Drama im Nieselregen

Nadifa Mohamed: Der Geist von Tiger Bay

Jedem literaturbegeisterten Menschen wünsche ich, mindestens eine Buchhandlung seines Vertrauens in Reichweite zu haben. Bedingt durch die Größe der Stadt, in der ich lebe, sind es bei mir sogar mehrere; eine davon ist nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Es ist keine große Buchhandlung, tatsächlich ist sie sogar recht klein. Aber sie ist so gut sortiert, dass ich jedes Mal, wenn ich sie besuche, ein Buch finde, von dem ich zuvor noch nicht wusste, dass ich es dringend benötigen würde. Dort stieß ich auch auf den Roman »Der Geist von Tiger Bay« von Nadifa Mohamed, ein Werk, das ohne diesen Buchhandlungsbesuch wahrscheinlich an mir vorbeigegangen wäre. Und damit hätte ich eine beeindruckende und erschütternde Lektüre verpasst. Eine, die man nicht mehr so schnell aus dem Kopf bekommt. 

Die Handlung führt zurück in das Jahr 1952, ins walisische Cardiff. Die Stadt war damals einer der wichtigsten Häfen der Welt, in dem ein großer Teil der Kohle aus den walisischen Bergwerken verschifft wurde. Und Tiger Bay wurde das Hafenviertel genannt; ein lebendiger und multikultureller Stadtteil, in dem Menschen aus über fünfzig Nationen zusammenlebten. Eine Arbeitergegend, in der auch viele Matrosen ein Zuhause fanden. Straßenzüge mit einfachen Häusern, kleine Geschäfte, in denen Dinge des täglichen Bedarfs oder Ausrüstungsgegenstände für Seeleute verkauft wurden; der Geruch der Kohleöfen, der sich mit der brackigen Luft des Hafens vermischte, ständiger Nieselregen, Kneipen, Spelunken, Bars, Tanzlokale, das ein oder andere Bordell. Kleinkriminelle und Diebe machten das Viertel unsicher, aber es lebten auch unzählige Familien dort, einfache Menschen mit ihren Kindern, die versuchten, irgendwie über die Runden zu kommen. Es war eine raue Gegend; mit dem Niedergang des Hafens und der Kohleförderung ist sie verschwunden. Straßenzüge wurden abgerissen, Menschen zogen fort, Häuser verfielen. Und Tiger Bay wurde zu einem Mythos.

Heute finden Touristen dort ein schickes Ausgehviertel mit unzähligen Restaurants, Bars und Cafés. Einige alte Straßenzüge sind erhalten geblieben und als ich sie mir mit Google Streetview angeschaut habe – etwas, das ich beim Lesen eines Romans sehr gerne mache – konnte ich mir gut vorstellen, wo sich die Personen des Romans bewegt haben mussten. Wobei das gar nicht notwendig gewesen wäre, denn die Autorin Nadifa Mohamed schafft es mit wunderbaren Worten, Tiger Bay wieder zum Leben zu erwecken: »Wie ein uraltes versteinertes Tier, das aus dem Meer steigt, taucht aus Industrienebel und Wasserdunst die Bucht auf. Schlendert man am Hafen entlang, trifft man auf Matrosen, die Papageien mit sich führen, oder Jäckchen tragende kleine Affen, entweder als Andenken, oder um sie zu verkaufen, man kann zu Mittag Chop Suey essen und abends jemenitischen salta, nicht einmal in London stolpert man so häufig über hübsche Mädchen – mit Großeltern aus vier Kontinenten – wie in Tiger Bay.«

Noch während ich dies schreibe, überlege ich, ob mich die das Buch prägende Schilderung eines Hafens, einer Hafengegend, letztendlich in die Geschichte hineingezogen hat. Denn ich bin Sohn eines Seemanns, mein Vater war einen großen Teil seines viel zu kurzen Lebens unterwegs, irgendwo auf der Welt. In den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren wird er viele Gegenden wie diese gekannt haben; als ich beim Ausräumen des Elternhauses seine mit Stempeln und Eintragungen übersäten Seemannsbücher fand, ist mir erst klar geworden, wie viel er erlebt haben muss – aus seinen Erzählungen kannte ich nur einen Bruchteil davon. Während meiner Kindheit war er meistens zwei Monate zu Hause und dann drei Monate wieder unterwegs auf dem Meer. Und deshalb sind Hafenstädte immer etwas Besonderes für mich. Aber genug des Abschweifens, doch es ist immer wieder faszinierend, wie Details einer Romanhandlung ganz bestimmte Saiten in einem zum Klingen bringen. Auch wenn diese mit dem Drama, das sich in »Der Geist von Tiger Bay« entwickeln wird, nichts zu tun haben. 

Im Jahr 1952 leidet Großbritannien unter den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Nicht nur in Cardiff sind noch die Schäden der Bombardierungen zu sehen, die Versorgungslage ist überall angespannt, der Zerfall des Empire hat bereits begonnen. Unzählige britische Matrosen sind im Krieg getötet worden, so dass die englische Handelsmarine in den Ländern des Commonwealth junge Männer anheuert, um die Lücken zu füllen. Aus Jamaika und Somalia folgen besonders vielen diesem Ruf und schuften als Heizer, Kohlenschlepper oder Hilfsmatrosen auf den Weltmeeren; alles in der Hoffnung auf ein besseres Leben.  

Mahmood Mattan ist einer von ihnen. Nach Jahren schwerer Arbeit auf See ist der Somalier in Tiger Bay gestrandet. Hier möchte er erst einmal bleiben, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, verliebt sich, heiratet Laura, die aus einer Arbeiterfamilie stammt. Drei Söhne haben die beiden, doch als wir ihn im Februar 1952 kennenlernen, lebt er alleine, bewohnt ein armseliges Zimmer in einer Pension. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, hat seine Unbeständigkeit nicht mehr ausgehalten. Mahmood Mattan ist ein Lebemann; wenn er Geld hat, gibt er es mit vollen Händen aus. Wenn er keines hat, nimmt er es mit der Ehrlichkeit nicht ganz so genau. Er legt Wert auf gute Kleidung, auch wenn er sie sich eigentlich nicht leisten kann, liebt Sportwetten und Glückspiele, steht hier in der Kreide und muss dort sicherheitshalber die Straßenseite wechseln, wenn ein Gläubiger entgegenkommt. Aber sein Traum, es irgendwann zu schaffen, ist nie ausgeträumt. Und er liebt seine Frau und seine Söhne auf seine Art, aber von ganzem Herzen. 

Wegen seiner unsteten Art wird er von allen Seiten misstrauisch beäugt: Der somalischen Community – es gibt viele Menschen aus Somalia in Tiger Bay – ist er nicht ganz geheuer, auch wegen seiner weißen Frau. Die jamaikanische Community – es gibt viele Menschen aus Jamaika in Tiger Bay – betrachtet ohnehin alle Somalier mit Misstrauen. Und die Weißen schauen mit Verachtung auf ihn herab – während seine Frau und Kinder immer wieder rassistischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Denn ein multikultureller Stadtteil bedeutet nicht, dass das Leben dort frei von Spannungen abläuft, ganz im Gegenteil 

Dann geschieht ein Mord. Und Mahmood wird verhaftet. 

Violet Volacki, die Besitzerin eines Krämerladens wurde umgebracht, während ihre Schwester Diana und deren kleine Tochter Grace im Zimmer nebenan zu Abend aßen. Zeugen sahen »einen Schwarzen«, der nach Ladenschluss noch geklingelt hatte. Der polizeibekannte Mahmood hat kein Alibi, verstrickt sich beim Verhör in sich widersprechende Aussagen, ein paar Bekannte, die ihm nicht besonders freundlich gewogen sind, nutzen die Gelegenheit, ihn noch tiefer in die Situation hineinzureiten – Mahmood gerät in die Mühlen eines Systems, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Und die möglichen Auswege werden weniger und weniger. 

Den ersten Teil des Buches prägen noch zwei Handlungsstränge. Wir lesen von der Lebensgeschichte Diana Tanays, einer der zahllosen, alleinerziehenden Soldatenwitwen nach dem Zweiten Weltkrieg – die nun auch den Mord an ihrer Schwester verarbeiten muss. Sie gehört zur jüdischen Gemeinde Cardiffs, die in den Jahren nach dem Krieg – so wie alle jüdischen Gemeinden auf der Welt – erschüttert wurde von den Auswirkungen der Shoah, deren unfassbare Dimension erst nach und nach klar wurde. 

Parallel dazu geht es um die Lebensgeschichte Mahmoods, die in der zweiten Hälfte des Buches den gesamten Raum einnehmen wird. Um seinen Weg, der vor Jahren in einem kleinen Ort in Somalia begann, und der ihn über viele schicksalhafte Wendungen bis ins regnerische Cardiff führte, nach Tiger Bay. Es geht um seine Rastlosigkeit. Um seinen Optimismus, der ihn sein Leben lang begleitete und der ihm nun zunehmend schwerer fällt. Er sitzt in Untersuchungshaft, die erste Gerichtsverhandlung steht an. Und ihm wird klar, dass er ein Ausgegrenzter ist, konfrontiert mit den Vorurteilen und dem Rassismus der Behörden, des Gerichts, der Geschworenen und des Publikums. Er steckt zum ersten Mal in seinem Leben richtig in der Klemme, in einer Situation, deren Ausweglosigkeit von Seite zu Seite bedrückender geschildert wird. Als Leser schwankte ich zwischen Hoffen und Bangen, begann auf ein Wunder zu warten, auf eine unerwartete Wendung. Denn die Strafe für einen Mord war in jener Zeit der Galgen. 

Im Klappentext des Buches steht, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt. Und ja, Mahmood Mattan hat wirklich gelebt. Der Mord hat wirklich stattgefunden. Und er wurde bis heute nicht aufgeklärt. 

»Der Geist von Tiger Bay« ist kein Kriminalroman, auch wenn es um einen Mord geht. Es ist kein Gerichtsthriller, auch wenn der Prozess ein bedeutender Teil der Handlung ist. Nadifa Mohamed hat über ein zutiefst ungerechtes und rassistisches System geschrieben, das mit Rechtsprechung nicht viel zu tun hatte. Und gleichzeitig schildert die Autorin in ihrem Roman ein Land im Umbruch, ein vom Krieg geschundenes England, das gerade dabei ist, seine Stellung als globale Macht zu verlieren. Vieles davon ist längst Vergangenheit, eine Vergangenheit in der der gesamte Stadtteil Tiger Bay verschwunden ist. Nicht verschwunden sind Vorurteile und Rassismus, denn auch wenn unsere Welt eine andere geworden sein mag, sind diese Geißeln des Zusammenlebens immer noch da. 

Ich habe das Buch gelesen, ohne mich über die Hintergründe zu informieren, ohne eine einzige Rezension wahrgenommen zu haben und mich von der Autorin einfach mitnehmen lassen in das Cardiff des Jahres 1952, in ein raues Hafenviertel namens Tiger Bay. Deshalb traf mich der Epilog des Romans mit voller Wucht. Und hat dafür gesorgt, dass ich den Namen Mahmood Mattan nicht mehr vergessen werde. 

Buchinformation
Nadifa Mohamed, Der Geist von Tiger Bay
Aus dem Englischen von Susann Urban
Verlag C. H. Beck
ISBN 978-3-406-77682-3

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2 Antworten auf „Drama im Nieselregen“

  1. Lieber Uwe,
    erstmal gut, das Du die Buchhandlung Deines Vertrauen hervorhebst. Wo sonst macht es als Bücherliebhaber so viel Spaß hinzugehen und zu stöbern?
    Bei mir ist es ähnlich, es gibt mehr als eine »Bücheranlaufstelle«, eine für den Alltag, eine für die skandinavische Lektüre und eine für die englischsprachige :-)
    Und dann noch, was meine Tochter so anschleppt, bei ihr in Berlin-Neukölln ist die Auswahl wieder ganz anders, so z.B. in dem schmucken kleinen
    https://buchhafen-berlin.de/,
    der den türkischen Flair mitbringt.
    Im »Alltagsladen« ist mir gerade »Klara and the sun« von Kazuro Ishiguro über den Weg gelaufen, ein bischen reingeblättert und ich konnte nicht widerstehen.
    Deine Rezension von »Der Geist von Tiger Bay« klingt äusserst ansprechend, Du hast viel Geist der Erzählung mit transportiert. Danke dafür, das kommt in den WHSt (= Will-haben-Stapel).
    Grüsse aus Berlin, Michael

    1. Lieber Michael,
      vielen Dank für Deinen Kommentar, schön, dass ich Dein Interesse an »Der Geist von Tiger Bay« wecken konnte. Und beim nächsten meiner regelmäßigen Berlin-Besuche schaue ich mir mal den Buchhafen an.
      Herzliche Grüße
      Uwe

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