Das Buch der Stunde

Jens Bisky: Die Entscheidung

Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky.

»Deutschland 1929 bis 1934« lautet der Untertitel und es sind diese fünf Jahre, mit denen sich der Autor intensiv beschäftigt. Am Anfang und am Ende steht ein Todesfall: Am 3. Oktober 1929 starb Gustav Stresemann und mit ihm verlor die Republik einen ihrer wichtigsten Fürsprecher und einen charismatischen Politiker, dem es immer wieder gelungen war, im zersplitterten Reichstag fraktionsübergreifende Mehrheiten zu schaffen. Als Außenminister schaffte er es, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aus der Isolation zu führen; es war die stabilste Zeit der Weimarer Republik. 

Am 2. August 1934 starb Reichspräsident Paul von Hindenburg. Nach seinem Ableben ging per Dekret die Regierungsgewalt auf den von ihm im Jahr zuvor ernannten Reichskanzler Adolf Hitler über – Hindenburgs Tod war das Ereignis, mit dem die Herrschaft der Nationalsozialisten endgültig fixiert wurde. Es sind die Jahre zwischen diesen beiden Sterbedaten, in denen sich das Schicksal der Weimarer Republik und das Schicksal Deutschlands entschied. Mit Folgen bis heute, mit Folgen für ganz Europa, für die ganze Welt. 

»Die Agonie der Republik begann in jenem Herbst 1929«. Denn in diesem Jahr trafen mehrere Entwicklungen zusammen: Die Weltwirtschaftskrise warf ihre drohenden Schatten voraus und die Arbeitslosenzahlen stiegen dramatisch. Die bürgerlichen Parteien begannen sich zunehmend von der SPD, der Gründerin der Republik, zu distanzieren und sich weiter nach rechts zu orientieren. Und die reaktionäre Rechte, die den demokratischen Staat beseitigen wollte, formierte sich neu, begann sich zu vernetzen. Dazu kam ein dysfunktionales Parteiensystem; 15 Parteien saßen im Reichstag und behinderten sich gegenseitig. Dazu kam eine konservative Justiz, die oftmals selbst zum Lager der Republikfeinde gehörte. Dazu kam mit Hindenburg ein Reichspräsident, der nicht viel von einem demokratischen Staat hielt und sich einen rechtskonservativen Machtblock wünschte – unter Einbeziehung der NSDAP. Dazu kam eine von Stalin ferngesteuerte KPD, für die die SPD der eigentliche Feind war. Dazu kam eine rechtskonservative Unternehmerschaft, die gerne sämtliche durch die SPD errungenen Arbeitnehmerrechte rückgängig machen würde. Dazu kam ein desaströser Staatshaushalt, gebeutelt durch Krisen, Reparationszahlungen und einbrechender Konjunktur. Dazu kam eine Weltuntergangsstimmung, deren Auswirkung auf die Gesellschaft nicht zu unterschätzen sein dürfte: »Antibürgerliche Überzeugungen, die Erwartung eines Umsturzes und selbst die Verschwisterung von Zerstörung und Befreiung spielten in der Weimarer Kultur eine zentrale Rolle.« 

Dazu kam eine Orientierungslosigkeit vieler Menschen, kamen Zukunftssorgen und Ängste. Dazu kamen gesellschaftliche Spaltungen, eine Radikalisierung bis hin zu Straßenkämpfen und politischen Morden. Dazu kam der Terror, den die SA-Schlägertruppen der Nazis auf die Straßen der Städte trugen und damit eine zunehmende Stimmung aus Angst und Unsicherheit schufen. Dazu kam der berüchtigte Paragraph 48 der Verfassung des Deutschen Reiches, der es dem Reichspräsidenten ermöglichte, einen Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit einzusetzen und mit Notverordnungen zu regieren. Ursprünglich sollte dies während eines Ausnahmezustands zur Anwendung kommen, temporär begrenzt. Doch nach dem Zerbrechen der letzten großen Koalition und dem Rücktritt des SPD-Reichskanzlers Hermann Müller am 27. März 1930 war der zersplitterte Reichstag nicht mehr handlungsfähig. Das Scheitern der Koalition war von konservativen Strippenziehern rund um Hindenburg forciert worden – während die republikfeindlichen Parteien NSDAP und KPD ohnehin blockierten, wo sie nur konnten. Dies war das Ende der parlamentarischen Demokratie in Deutschland: Denn nun regierten die von Hindenburg nacheinander eingesetzten Kanzler Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher mit Hilfe der Notverordnungen am Parlament vorbei. Drei Männer, die mit ihrer desaströsen Politik für das endgültige Scheitern der Republik stehen und – gemeinsam mit Paul von Hindenburg – letztendlich den Weg für Hitler und die NSDAP frei machten. 

Es war eine fragile Epoche, deren Komplexität und »Schwanken zwischen Anarchie und Autorität« Jens Bisky in seinem Buch gleichermaßen akribisch wie spannend schildert. Mitreißend geschrieben mag man es kaum aus der Hand legen. Sehr lebendig wird es durch die zitierten Aufzeichnungen zahlreicher Zeitzeugen oder Beteiligter, die Auswahl reicht von Harry Graf Kessler über Siegfried Kracauer bis zu Joseph Goebbels. Oder durch Beispiele aus Kunst und Literatur, sei es die Rezeptionsgeschichte von Remarques »Im Westen nichts Neues« oder die Entwicklung der Monatszeitschrift »Die Tat«, deren Ausrichtung sich innerhalb eines Jahrzehnts von lebensreformerisch über bildungsbürgerlich zu rechtskonservativ wandelte – ein Beispiel für die Veränderungen des Zeitgeists. Die Schilderung der Lebenswirklichkeiten unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, ob Bauern, Arbeiter, Studenten, Beamte, Großgrundbesitzer, Mittelständler und vieler mehr sorgt für eine besondere Tiefe der Darstellung. 

Und am Ende stehen die Tore in Richtung Faschismus weit offen. Sobald Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, begannen zerstörerische Entwicklungen, die nicht mehr zu stoppen waren. »Kein Bericht kann der Fülle des Gleichzeitigen und der Geschwindigkeit gerecht werden, mit der die nationalsozialistische Diktatur errichtet, die totalitäre Zurichtung der Gesellschaft ins Werk gesetzt wurde. (…) Die Rasanz der Machtergreifung, der Strudel aus Maßnahmen, Aktionen, Verordnungen erzeugte einen eigenen Sog, dem sich viele nicht entziehen konnten und wollten.« 

Alles Weitere ist bekannt: Deutschland wurde zu einem Terrorstaat, der die halbe Welt mit Krieg überziehen und Millionen von Menschen unsägliches Leid zufügen würde. Das alles begann mit diesem 30. Januar 1933. 

Das Buch der Stunde

Da uns Nachgeborenen bekannt ist, wie damals alles endete, fühlte ich mich beim Lesen von »Die Entscheidung« als würde ich zusehen, wie sich ein Unfall ereignet: fassungslos und doch unfähig wegzuschauen. Und selten habe ich in einem Buch so oft Textstellen markiert; immer wieder lief mir dabei ein Schauer über den Rücken, denn allzu viel wirkt beim täglichen Blick in unsere Nachrichten vertraut. Hier ein paar Beispiele.

»Seit dem Winter 1928/29 verstärkten die Rechten das Trommelfeuer auf die Republik. Erfolgreich säten sie Unruhe, erschütterten das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit des politischen Systems, Probleme zu lösen, ja, überhaupt Entscheidungen zu fällen. Sie konnten dabei an verbreitete Unzufriedenheit anknüpfen, an enttäuschte Erwartungen.« (Seite 52)

»So ging die Republik ins Jahr 1930: mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung, die sich immer weiter nach rechts drängen ließ, und einer ›nationalen Opposition‹, die Aufwind verspürte, strategische Initiative gewann.« (Seite 93)

»Sosehr jedoch einerseits die politische Entwicklung beklagt wurde, so sehr zögerte man andererseits, jenen das Handwerk zu legen, die erklärtermaßen auf Bürgerkrieg und Diktatur hinarbeiteten. Gegen die Verharmloser und Beschwichtiger hatten verteidigungsbereite Sozialdemokraten wie Otto Braun, Carl Severing und Albert Grzesinski keine Chance.«  (Seite 158)

»Wie brenzlig die Lage war, hatte Willy Hellpach bereits Ende Mai 1930 im Parteiausschuss der DDP dargelegt: ›Es liegt eine Situation vor, in der jede Diskussion über praktische Einzelfragen die Erfordernisse der Zeit völlig verkennt. Es geht nicht um Taktik, sondern um ganz große Sachen. Es handelt sich in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht um das Schicksal der äußeren Hülle des Staates, sondern um den Inhalt, darum, ob wir in drei Jahren noch eine demokratische Republik oder eine Republik des kalten Faschismus haben werden.‹« (Seite 169)

»Im Jahr 1932 hing das Schicksal der Republik von den Entscheidungen einiger weniger ab, denen es an politischer Urteilskraft mangelte. Das lag zum einen an ihrer Überzeugung, qua Herkunft und gesellschaftlicher Position zur Führung des Landes berufen zu sein. Es lag auch an ihrer Weigerung, die Nation, in deren Namen sie handelten, als eine in sich vielfältige, von Interessengegensätzen geprägte zu begreifen.« (Seite 574)

Ja, ich weiß, Weimar ist nicht die Bundesrepublik, die AfD ist nicht die NSDAP. Aber trotzdem: Viele verschiedene Entwicklungen haben zwischen 1929 und 1934 gemeinsam zum Ende der Demokratie beigetragen. Doch ein wichtiger, ein entscheidender Punkt war das Zusammengehen der konservativen Parteien mit den Rechtsradikalen – um die SPD und alles was in irgendeiner Weise als »links« galt, aus der Regierung zu drängen und davon fernzuhalten. Und wenn nun, Anfang 2025, der Kanzlerkandidat der CDU beginnt, mit einer rechtsradikalen, faschistoiden Partei zu paktieren, dann bedeutet es entweder, dass er aus der Geschichte nichts gelernt hat. Oder dass es im egal ist. Die AfD ist kein politischer Gegner, sondern ein Feind unserer Gesellschaft, unserer Freiheit und unseres Landes. Und mit einem Feind sucht man keinen Schulterschluss, man bekämpft ihn.

Vielleicht sollte ich Herrn Merz dieses Buch schicken. Und am besten beginnt er die Lektüre mit dem letzten Satz: »Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen.«

Buchinformation
Jens Bisky, Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0125-7

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Eine Botschaft vom Tiefpunkt

Vaterland, Muttersprache: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit 75 Jahren und natürlich ist dies ein Grund zum Feiern. Denn allen Baustellen zum Trotz, die wir in unserem Land gerade zu bewältigen haben, ist es die Grundlage für unser Leben in einer der freiesten Gesellschaften auf dieser Erde. Aber unsere Demokratie und unsere Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten – ganz im Gegenteil, sie sind permanent von außen wie von innen bedroht und müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Und niemals darf dabei vergessen werden, dass auch unser Grundgesetz aus Asche, Ruinen und Zerstörung geboren wurde. Aus millionenfachem Tod und unsäglichem Leid, mit dem Deutschland einst die halbe Welt überzogen hatte. Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa zu Ende war, und erst allmählich die Dimensionen der Vernichtung und das Grauen der Konzentrationslager sichtbar wurden, war die deutsche Geschichte an ihrem Tiefpunkt angelangt – und dass das Land der Täter jemals wieder zum Kreis der zivilisierten Völker gehören würde, in diesem Moment kaum vorstellbar. Trotzdem ist es gelungen. Und heute, viele Jahrzehnte später, sind die Ereignisse jener Jahre in weite Ferne gerückt, die letzten Zeitzeugen sind alte Menschen geworden und bald wird niemand mehr von ihnen leben. Genau deshalb ist es so wichtig, die Erinnerungen an diesen Tiefpunkt, an diese Stunde Null wachzuhalten. Denn wir Nachgeborene haben keine Schuld an den Verbrechen, die in deutschem Namen verübt wurden – aber wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie sich niemals wiederholen. Das ist unser historisches Erbe. 

Ich möchte in diesem Blogbeitrag einen Text des Dichters Franz Werfel vorstellen, den er am 25. Mai 1945 geschrieben hat, also nur etwas mehr als zwei Wochen nach Kriegsende. Gefunden habe ich ihn in dem Sammelband »Vaterland, Muttersprache«, der 1994 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und immer noch lieferbar ist – und der eine grandiose Zusammenstellung von Texten aller Art enthält, in denen sich deutsche Autoren und Autorinnen seit 1945 mit ihrem Staat auseinandersetzen. Eine wahre Fundgrube und ein Stück Zeitgeschichte. „Eine Botschaft vom Tiefpunkt“ weiterlesen

F wie Faschismus. Ein Textbaustein*

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Es ist schon ein paar Jahre her, ich war damals erst seit kurzem für den Eichborn Verlag tätig und begleitete den norwegischen Autor Simon Stranger auf einer Lesereise. Im Gepäck hatte er seinen gerade auf Deutsch erschienenen Roman »Vergesst unsere Namen nicht«. Es gibt einen Satz in diesem Buch, der sich mir besonders eingeprägt hat und über den ich hier schreiben möchte. Denn er fühlt sich auf eine bedrohliche Art hochaktuell an. 

Der norwegische Originaltitel des Romans lautet »Leksikon om lys og mørke«, frei übersetzt: Lexikon des Lichts und der Finsternis. Simon Stranger erzählt darin die Geschichte der jüdischen Familie seiner Frau im von Nazi-Deutschland besetzten Norwegen. Jedes Kapitel beginnt wie in einem Lexikon mit einem Buchstaben und den passenden Worten, die sich daraus ergeben – von A wie Anklage bis Z wie Zugvögel. Für den Übersetzer Thorsten Alms war dies eine echte Herausforderung, die er souverän gelöst hat. Und beim Kapitel zum Buchstaben F steht er, der Satz, den ich nicht vergessen kann:

»F wie früher, die Vergangenheit, die es immer noch gibt, und wie der Faschismus, der sich hineinfrisst, wie ein Furunkel in die Kultur.«  „F wie Faschismus. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Keine Heldengeschichten

Uwe Wittstock: Februar 33 - Der Winter der Literatur

Am 30. Januar 1933 war die Weimarer Republik am Ende, die Nationalsozialisten an der Macht, und das erste längere demokratische Experiment auf deutschem Boden versank in Gewalt und staatlichem Terror. Die Dynamik, mit der dies geschah, ist erschreckend: »Für die Zerstörung der der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.« Dieses eindrucksvolle Zitat stammt aus dem Buch »Februar 33 – Winter der Literatur« von Uwe Wittstock. Anhand der Schicksale vieler der damaligen Literaturschaffenden rekonstruiert er die dramatischen Ereignisse. Furchteinflößend und mitreißend gleichzeitig, denn er schafft es, uns so dicht an diese alles verändernden Wochen heranzuführen, wie es mit der Macht der Sprache nur möglich ist. „Keine Heldengeschichten“ weiterlesen

Täterland ist abgebrannt

Andreas Pflueger: Ritchie Girl

»So hätte ein Roman beginnen können, der im Reich der Toten spielte: mit den Schemen von Häusern, die sie fühlte, obwohl sie nicht mehr da waren, Geistergebäude, blumengeschmückt, fahnenbehängt, an jedem Fenster schreiende Menschen, ihre Heil-Rufe ein Echo, so wie alles in  Deutschland nur noch ein Echo war – von Schamlosigkeit und Obszönität und Gier, von Hass, von weißer Farbe, die auf Schaufensterscheiben klatschte, von klirrendem Glas, von Zahnbürsten auf Straßenpflaster, vom Wegschauen, Schulterzucken, dem Was-hätte-ich-denn-tun-können, dem Das-ging-mich-nichts-an. Das schlimmste und lauteste Echo, der wahre Grund für all dies. Sie fragte sich, was käme, wenn die Echos irgendwann verhallt wären, wenn es still wurde.«

Der Roman »Ritchie Girl« von Andreas Pflüger ist voller Textstellen, die einen den Atem stocken lassen und die einen tief in die erzählte Geschichte hineinziehen. Doch diese starke Passage ragt noch einmal daraus hervor und ich konnte nicht anders, als die Buchvorstellung mit ihr beginnen zu lassen. Denn mit wenigen Worten skizziert der Autor darin ein Land in Trümmern, besiegt, zerstört, am Ende. Und beladen mit einer Schuld, wie es sie nie zuvor gegeben hat. „Täterland ist abgebrannt“ weiterlesen

Ein Diktator im Fadenkreuz

Geoffrey Household: Einzelgaenger, maennlich

Als der Diktator im Fadenkreuz auftauchte und der Zeigefinger des Schützen am Abzug lag, kam ein leichter Wind auf. Der Luftzug zwang ihn, das Präzisionsgewehr nachzujustieren und in diesen wenigen Sekunden wurde er von den Sicherheitskräften überwältigt. Damit beginnt der Roman »Einzelgänger, männlich« von Geoffrey Household. Jener Schütze ist der Ich-Erzähler, der berichtet, wie er anschließend in das große Anwesen gebracht und gefoltert wurde. Ohne Fingernägel und mit einem zugeschwollenen, stark verletzten Auge wird er eine Felswand hinabgeworfen, um seinen Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Denn anhand seiner Papiere identifizierten seine Peiniger ihn als einen prominenten Angehörigen der englischen Oberschicht, den sie nicht einfach verschwinden lassen konnten. Wie durch ein Wunder überlebt er den Sturz und es beginnt eine dramatische Jagd. 

Es ist immer wieder spannend, beim Stöbern im heimischen Bücherregal verborgene Leseschätze zu entdecken; viele Bücher lagern dort schon seit Jahren. »Einzelgänger, männlich« hatte ich mir irgendwann quasi im Vorbeigehen gekauft, weil mir Titel und Cover gefielen – und weil der Verlag Kein & Aber es schafft, bibliophile Taschenbücher herzustellen. Ich mag diese Gestaltung mit dem schlichten Cover und dem bei Paperbacks außergewöhnlichen Farbschnitt sehr. Und auch wenn ich normalerweise versuche, den Kauf von Taschenbüchern zu vermeiden, mache ich bei dieser Reihe gerne eine Ausnahme. Auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht. „Ein Diktator im Fadenkreuz“ weiterlesen

Abgebrochene Brücken

Kai Havaii: Rubicon

Eigentlich hätte ich den Namen Kai Havaii kennen müssen, denn ich bin in den Achtzigerjahren aufgewachsen und er war – oder vielmehr ist – der Sänger der Band »Extrabreit«. Aber die Musik der Neuen Deutschen Welle mochte ich noch nie und auch dreißig Jahre später wechsele ich auf Partys schnell den Raum, wenn die NDW-Nostalgierunde läuft. Wobei ich in Zeiten, wie wir sie momentan erleben,  gerne dazu auf dem Tisch tanzen würde, wenn Partys überhaupt wieder möglich wären.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte ich den Namen Kai Havaii noch nie gehört, als ich bei der Frankfurter Buchmesse 2019 am Blauen Sofa vorbeikam, dem Veranstaltungsformat des ZDF. Genau in diesem Moment war eine Krimirunde zu Gast, es saßen dort Simone Buchholz, Judith Ahrendt, Sebastian Fitzek und eben Kai Havaii. Ein lässiger Typ, der gerade von seinem Kriminalroman »Rubicon« erzählte, der kurz zuvor erschienen war. Und das auf eine Weise, die mich so neugierig machte, dass ich zwei Stunden später mit diesem Buch im Zug saß, auf dem Weg zurück nach Köln. Und mit zunehmender Begeisterung in die Geschichte von Carl Overbeck eintauchte. „Abgebrochene Brücken“ weiterlesen

Ein Fenster in die Geschichte

Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland

In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.  

Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden. „Ein Fenster in die Geschichte“ weiterlesen

Vor dem Untergang

Eric Sonneman: Der letzte Sommer / The Last Summer

Bevor der Mannheimer Photolaborant Erich Sonnemann seinen Namen in Eric Sonneman ändern würde, besuchte er ein letztes Mal seine Verwandtschaft in Freudental – einem Dorf  in der schwäbischen Provinz, irgendwo zwischen Ludwigsburg und Heilbronn. Mit dabei hatte er seine Kamera, mit der er die Familie seines Onkels und dessen Freunde photographierte. Und die Arbeit auf den Feldern, denn es war Erntezeit, damals im Sommer 1938. Ob Erich Sonnemann wusste, dass es danach kein Wiedersehen geben würde? Er emigrierte kurz darauf in die USA und aus seinen Bildern jenes Sommers sind heute Dokumente der Zeitgeschichte geworden. Denn fast alle der darauf abgebildeten Menschen waren einige Jahre später tot, ermordet von ihren Landsleuten und Mitbürgern. Weil sie Juden waren. In dem schmalen Band »Der letzte Sommer« aus der Reihe »Freudentaler Blätter« können wir einige der Photos anschauen. Und erhalten einen Eindruck von trügerischer Normalität, die keine drei Monate später zerbröseln sollte wie ein morsches Stück Holz. Die Photographien sind das Denkmal einer verschwundenen Welt, untergegangen in Barbarei, Leid und Tod. „Vor dem Untergang“ weiterlesen

Gestatten?* Von Droste-Hülshoff

Karen Duves und Tanja Kinkels Buecher ueber Annette von Droste-Huelshoff

Wenn man am Bodensee aufwächst, gehören regelmäßige Besuche auf der Meersburg zur Kindheit. Als Familien-, Schul- oder Geburtstagsausflug, per Auto, per Bus oder per Schiff – die älteste noch bewohnte Burg Deutschlands ist eines der beliebtesten Ziele in dieser Region. Sie ist allerdings wirklich beeindruckend, ein trutziges  Gemäuer mit dunklen, kargen Räumen hoch über dem  See. Es gehört aber auch ein schön angelegter Burggarten dazu und an der einen Seite dieses Gartens steht ein bescheidenes Häuschen, eingerichtet mit Möbeln aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier verbrachte die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff einen großen Teil der letzten Jahre ihres Lebens und hier steht ihr Sterbebett.

Ich weiß noch, wie ich mich als Kind über die Größe des Bettes gewundert habe, es ist so klein, dass nur eine äußerst zierliche Erwachsene darin hätte liegen können. Das war mein erster Kontakt mit Annette von Droste-Hülshoff und so wie die Besuche auf der Meersburg zu meiner Kindheit gehören, so ist auch ihr Name damit verbunden. Viel mehr wusste ich bis vor kurzem nicht über sie, mit ihrer Person und ihrem Werk habe ich mich bisher nie beschäftigt. Doch das hat sich nun dank zweier Bücher geändert, die ich hier vorstellen möchte. Es handelt sich um die Romane »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duve und »Grimms Morde« von Tanja Kinkel. Beide bringen uns auf sehr unterschiedliche Weise das kurze Leben Annette von Droste-Hülshoffs nahe und holen die heute kaum noch präsente Dichterin – die zu den wichtigsten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts gehörte – in unsere Zeit.  „Gestatten?* Von Droste-Hülshoff“ weiterlesen

Ein Mahnmal aus Papier

Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Buecher

Für das zentrale Spektakel war in Berlin auf dem Opernplatz ein großer Scheiterhaufen aufgebaut worden. Doch nicht nur dort, sondern in vielen anderen deutschen Orten loderten am Abend des 10. Mai 1933 die Flammen. Verbrannt wurden unzählige Bücher, die fanatisierte Studenten zuvor aus den Bibliotheken gezerrt hatten. Entweder waren ihre Autoren dem sich immer stabiler konstituierenden Nazi-Regime ein Dorn im Auge oder ihr Inhalt entsprach nicht »dem deutschen Geist«. Organisiert wurde die barbarische Aktion nicht von der NSDAP, sondern durch die Deutsche Studentenschaft, dem Dachverband der studentischen Selbstverwaltung. Diese Kampagne ist einer der Tiefpunkte unserer Geistesgeschichte, an Symbolik kaum zu überbieten.

Das Datum dieses widerwärtigen Schauspiels jährt sich 2018 zum fünfundachtzigsten Mal. Ein Grund, hier »Das Buch der verbrannten Bücher« vorzustellen, mit dem Volker Weidermann den verfemten, verfolgten und zu einem nicht unbedeutenden Teil heute vergessenen Autoren ein Denkmal gesetzt hat. Natürlich eines aus Papier. Bereits vor zehn Jahren erschienen, ist es heute immer noch erhältlich und ich hoffe, dass dies noch lange so bleiben möge. „Ein Mahnmal aus Papier“ weiterlesen

Flüchtling im eigenen Land

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Als ich das Buch »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz zu Ende gelesen hatte und es zugeschlagen neben mir auf dem Tisch lag, musste ich erst einmal tief durchatmen. Um die Anspannung zu lösen, mit der ich bis zuletzt Seite für Seite umgeblättert habe. Und um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden, denn »Der Reisende« ist kein gewöhnlicher Roman. Vielmehr ist dieses Buch ein Zeitdokument in Romanform, das uns einen tiefen Einblick gewährt in das Deutschland des Novembers 1938. „Flüchtling im eigenen Land“ weiterlesen

Peace for our time

Robert Harris: München

Es ist eines der bekanntesten Photos des 20. Jahrhunderts: Der britische Premierminister Neville Chamberlain steht vor zahlreichen Mikrofonen und hält ein Stück Papier in die Höhe. »Peace for our time« ruft er dabei den zuhörenden Menschen zu. Es ist der 30. September 1938, Chamberlain kommt gerade von der Unterzeichnung des Münchner Abkommens zwischen ihm, dem französischen Präsidenten Daladier, Hitler und Mussolini. Der damit vermeintlich gesicherte Friede war mit der Zerstückelung der Tschechoslowakei erkauft, deren Regierung erst gar nicht um ein Einverständnis gebeten wurde. Das Bild, mit dem Chamberlain in die Geschichtsbücher einging, ist das eines etwas distinguierten, älteren Herrn, der sich mit seiner Appeasement-Politik von dem deutschen Diktator über den Tisch ziehen ließ. Aber war er das wirklich? Der Autor Robert Harris rückt in seinem Roman »München« dieses Bild zurecht und bringt uns jene dramatischen Tage auf seine unnachahmlich mitreißende Art und Weise so nahe, wie es literarisch nur möglich ist. „Peace for our time“ weiterlesen

Auf Rattenjagd

Der Spruch von den Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, hat sich selten in einer solchen Dimension bewahrheitet wie nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur im Jahr 1945. Unzählige Täter tauchten unter, vielen gelang es, das von ihnen zerstörte Europa zu verlassen und besonders in südamerikanischen oder arabischen Ländern Zuflucht zu finden. Hier siegte Politik über Gerechtigkeit: Anstatt so viele Nazis wie möglich an den verdienten Galgen zu bringen, duldeten die alliierten Geheimdienste den Mörder-Exodus, wenn sie ihn nicht gar unterstützten. Denn mit dem Triumph Sowjetrusslands und dessen Griff nach großen Teilen Osteuropas war eine neue Bedrohung der westlichen Welt am Horizont erschienen. Der Beginn des kalten Krieges zeichnete sich ab und flüchtende SS-Leute waren plötzlich potenzielle Verbündete im Kampf gegen den Bolschewismus. Natürlich nicht offiziell, aber es etablierten sich feste Fluchtrouten, etwa über die Alpen zu den italienischen Häfen. Mit tatkräftiger Unterstützung der katholischen Kirche und des italienischen Roten Kreuzes. Dies waren die sogenannen »Rattenlinien«.

Der gesamte Aspekt der Täterflucht aus Europa ist bisher nur wenig erforscht, bis heute liegen etliche Zusammenhänge im Dunkeln. Umso spannender ist daher, sich mit zwei Romanen dieser Zeit und diesem Thema zu nähern. Es sind dies »Rattenlinien« des Autors Martin von Arndt sowie »Der vierte Mann« von Stuart Neville. „Auf Rattenjagd“ weiterlesen

Ein Buch für unsere Zeit

Ian Kershaw: Höllensturz

Seit über sieben Jahrzehnten herrscht in Europa weitgehend Frieden*. Allen Auswüchsen des Kalten Krieges, den Balkankonflikten der Neunziger oder den ehemals bürgerkriegsähnlichen Zuständen Nordirlands zum Trotz: Dass sich Europas Länder gegenseitig zerfleischt und den Kontinent an den Rand des vollkommenen Zusammenbruchs gebracht haben, scheint endlos lange zurückzuliegen. So lange, dass man zu vergessen beginnt, was für ein fragiles Gebilde dieser Friede ist. In Zeiten zunehmender Abschottung, der Rückkehr des Nationalismus, vor dem Hintergrund des Brexit und der Erfolge dumpfrechter Parteien liefert uns der Historiker Ian Kershaw ein Werk, das uns die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert nahebringt. Es ist auf zwei Bände angelegt; der erste Band trägt den passenden Namen »Höllensturz« und beschreibt den Zeitraum zwischen 1914 und 1949. Packend und mitreißend geschrieben, lehrreich ohne professoral-dozierenden Tonfall zeigt er uns, wie Europa den Weg in den Abgrund beschritten hat. Zweimal. „Ein Buch für unsere Zeit“ weiterlesen