Die Stunde der Idealisten

Volker Weidermann: Traeumer

Volker Weidermann beschreibt in seinem Buch »Träumer« die wenigen Monate zwischen November 1918 und Mai 1919, als in München eine Handvoll beherzter Idealisten nach der Macht griff, um eine bessere Welt zu schaffen. Und die damit dramatisch scheiterten.

Eine der eindrucksvollsten Szenen des Buches finden wir gleich im ersten Kapitel: Kurt Eisner, Journalist, Schriftsteller und Pazifist, besetzt mitten in der Nacht mit einer Gruppe Getreuer den bayerischen Landtag. Schon fast verwirrt über diesen leichten Erfolg übernehmen sie den notdürftig beleuchteten, leeren Sitzungssaal und entwerfen eine Proklamation für die Republik. Eine gespenstische Situation. In den frühen Morgenstunden ruft Eisner den bayerischen Freistaat aus, mit sich als Regierungschef. Es ist November 1918 und auf den Straßen herrscht das Chaos. Der Weltkrieg ist verloren, der bayerische König hat abgedankt – so wie der deutsche Kaiser und sämtliche andere deutschen Regenten auch. Die Menschen hungern und frieren, die geschlagenen Armeen strömen zurück in die Heimat, allerorts entstehen Arbeiter- und Soldatenräte. Ein Land in Auflösung.

In diesem Machtvakuum sehen die Idealisten, die Träumer, ihre Stunde gekommen, um das Ideal einer freiheitlichen Staatsform zu verwirklichen. Es ist eine Revolution der Dichter, Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller und Erich Mühsam bilden die Speerspitze. Aber nicht nur sie sind vor Ort, wir treffen auf viele bekannte Namen wie Oskar Maria Graf oder Rainer Maria Rilke, die fasziniert waren vom Strudel der Ereignisse. Herrmann Hesse schaut aus dem Tessin vorbei, Thomas Mann fürchtet um seine bürgerliche Existenz. Der Untertitel des Buches lautet »Als die Dichter die Macht übernahmen« und dies trifft es sehr gut: Es ist beeindruckend, wie viele Intellektuelle, Schriftsteller und Visionäre an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt zusammenkamen, um für ihr Ideal einer besseren Welt zu kämpfen.

Volker Weidermann hat für sein Buch unzählige Informationen und Aufzeichnungen zusammengetragen. Briefe, Tagebucheinträge, Erinnerungen, Reportagen und viele andere Quellen mehr verknüpft er miteinander und schafft so ein dichtes und äußerst lebendiges Bild dieser Zeit des Umbruchs. Herausgekommen ist dabei kein Geschichtsbuch, denn in viele Handlungen werden Gedanken hineininterpretiert, die den Akteuren in diesen Momenten möglicherweise durch den Kopf gegangen sein könnten. Doch genau dieses Romanhafte macht den Reiz des Buches aus und bringt uns die Menschen näher, die ihr Leben in die Waagschale warfen, um die Welt zu einer besseren zu machen. In jenen paar Monaten, in denen alles möglich scheint.

Doch es funktioniert nicht. Die Menschen darben, Idealismus ohne eine effektive Verwaltung genügt nicht, um ein Land zu regieren. Der Freistaat existiert nur in München, schon im Umland ein paar Kilometer entfernt interessieren sich die Bauern und Handwerker nicht dafür. Dann eskaliert die Situation, Kurt Eisner wird ermordet, die revolutionäre Bewegung spaltet sich, aus dem sozialistischen Freistaat Bayern wird die Münchner Räterepublik nach sowjetischem Vorbild; aus einer sozialistischen Träumerei wird bolschewistischer Fanatismus. Die ursprünglichen Akteure der Revolution verlieren zunehmend an Einfluss.

Für die SPD-geführte Reichsregierung in Berlin sind die Münchner Ereignisse eine ständige Provokation. Einheiten der Reichswehr, verstärkt durch rechtsradikale, paramilitärische Freikorpsverbände sollten dem Spuk ein Ende bereiten. Ein unseliges Bündnis marschiert auf München. Und dann fließt Blut. In einem Strudel aus Gewaltexzessen und Zerstörung geht das gesellschaftliche Experiment unter, über 2.000 Akteure und Anhänger der Räterepublik sterben oder wandern ins Gefängnis. Die Überlebenden derjenigen, die für eine gerechtere Gesellschaft angetreten waren, stehen vor den Trümmern ihrer Träume. Aber sie haben es wenigstens versucht.

Und einigen von ihnen gelingt die Flucht, unter anderem dem Revolutionär Ret Marut, von dem bis heute niemand genau weiß, wer er eigentlich war. Er schaffte es bis Mexiko, tauchte dort unter und wurde unter dem Pseudonym B.Traven als Schriftsteller weltberühmt – auch wenn ihn nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Seine Werke erschienen in den Zwanzigerjahren in der Büchergilde Gutenberg, er war damals einer ihrer wichtigsten Autoren.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.

Buchinformationen
Volker Weidermann, Träumer
Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04714-1

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7 Antworten auf „Die Stunde der Idealisten“

  1. Danke für die interessante Empfehlung und Analyse. Werde den Titel vielleicht in den Geschichts-Part meiner Deutschseminare (für fortgeschrittene amerikanische Studenten) mit einbeziehen. Geschichtsvermittlung und -verständnis durch romanhafte Erzählung und mal nicht durch Fakten und Statistiken. Evelin Brigitte Blauensteiner

    1. Vielen Dank für das Feedback. Wobei man sagen muss, dass es nicht schadet, wenn man ein paar der Namen jener Zeit schon einmal gehört hat, bevor man dieses Buch liest.

  2. Bin gerade bei ca. 2/3 des Buches. Thema ist sehr interessant. Das oben richtig beschreibende Romanhafte geht allerdings sehr zu Lasten des Verständnis der Vorgänge. Institutionen, Wahlsysteme, Gesetze etc. werde nicht austeichend erklärt und damit werden die Gründe und Voraussetzungen für Erfolg und Scheitern der „Dichter“ nicht wirklich klar. Eine deutliche Beschreibung des Machtvakuums, das dieses Intermezzo möglich gemacht hat, wäre hier nötig gewesen. Somit ein doch recht unbefriedigendes Leseergebnis.

  3. Mir hat das Buch aus dem gleichen Grund gefallen wie es mich melancholisch gestimmt hat. Ich kann mir solche Bücher, wie damals das von Haffner, nur unter fast schon körperlichen Schmerzen durchlesen. Es ist wichtig, dass dieses Kapitel der Geschichte der Aufklärung nicht vergessen wird, weil es ein Fuß in der Tür sein kann, gleichzeitig sind wir heute meilenweit davon entfernt, den durchtrennten Faden von damals noch einmal aufzunehmen. Es ist, als lebte man in einer Parallelwelt wie am Ende von Silent Hill und das gute Leben findet in dem Paralleluniversum statt, in dem das Experiment glückte. Mundus vult decipi, ergo decipiatur.

  4. Interessantes Buch & interessante Periode. Da es in unsrer Stadtbibliothek steht werde ich es sicher auch noch lesen… obwohl ich gegenüber solchen Fakt/Fiktion-Gradwanderungen ein wenig skeptisch bin…

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