Die Zerrissenheit jener Jahre

Szczepan Twardoch: Demut

»Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.« Das ist der Wunsch von Alois Pokora, als er inmitten einer revolutionären Menge auf das Berliner Polizeipräsidium, die »Rote Burg« zustürmt, um Gefangene zu befreien. Es ist die Zeitenwende 1918/1919, die politische Ordnung und gesellschaftliche Normen zerbröseln. Chaos herrscht auf den Straßen und Szczepan Twardoch schickt uns mit seinem Roman »Demut« mitten hinein in diese Zeit des Umbruchs. Eine Zeit, in der vieles möglich schien. Eine Zeit voller Aufbruchsstimmung inmitten unzähliger Dramen am Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zeit der Kämpfe, des Hasses und des Beginns einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Und in der Figur jenes Alois Pokora spiegelt sich die ganze Zerrissenheit jener Jahre wider, denn er ist ein Mensch, der zwischen allen denkbaren Stühlen sitzt und droht, daran zugrunde zu gehen. Dabei hat er nur einen großen Wunsch: irgendwo dazuzugehören. »Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.« 

Der Ich-Erzähler Alois Pokora stammt aus Oberschlesien, einer Region in Zentraleuropa, in der schon immer um die eigene Identität gerungen wurde, in der die unterschiedlichsten Volksgruppen zusammenlebten – mal mehr, mal weniger friedlich. Es gab die deutschstämmigen Schlesier ebenso wie die polnischen Schlesier oder diejenigen mit tschechischen Wurzeln. Gesprochen wurde neben Deutsch, Polnisch und Tschechisch der deutsch-schlesische Dialekt, der polnisch-schlesische Dialekt und der tschechisch-schlesische Dialekt. Schlesien gehörte zum Habsburgerreich, zu Preußen und dann zum deutschen Kaiserreich. Und als das Ende des Ersten Weltkriegs die Staatenordnung Mitteleuropas zum Einsturz brachte, kann man sich vorstellen, was das für eine Region wie Oberschlesien bedeutete – die zudem Kohlerevier und wichtiger Industriestandort war. Und bis heute ist. 

Daher muss es etwas präziser heißen: Alois Pokora stammt aus einer polnisch-schlesischen Familie. Damit gehörte er qua Geburt zu der unterprivilegierten Gesellschaftsschicht Oberschlesiens, zu den Menschen, die harte Arbeit für wenig Lohn verrichteten – in den Kohlegruben und den Fabriken die Männer, als Hausmädchen, Wäscherinnen oder auf den Feldern die Frauen. Natürlich war ein Teil der oberschlesischen Arbeiterklasse auch deutschstämmig – die herrschende Gesellschaftsschicht war es aber fast ausnahmslos. Und nur mit einem Besuch auf einer deutschsprachigen Schule war es überhaupt möglich, einen – zumindest kleinen – gesellschaftlichen Aufstieg zu schaffen. Als Alois durch die Fürsprache eines Pfarrers auf ein deutsches Gymnasium geschickt wird, macht ihn dies allerdings gleich doppelt zum Außenseiter: Sein Vater und seine älteren Brüder, die alle als Minenarbeiter schuften, verachten ihn als verweichlicht, während ihn seine deutschen Mitschüler ausgrenzen und schikanieren. Einzig Smilo von Kattwitz, der aus einer Adelsfamilie stammt, hilft ihm ab und zu, doch von einer Freundschaft ist dies weit entfernt – für den jungen Aristokraten ist Alois eher eine Art Beobachtungsobjekt, ein seltener Kontakt zu einem Angehörigen einer weit unter ihm stehenden Gesellschaftsschicht. Als Leser erleben wir Alois‘ Ausgegrenztheit und seine Zerrissenheit unmittelbar mit. Und die Einsamkeit eines Menschen, der das Gefühl hat nirgendwo dazuzugehören. 

Als 1914 der erste Weltkrieg beginnt, geht Alois Pokora zur Armee und findet inmitten des Gemetzels an der Westfront zum ersten Mal einen Platz, »eine Welt, in der ich seit vier Jahren genau weiß, was das Ziel meiner Existenz ist, welcher Sache und wem ich diene.« Der Roman beginnt mit einem Angriff seiner Einheit auf die gegnerischen Stellungen, es ist im Herbst 1918, der Krieg steht kurz vor seinem Ende. Alois wird schwer verwundet, halb bewusstlos in ein Lazarett nach Berlin transportiert. Und findet inmitten einer Revolution in sein Leben zurück. Ein Leben, das ihn zurück auf Los geschickt hat, ihn erneut mit der existentiellen Frage konfrontiert, wohin er eigentlich gehört. Und der Weg, den er mehr oder weniger zufällig einschlägt, führt ihn zu einer sozialistischen Kampfgruppe und damit tief hinein in das gewalttätige Durcheinander aus Revolution und Gegenrevolution in den Straßen Berlins.

Ein großer Teil der Handlung beschäftigt sich mit der Revolutionszeit 1918 und 1919. Es sind besonders starke Passagen, die uns Leser die Verzweiflung, aber auch die Aufbruchsstimmung der Aufständischen eindrucksvoll vor Augen führen. Aber auch ihre Planlosigkeit, ihre Unstimmigkeiten, ihre – erneut das Schlüsselwort dieses Beitrags – Zerrissenheit. Wir besuchen verqualmte Arbeiterkneipen mit hungrigen Menschen, besetzte Häuser, in denen sich die Kampfgruppen einquartiert haben, erleben Schießereien, Kämpfe, den eingangs erwähnten Sturm auf das Polizeipräsidium. Und sind dabei, als die gegenrevolutionären, rechtsnationalen Freikorps-Einheiten gnadenlos zurückschlagen und ohne Pardon töten, erschießen, morden. 

Alois Pokoras Geschichte geht weiter, es warten noch etliche Überraschungen auf ihn, viele davon eher unangenehmer Art. Drei Konstanten bestimmen sein Schicksal: Die Bekanntschaft mit Smilo von Kattwitz, die ihm einmal das Leben rettet und ihn ein anderes Mal in Entwicklungen hineinziehen wird, die er nicht mehr stoppen kann. Die große Liebe zu einer jungen Frau, die er während seiner Schulzeit kennenlernt; eine Liebe, die zwar nur in seiner Einbildung existiert, dafür aber umso zerstörerische Auswirkungen hat. Und eine Lebenslüge innerhalb seiner Familie, die, als sie aufgedeckt wird, ihn endgültig zum Einzelgänger werden lässt.

Und immer wieder grätscht die Politik in sein Leben hinein; erst die Revolution, später dann die Volksabstimmung in Oberschlesien, die 1921 über den Status der Region als Teil Deutschlands entscheidet – und bei der die lange schwelenden Konflikte zwischen deutsch- und polnischstämmigen Schlesiern offen ausbrechen. Die Zeit Alois Pokaras ist eine Epoche der Umbrüche, der Unruhe und der Verwerfungen: nach dem Ersten Weltkrieg ist die europäische Landkarte dabei, sich radikal zu verändern. Staaten verschwinden, neue entstehen. Grenzen werden gezogen, verschoben, ohne Rücksicht auf die Schicksale der Menschen. Eine Zeit, die einem Menschen wie ihm kaum eine Chance lässt, »Teil des Ganzen« zu sein. 

Denn wenn alles zerfällt: Wohin gehöre ich? Wie finde ich meinen Platz in der Welt? Gibt es ihn überhaupt? Es nicht zuletzt die Zeitlosigkeit dieser Fragen die »Demut« zu einem besonderen Buch machen, denn sie lassen sich ohne weiteres in unsere heutige Welt übertragen. Und fast wie nebenbei erfahren wir vieles über den Landstrich Oberschlesien, eine Region, die beispielhaft steht für die geschichtlichen Verwerfungen Mitteleuropas und für die Zerrissenheit jener Jahre. Eine Region übrigens, in der die Familie des Autors Szczepan Twardoch schon seit über 350 Jahren zuhause ist. 

Buchinformation
Szczepan Twardoch, Demut
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl

Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0121-9

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