem kräftigen Schluck Single Malt. 

Zum Schluss dieses Beitrags gibt es noch eine kurze Exkursion durch Slough House, denn das baufällige Gebäude, in dem die Horses untergebracht sind, ist so etwas wie ein weiterer Protagonist der Reihe. Und dessen Beschreibungen sind sprachliche Kleinode, wirken wie gedankliche Kamerafahrten. Hier ein schönes Beispiel:

»Hitze steigt bekanntlich auf, aber nicht immer ohne Anstrengung. In Slough House wird ihr Aufstieg von Klackern und Gurgeln begleitet: das hörbare Tagebuch einer erzwungenen und schmerzhaften Passage durch schiefe Rohre. Wenn man das Leitungssystem aus dem Gebäude herauspräparieren und als freistehendes Exoskelett betrachten könnte, wäre es überall undicht und feucht; ein arthritischer Dinosaurier mit schiefen Gelenken, bei dem Brüche unsauber verheilt sind, die Gliedmaßen ein unstimmiges Durcheinander, fleckige und rostige Extremitäten, die kaum noch Wärme verströmen. Und der Kessel, das Herz dieses Ungetüms, würde weniger schlagen als vielmehr in einem Trip-Hop-Rhythmus flattern. Seine gelegentlichen Ausbrüche von Enthusiasmus produzieren heiße Explosionen an unwahrscheinlichen Stellen; sein unregelmäßiger Puls ist das Ergebnis von Lufteinschlüssen, die unbedingt entweichen wollen. Noch mehrere Türen weiter hört man das Rumpeln dieses antiquierten Heizungssystems, und es klingt wie das Klopfen eines Schraubenschlüssels auf ein Eisengeländer, wie eine verschlüsselte Nachricht, die von einer Zelle zur anderen übermittelt wird.«

Durch die Beschreibung eines maroden Heizungssystems hat man in Gedanken ein komplettes Gebäude vor sich stehen – eine der vielen Textstellen, die mich in den Slow-Horses-Bänden begeistert haben. Und was die Dialoge angeht: man sollte für die Reihe ein Faible für dunklen Humor der derberen Sorte mitbringen. Den Lesern allerdings, denen sprachliche Achtsamkeit wichtiger ist als literarische Stilmittel, würde ich eher raten, einen Bogen darum zu machen. Alle anderen werden ziemlich viel Spaß mit den Büchern haben – Agententhriller-Hochspannung inklusive. 

Es gibt nur wenige Buchreihen, bei denen ich sehnsüchtig auf den nächsten Band warte – die Slow-Horses-Reihe von Mick Herron gehört definitiv dazu. 

Bücherinformationen
Mick Herron, Slow Horses
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07018-7

Mick Herron, Dead Lions
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07046-0

Mick Herron, Real Tigers
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-30080-2

Mick Herron, Spook Street
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-30084-0

Mick Herron, London Rules
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-30093-2

Alle Bände wurden aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schäfer

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9 Antworten auf „Die Gescheiterten von Slough House“

  1. Ich kann mich der Meinung nur anschließen: Seit Bd. 1 – Slow Horses – bin ich absoluter Fan von der Mick-Herron-Reihe um die lahmen Gäule: So witzig und sprachlich brillant wird man höchst selten unterhalten – eine Spionagereihe at its best!!! Freu‘ mich ebenfalls auf den „Neuen“ ;-)

  2. Toller Beitrag! Ich fand „Slow Horses“ nicht so gut, aber ich muss nach diesem Beitrag dem Roman (und der Reihe) wohl doch noch einmal eine Chance geben!!

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