Keiner kommt hier lebend raus

Benjamin Whitmer: Flucht

Der Begriff »Noir« dürfte allen Literaturinteressierten bekannt sein, aber was genau verbirgt sich dahinter? Für diese Stilrichtung gibt es keine allgemeingültige Definition; vor einiger Zeit tastete sich die Journalistin Sonja Hartl in ihrem Essay »Was ist Noir?« an die Thematik heran. Unter anderem heißt es darin: »Die Düsterheit der Existenz, das Erkennen von Moral bzw. deren Abwesenheit und die Einsicht, dass es keine Erlösung – kein glückliches Ende – gibt, machen somit den Noir aus. … Aus dieser zugrunde liegenden Weltsicht lassen sich Themen und Handlungselemente ableiten. Oft geht es um die zerstörerische Kraft der Macht, die Bedeutungslosigkeit und Absurdität der Existenz, die Korrumpierung des öffentlichen Lebens, um Unordnung, Missbehagen, Unzufriedenheit. Die Protagonisten sind häufig Einzelgänger und soziale Außenseiter. Sogar wenn die Hauptfigur gut ist, ist sie zynisch und glaubt, dass die Gesellschaft korrupt sei, sie aber der Gerechtigkeit Genüge tun kann. Extreme sind die Norm – und weder das Gute noch die Gerechtigkeit werden zwangsläufig siegen.« Zwar muss ein Noir-Roman nicht unbedingt ein Kriminalroman sein, aber dieses Genre bietet sich natürlich geradezu an. Daher ist es kein Zufall, dass Sonja Hartls Essay im Blog Polar-Noir veröffentlicht wurde, dem Verlagsblog des Polar-Verlags; eines Verlags, der sich auf grandios-düstere Kriminalromane spezialisiert hat. Und das Buch »Flucht« von Benjamin Whitmer ist ein gutes Beispiel für die literarische Qualität des Verlagsprogramms: Noir vom Feinsten.

Old Lonesome Prison heißt der abgelegene Ort, mitten in der Wildnis Colorados. Es ist nicht schwer zu erraten, welches das wichtigste Gebäude der Stadt ist: Das namensgebende Gefängnis dominiert alles, ist der einzige Arbeitgeber der Stadt und ein großer Teil der Bewohner hat auf irgendeine Weise mit ihm zu tun. Wie einst eine mittelalterliche Burg beherrscht es den Ort und – um bei diesem Bild zu bleiben – wie ein Lehnsherr tritt der Gefängnisdirektor auf. Cyprus Jugg genießt seine Macht über die Bewohner des Städtchens ebenso wie diejenige über die Insassen des Zuchthauses, bei denen er für seine Strenge berüchtigt ist. 

Old Lonesome Prison. Was für ein Name. »Diese Stadt ist ein Ort, an dem man versackt. Es gibt ein paar Familien hier, die sich bis zur Großelterngeneration zurückverfolgen lassen, aber das ist eher die Ausnahme. Die meisten Leute sind nach diesem oder jenem Krieg hier gestrandet, wollten eigentlich weiterziehen, sind aber geblieben – wie Kaffeesatz in einer Tasse.«

Als in der Silvesternacht 1968 ein heftiger Schneesturm über die Gegend hinwegfegt, wird der Ort fast gänzlich von allem abgeschnitten. Und genau in dieser Nacht gelingt ein Massenausbruch: Zwölf Häftlinge sind auf der Flucht, orientierungslos im Schneetreiben, aber zu allem entschlossen. Sie treten eine Welle der Gewalt los – ebenso wie die sie verfolgenden Wärter, die mit absoluter Rücksichtslosigkeit vorgehen. Eine gnadenlose Hetzjagd nimmt ihren dramatischen Lauf. 

Das ist das Szenario, in das Benjamin Whitmer uns Leser hineinwirft. Eine schon fast klaustrophobische Stimmung, eine Parallelwelt auf wenigen Quadratmeilen, in der die üblichen Moralvorstellungen nicht mehr gelten – denn nicht nur für die zwölf Flüchtigen geht es am Ende nur noch darum, irgendwie am Leben zu bleiben. 

»Es ist eine gespenstische Schneelandschaft. Alles wirkt dünn und in die Länge gezogen, als hätte man die Schwerkraft einen Zacken mehr aufgedreht. Das kaum hörbare Zischen von Schnee, der durch die Luft schlägt. Die Bäume stehen dunkel und verschwommen, alles ist festgefroren, wie auf ein Blatt Papier geklebt. Hohl und kalt und voller Echo. Über allem liegt Einsamkeit.«

Bevölkert ist die spannungsgeladene Story mit den unterschiedlichsten Menschen und Persönlichkeiten. Da ist der herrschsüchtige, cholerische Gefängnisdirektor. Da sind die zwölf Ausbrecher, keinesfalls eine homogene Gruppe – die Bandbreite reicht vom brutalen Mörder bis zu einem jungen Mann, der durch eine Verkettung unglücklicher Umstände im Gefängnis gelandet ist. Da gibt es desillusionierte, heimtückische Wärter, für die die Hetzjagd ein Ventil für ihre Frustration ist. Es gibt mürrische Farmer, die erst schießen, dann fragen. Einen Fährtenleser, der nach Spuren der Geflüchteten sucht. Zwei abgehalfterte Journalisten aus der nächsten größeren Stadt, die auf der Suche nach einer Story sind. Und eine Farmerswitwe, die für einige Überraschungen sorgen wird – sie ist eine der interessantesten Figuren der Handlung; »sie hat alles, was sie braucht, auch ohne sich um jemand anders kümmern zu müssen als sich selbst. Und sie hat nicht vor, das jemals wieder zu ändern.«

Es entwickelt sich eine packende Geschichte, die zahlreiche unvorhergesehene Wendungen bereithält. Erst sind es Gerüchte hinter den verschlossenen Türen der Stadt. Von Gewalt ist die Rede, von gescheiterten Beziehungen und unglücklicher Liebe, von Rache, Tragik, falschen Entscheidungen, von Hass und Verachtung – und nach und nach werden die schmutzigen Geheimnisse des Städtchens gelüftet und die Leser beginnen Zusammenhänge zu verstehen, sehen die ganze Trostlosigkeit der kleinen Stadt vor sich, in der niemand leben möchte und aus der es nur wenige heraus schaffen. 

In diesem Roman geht es um sehr viel mehr als nur um einen Gefängnisausbruch. Benjamin Whitmer erzählt von Menschen, die alleine sind, zurückgeworfen auf sich selbst, egal ob sie als flüchtige Strafgefangene durch die kalte Einöde irren oder eingesperrt sind in einem Leben, das sie nie führen wollten. Darüber schreibt er – sehr gelungen übersetzt von Alf Mayer – in einer markanten Sprache, die mit ihrer existenzialistischen Schwärze unter die Haut geht. 

»Weil du überlebst. Das ist alles, worum es geht. Auf der Welt gibt es nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Trotzdem aber tust du es. Du machst einfach weiter. Du denkst nicht darüber nach. Du überlebst. Und du hoffst einfach, an genug von dir festhalten zu können, dass es das Überleben lohnt.« 

Benjamin Whitmer hat in seinem Roman wahre Fluchtgeschichten und Gefängnisausbrüche verarbeitet. Im Nachwort des Übersetzers erfahren wir viel über Whitmers Recherchen, die Reminiszenzen an Buch und Film und über die Entstehungsgeschichte von »Flucht«. Geschaffen hat er ein Werk voll grandios-düsterem Fatalismus, bei dem man aufpassen muss, nicht zu oft zustimmend mit dem Kopf zu nicken angesichts unserer Welt, die Tag für Tag mehr aus den Fugen zu geraten scheint.

»Was immer es auf der Welt an Liebe gibt, es ist nicht genug. Nicht genug für Frieden oder Licht oder Hilfe oder Schmerz. Was immer es auf der Welt an Liebe gibt, reicht für überhaupt nichts.«

Wie eingangs erwähnt: Noir vom Feinsten.

Buchinformation
Benjamin Whitmer, Flucht
Aus dem Englischen von Alf Mayer
Polar Verlag
ISBN 978-3-945133-93-4

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