Eine Stadt im Sumpf

Nathaniel Rich: King Zeno

Eine Weile habe ich überlegt, wie ich das Buch »King Zeno« von Nathaniel Rich hier vorstellen soll. Denn auf den ersten Blick hat es der Autor als Kriminalroman angelegt; und ja, er erzählt von der Suche nach einem Mörder, von Leichenfunden, es gibt Schusswechsel und Verfolgungsjagden und am Ende einen Showdown. Doch hinter dieser Fassade hat die Geschichte noch viel mehr zu bieten, sie nutzt die Form des Krimis als Vehikel, um von einer Stadt im Umbruch zu berichten, von einer spannenden Musikszene, die der Welt neue Impulse geben wird – und von Umweltsünden, die diese Stadt knapp ein Jahrhundert später einholen sollten. Die Rede ist von New Orleans und »King Zeno« nimmt uns mit in das Jahr 1918; zehn Monate lang begleiten wir drei Menschen, deren Leben sich in diesem Zeitraum verändern wird. Dramatisch verändern wird, auf die ein oder andere Weise.

Ein Bauprojekt verknüpft die einzelnen Erzählstränge miteinander: Am 6. Juni 1918 beginnt das Ausbaggern des »Industriekanals«, um den Mississippi mit dem Lake Pontchartrain zu verbinden – und damit New Orleans zu einer bedeutenden Hafenstadt zu machen. Um die Idee zu verwirklichen, werden Landbesitzer zum Verkauf ihrer Grundstücke gedrängt, ein hundert Jahre altes Kloster abgerissen und eine einzigartige Sumpflandschaft zerstört. Der Kanal fräßt sich brachial durch einen versunkenen und im Morast konservierten Steinzeitwald; uralte Baumstämme zeugen von einem tausende Jahre alten Ökosystem, das rücksichtslos weggegraben wird. Ein Knochenjob, den hunderte Arbeiter mit Spaten, Hacken, Schaufeln und mit Hilfe von Saugbaggern erledigen. Es sind ausschließlich Schwarze, die diese schwere Arbeit verrichten, die durch Morast waten, von Sumpfgasen gequält werden, dabei Meter um Meter den Kanal ausheben. Achteinhalb Kilometer lang, zwischen fünfundvierzig und neunzig Meter breit und neun Meter tief. 

Einer dieser Arbeiter ist Izzy Zeno, der diesen Job dringend benötigt, um seine Familie zu versorgen. Dabei ist er ein begnadeter Musiker, ein Genie an dem Kornett – und es ist nicht schwer zu erraten, dass der Autor diesen Protagonisten als eine Hommage an Louis Armstrong erschaffen hat, der ebenfalls immer nur eines wollte: Musik machen. Seine Musik. Ebenso geht es Zeno; die gnadenlose Maloche tötet seine Träume und er sucht verzweifelt einen Weg, seine Art der Musik – den Jazz – zu den Menschen zu bringen. Eine starke Textstelle beschreibt ihn und seine Sehnsucht: »Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es ihm elend ging, dass sich jeder Tag, an dem er nicht spielte, anfühlte, als fiele in einem brennenden Haus ein weiteres Fenster zu, als wäre die Luft immer verrauchter, als würde man die Fluchtwege abriegeln.«

Hinter dem Kanalbau steht ein Firmenkonsortium, auf die Beine gestellt von Beatrice Vizzini. Sie ist die Witwe des Paten von New Orleans und führt nach dem Tod ihres Mannes die Mafia mit harter Hand, schafft es aber, alle Geschäfte so im Verborgenen abzuwickeln, das die Polizei schon fast vergessen hat, dass es in der Stadt Organisiertes Verbrechen gibt. Der Kanalbau ist ihre große Chance, einen Fuß in zumindest halblegale Geschäfte zu bekommen. Sorge macht ihr dabei ihr Sohn Giorgio, ein Hüne, der beschränkt wirkt, aber ein echter Soziopath ist, unberechenbar und brutal. 

Als in der Kanalbaustelle eine Leiche gefunden wird, verknüpfen sich die Erzählstränge, und zum Einsatz kommt Inspektor Bill Bastrop, ein hochtraumatisierter Weltkriegsveteran, der als seelisches Wrack aus den Schützengräben in Frankreich nach Hause kam; einen riesigen Berg angehäufter Schuld im Gepäck. Eine Schuld, die ihm nach und nach den Lebenswillen abzuschnüren beginnt: »Doch die Monate verstrichen, und er fing sich nicht mal einen Husten ein, und am Ende begriff er, dass ihm die Spanische Grippe einen Streich gespielt hatte, schlimmer als der Tod. Sie zwang ihn, weiterzuleben.«

Denn auch die Spanische Grippe ist in New Orleans eingetroffen und wirbelt alles durcheinander, sorgt für Angst, Chaos und Tod. Allerdings sterben nicht alle an der Seuche und in all seinem abgestumpften Phlegma beginnt sich vor Bastrop eine Mordserie aus dem morastigen Dunkel zu schälen. Dies alles kombiniert der Autor mit einem echten Kriminalfall, den Axeman-Morden. 1918 und 1919 verbreitete ein Serienmörder Angst und Schrecken in New Orleans, der seine Opfer mit einer Axt erschlug. Bis heute sind diese Fälle nicht  aufgeklärt; auch die legendäre Jazznacht, die durch ein mutmaßliches Bekennerschreiben zustande kam, gehört zur Axeman-Geschichte: Der Absender des Briefes gab sich als Axeman aus und forderte die Einwohner von New Orleans auf, am Abend des 18. März 1919 in all ihren Wohnungen Jazz zu spielen – nur wer der Aufforderung Folge leisten würde, bliebe verschont. Die Folge war eine einzige Jazz-Party in der ganzen Stadt. Die dieser Musik einen gehörigen Beliebtheitsschub verpasste. 

Was haben wir also: Eine Leiche im Sumpf der Kanalbaustelle, ein Serienmörder, beides äußerst gelungen verknüpft mit den historischen Ereignissen rund um den Axeman-Fall, mit der Spanischen Grippe und der Geschichte des Jazz. Doch trotz der vielen Krimi-Elemente ist der Spannungsbogen des Romans etwas knapp geraten; die Auflösung des Falles ist recht schnell offensichtlich. Aber das ist vollkommen egal. Denn im Zentrum der Handlung stehen die Gedanken, Ängste, Träume und Gefühle der drei Protagonisten. Und jeder von ihnen kommt uns auf seine Weise näher: Bill Bastrop, der in einer Mischung aus Verzweiflung, Apathie und Trotz versucht, seine Schuldgefühle in den Griff zu bekommen. Und seine Ehe zu retten. Beatice Vizzini, die sich gegen das Älterwerden und körperliche Gebrechen stemmt, als Geschäftsfrau und Mafiapatin rücksichtslos und knallhart agiert und lange nicht wahrhaben will, was in ihrer unmittelbaren Nähe geschieht. Und Izzy Zeno, die spannendste Figur der drei. Der für seine Musik brennt, der von Konzertsälen träumt, von tanzenden und schwitzenden Menschen, vom Rausch des Jazz, mitreißend und alle gesellschaftlichen Schranken überwindend. Der Leichenfund im Kanal setzt Ereignisse in Gang, die schicksalhaft sein werden. Für alle drei. 

Und dazu die Stadt im Sumpf. Die Schilderung des New Orleans jener Zeit ist in »King Zeno« weit mehr als eine literarische Kulisse. Es ist ein einzigartiger Ort, pulsierend, chaotisch, rau und gefährlich; mit einer verblichenen Eleganz der einstigen französischen Ansiedlung, umgeben von subtropischer Vegetation, von Sumpf und Moskitos und Wasser und Alligatoren. Dazu die schwüle, fiebrige Hitze, die so intensiv beschrieben ist, dass man beim Lesen beinahe zu schwitzen beginnt. Ungepflasterte Straßen und armselige Behausungen der schwarzen Bevölkerung, daneben die Villen der reichen Weißen; harte Gegensätze prallen aufeinander. Grandios schildert Nathaniel Rich eine explosive Mischung aus Rassismus, Armut, Ungerechtigkeit, Korruption, Organisiertem Verbrechen, Prostitution und Gewalt.

Doch über allem klingt der Jazz. Denn die neue Musik ist in der Welt. Und dort bleibt sie.

Und der Kanal? Er wurde im Mai 1923 fertiggestellt und er machte New Orleans tatsächlich zu einer wichtigen Hafenstadt. Aber als Ende August 2005 der Hurrikan Katrina mit zerstörerischer Wucht die Stadt traf, da waren es die Deiche dieses Kanals, die brachen – und verheerende Überschwemmungen verursachten, deren Bilder um die Welt gingen. 

Buchinformation
Nathaniel Rich, King Zeno
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0091-5

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