Corona in der Literatur? Bitte (noch) nicht

Corona in der Literatur: Bitte (noch) nicht

In den freien Tagen nach Weihnachten 2021 machte ich es mir auf dem Sofa bequem: Ich wollte mich mit »Never«, dem neuen Polit-Thriller von Ken Follett entspannen. Das funktionierte nur bedingt, denn das Ende dieses Buches geht – vor allem bei der aktuellen Nachrichtenlage – so unter die Haut, dass ich nachts nur schwer einschlafen konnte. Aber davon möchte ich gar nicht erzählen, sondern nur von einem winzigen Detail des Romans; von einer einzigen Formulierung. Denn die Handlung ist in der unmittelbaren Zukunft angesiedelt, so nah an unserer Zeit, dass sie schon fast in der Gegenwart spielt. Aber eben nur fast. An einer Stelle wird eine Straße, ein Stadtviertel beschrieben. Es heißt darin, dass durch die Pandemie viele der zahlreichen Restaurants und Cafés schließen mussten, inzwischen aber neue eröffnet hätten.

Das war alles zu Corona, was darin zu lesen war. Gleichzeitig war es für mich das erste Mal, dass ich das Thema überhaupt in einem Roman erwähnt fand. Und in dieser Form, als eine vage Erinnerung an eine Zeit, die glücklicherweise vorüber ist, fand ich es erträglich. Aber mehr muss nicht sein, denn das pandemische Geschehen der letzten zwei Jahre ist so bedrückend und frustrierend, dass ich nicht auch noch meine wertvolle Leselebenszeit damit verbringen möchte. Daher mache ich einen großen Bogen um Romane, die auf irgendeine Weise Corona in die Handlung mit einbauen, wie etwa Juli Zehs »Über Menschen«. Auch für das kommende Jahr sind Bücher mit dem Label »Corona-Roman« geplant; diese wandern bei mir automatisch auf die Werde-ich-sicher-nicht-lesen-Liste.

Bin ich da überempfindlich? Mag sein. Aber ich glaube nicht, dass ich der einzige Leser bin, dem das alles noch zu nah ist. Eine Umfrage, die ich auf Twitter gestartet hatte, kam zu diesem Ergebnis: 


Nun sind 576 Abstimmende nicht wirklich repräsentativ, aber ich fand es doch bemerkenswert, dass 66 Prozent – also zwei Drittel – kein Interesse an Literatur haben, die auf irgendeine Weise Corona-Erlebnisse verarbeitet; 28 Prozent lehnen dies sogar vehement ab. 

Sehr interessant und von der Tendenz her ausgewogener sind die vielen Kommentare auf den Tweet, die sich zum Teil aufeinander beziehen oder ergänzen. Die Meinungen gehen dabei weit auseinander, manche finden es wichtig, die Corona-Pandemie jetzt bereits literarisch aufzuarbeiten, andere verspüren keinerlei Wunsch, sich nun schon in Buchform damit zu beschäftigen. Dabei geht es auch um die Frage, wie sich bei Autorinnen oder Autoren die Ereignisse der letzten Jahre im eigenen Schaffen widerspiegeln bzw. widerspiegeln sollen. Frank Rudkoffsky etwa schreibt: »Eine schwierige Frage, die ich mir auch bei meinem neuen Roman stellte – der aus anderen Gründen im Jahr 2020 handelt. Ganz ausklammern hätte sich falsch angefühlt, nun spielt es in 2 von 18 Kapiteln eine Rolle. Für einen Fokus auf das Thema hielte ich es für zu früh, siehe Zeh.«

Ein beträchtlicher Teil der Kommentierenden wünscht sich einen zeitlichen Abstand, bevor sich Literatur des Themas annimmt – zumal die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen unseres Lebens sich erst in ein paar Jahren zeigen werden. Birgit Böllinger, deren Literaturblog Sätze & Schätze inzwischen in ihrer Homepage aufgegangen ist, meinte dazu: »Irgendwann, in zehn Jahren vielleicht. Aber momentan: Nö. Es reicht die sonstige Omnipräsenz des Themas in unseren Leben völlig aus, meiner Meinung nach.«

Mir geht es ganz genau so, wie man aus dem Fragestellungstweet ja unschwer erkennen kann. Was Autorin und Literaturbloggerin Mareike Fallwickl mit einer treffenden Gegenfrage kommentierte: 


Natürlich wird Corona sehr schnell in der Gegenwartsliteratur einsickern, zumindest als Hintergrundrauschen. Doch Bücher, in denen es um Inzidenzzahlen geht, in denen Menschen mit quer»denkenden« Impfgegnern diskutieren, ganze Schulklassen in Quarantäne geschickt werden, in denen geboostert wird, von einem Lockdown die Rede ist oder in denen die Protagonisten Masken tragen – solche Romane werden auf gar keinen Fall den Weg in mein Bücherregal finden. Gerade das Tragen einer Maske und der Anblick von maskentragenden Menschen sind für mich persönlich die unangenehmsten aller notwendigen Einschränkungen der letzten Zeit, direkt gefolgt von der Unmöglichkeit des Reisens. Und mit all dem will ich mich nicht auf literarische Weise beschäftigen, auch nicht in naher Zukunft; es reicht der Blick in die täglichen Nachrichten. Meist finde ich es ohnehin spannender, wenn Bücher, die in der Vergangenheit spielen, mir die Gegenwart verständlicher machen, als dass sie sich an tagesaktuellen Fragestellungen abarbeiten.

Interessant wird es werden, wenn die Pandemie überstanden ist – was hoffentlich in absehbarer Zeit der Fall sein wird. Ob dann überhaupt das Interesse besteht, literarische Aufarbeitungen zu lesen? Oder wird der Wunsch nach der Rückkehr zur alten Normalität so groß sein, dass dies gar nicht der Fall ist? Vor hundert Jahren wütete die Spanische Grippe; 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung starben an deren Folgen. Trotzdem hat dieses einschneidende Ereignis kaum Eingang in die zeitgenössische Literatur gefunden; zumindest ist mir nichts dazu bekannt. Wer mehr dazu weiß, mag den Beitrag hier gerne kommentieren. Überhaupt wurde trotz unzähliger Betroffener jene Pandemie im kollektiven Gedächtnis weitgehend verdrängt. Ein sehr lesenswerter Beitrag auf der Seite Science Notes kommt zu dem Fazit: 

»Die Spanische Grippe war eine Triebfeder in einer sich zunehmend beschleunigenden Welt. Doch ihre enorme Wirkmacht blieb lange unterschätzt, überlagert von den Schrecken des ersten Weltkrieges und gleichermaßen überstrahlt von den Goldenen Zwanzigern, die unmittelbar auf die Pandemie folgten. Erst mit dem Abstand von 100 Jahren wird für die Wissenschaft zunehmend deutlich: Das Virus H1N1 veränderte die Welt. Die Frage drängt sich auf, ob sich die Geschichte wiederholen wird.«

Spannende Jahre liegen vor uns. Und irgendwann wird es ihn vielleicht geben, den großen Corona-Roman. Aber bitte nicht jetzt. 

Und da man es nicht oft genug erwähnen kann: #ImpfenSchuetzt

16 Antworten auf „Corona in der Literatur? Bitte (noch) nicht“

  1. Hallo Uwe Kalkowski!
    Ich habe gerade deinen Kommentar zu Coronaliteratur gelesen, wenn man es denn so nennen sollte.
    Ich denke schon das man Corona in der gegenwärtigen Literatur erwähnen sollte, denn es gehört ja, leider zwar, aber es gehört zum Leben.
    Man muss es nicht in jedem Satz erwähnen, aber als Nebenbemerkung – „nachdenklich richtete sie ihre Maske“, so was in der Art.
    Literatur sollte das, was zum menschlichen Leben in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft gehört, auch wenn es noch so unangenehm ist erwähnen.
    Dafür ist sie u. a. zuständig.

    1. Sobald solch ein Satz wie »nachdenklich richtete sich ihre Maske« in einem Buch vorkäme, würde ich sofort abbrechen. Ich sehe das eben ganz anders, und ich will in den Büchern, mit denen ich meine Leselebenszeit fülle, nicht an C erinnert werden – es beeinträchtigt auch so schon genug meinen/unseren Alltag. Aber so hat eben jeder seine Meinung.

  2. Lieber Uwe, grundsätzlich möchte ich daran erinnern, dass man nur beurteilen kann, was man kennt. Bei mir ging es aus logistischen Gründen nicht anders. Ich musste meinen neuen Klima-Kriminalroman einen Covid-Hintergrund zwischen dem 7. – 17.3.2020 verpassen, da er nördlich von Barcelona spielt. Was ich nicht vorhergesehen habe, wie leicht man damit man ins politische Fahrwasser gerät. Das fing schon damit an, dass ich meine chinesische Literaturagentin integriert habe, die im März 2020 fragte, warum tragen die Deutschen keine Masken. Ein prominenter Virologe in der FAZ war damals anderer Meinung, was sie so gar nicht verstand. Dann gab es in dem Zeitraum ein Zitat von Donald Trump, der zum social distance aufrief, woran er sich nicht lange gehalten hat. Inzwischen liegt dieser Klima-Kriminalroman bei zwei angesehenen Verlagen. Aber ich kann mich auch an meine pampige Antwort an die Programmchefin des Schweizer Verlag D. erinnern, die ich darauf aufmerksam gemacht habe, dass ihre US-Krimi-Autoren immer schon an die Umwelt-Schäden der Erdölförderung erinnert haben. Manchmal muss die Autorenschaft tapfer sein, schreiben, was sie für wichtig hält, die Leserschaft sollte diese durch Aufmerksamkeit honorieren. Es mag der Spiegel sein, in den man nicht blicken mag, aber zuweilen trifft es auch den Humor und den Horizont, den man vergessen hat, herzlich vom Brüsseler Platz, Gabriele Kiefer

    1. Liebe Gabriele, vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar und den Einblick in Deinen Schreibprozess. Es klingt sehr spannend und herausfordernd; allerdings kann ich für mich nur noch einmal wiederholen: Lesen würde ich die Geschichte nicht wollen. Denn wie gesagt, Corona beeinträchtigt mein Leben so sehr, dass ich nicht auch noch meine wertvolle Leselebenszeit dafür opfern möchte. In ein paar Jahren vielleicht, wenn das alles wie ein böser Traum erscheinen mag. Aber das ist eben meine ganz persönliche Meinung dazu; natürlich wünsche ich Dir gutes Gelingen und viel Erfolg. Herzliche Grüße, Uwe

  3. Du hast also nicht wirklich Lust auf diese ganzen Romane, die als „hervorragendes Bild unserer Zeit“ sämtliche deutsche, bierernste Buchpreise abräumen werden? Du Frevler! Wie kannst du nur! Das Feuilleton blickt mit Verachtung auf dich hinab. Menschen wie ich aber gratulieren dir und teilen deine Ansicht. Müsste ich von dieser fucking Pandemie nie wieder etwas hören, ich würde den Deal sofort unterschreiben.

  4. Ich bin gerade dabei, ein Corona Roman zu ubersetzen. Gut, es ist ein Krimi, also ein bisschen ‚locked city‘ Mord (statt ‚locked room‘), wie ist es moglich, wenn keiner das Haus verlassen darf usw. Ich bin nicht sicher, ob das wirklich funktioniert, denn es sind mir zu viele Corona Details dort drinnen. Na ja…

  5. Hallo Uwe, eine sehr interessante Umfrage. Es geht mir allerdings auch so, dass ich das Thema „Corona“ meide, wo immer es geht. Meine Lesezeit möchte ich auch (noch) nicht mit diesem Thema verbringen. Ich muss allerdings feststellen, dass ich zu Büchern greife, die meine Gefühle in irgendeiner Weise widerspiegeln. Auf diese Weise habe ich nach sehr langer Zeit mal wieder „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Der Zauberberg“ gelesen, gegen mein allgegenwärtiges Fernweh hilft die wunderbare neue Reihe „Büchergilde unterwegs“. Einzig die wirklich geistreichen „Betrachtungen“ von Zadie Smith, erschienen in der Edition 5plus, die mir der nette Buchhändler Bittner aus Köln immer schickt, streifen Corona leicht.

  6. Ich fände es auch viel zu früh. Als Hintergrundrauschen ja, es wäre weltfremd, es in einem Roman, der in den 2020er Jahren spielt, es nicht reinzunehmen, aber nicht als Thema. Auch nicht in einem Roman, der in naher Zukunft spielt. Das hat mich z.B. beim neuen Thriller von Johannes Groschupf, in dem die Pandemie als überwunden dargestellt wird, extrem gestört. Auch Wolfgang Schorlau konnte der Versuchung in seinem letzten Thriller nicht widerstehen und das fand ich sehr schade.
    Ich fände ich es jedoch absolut spannend, wenn in einigen Jahren etwas käme, das auch die ganzen politischen und wirtschaftlichen Hintergründe aufarbeitet, sei es als Roman oder als Thriller.

  7. Romane, die komplett von Corona handeln, möchte ich jetzt auch noch nicht lesen (schrieb ich ja schon auf Twitter). Dave Eggers erwähnt „die“ Pandemien in „Every“ en passant, das reicht dann auch. Wo es mich ehrlich gesagt stört, ist in Filmen oder Serien, die in der jetzigen Zeit spielen, dadurch, dass man die Personen sieht, kommt es mir nicht real vor.

  8. Ich würde da schon immer offenbleiben. Leitfrage: Ist es gut? Wenn ja, lese ich auch einen reinen Corona-Roman.
    Ich fürchte aber die Chancen auf einen solchen guten sind sehr gering, wie die meiste bemühte „Gegenwartsliteratur“ aus dem Feld der Meinungs-, mindestens aber Tendenztexte nicht rauskommt. Und das ist wohl kaum zu vermeiden. Romane, die aber vor allem geschrieben wurden, weil sie sich a) mit Glück besser verkaufen, als ein politisch-philosophischer Essay und b) damit man sich nicht der inhaltlichen Auseinandersetzung stellen muss, der man sich mit einem politisch-philosophischen Essay hätte stellen müssen, braucht es eigentlich zu keinem Thema.

  9. Das hat mich bei Juli Zeh ziemlich irritiert- diese Corona Thematik, weil es so ganz am Anfang war. Wir wollen alle nicht mehr darüber lesen und uns damit mehr beschäftigen… was mich allerdings gar nicht störte ist im Roman: Die letzte macht die Licht aus. Es geht allerdings um eine Pandemie irgendwann in 2023 aber eher um die einzig überlebende Frau, die alleine in der Welt bleibt. Da wurde Corona erwähnt : “ wir haben aus Corona dies und das gelernt“ so in der Art. Vielleicht weil „Corona“ beendet wurde und als Teil der Geschichte erwähnt wurde hat das mich nicht gestört.

  10. Ich kann das Thema nicht hören, vermeide es in Gesprächen, versuche, Meldungen zu ignorieren – und doch ist es überall. Das ist ok, das ist die Welt, in der wir leben. In der Philosophie beschäftige ich mich mit normativen Fragen und aktuellen Analysen. Das ist ok, das ist interessant vom gesellschaftlich-politischen Standpunkt. Einen Roman dazu möchte ich nicht lesen. Ich habe es versucht. Thea Dorns „Trost“ – ich musste abbrechen.

    Natürlich fliesst die Realität in gegenwärtige Romane, doch wenn die Realität schon überbordet durch die Berichterstattung der Medien und all das (das war früher nicht da, so dass Literatur vielleicht zum Träger wurde), bin ich froh um coronafreie Zonen.

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