Die Qualität des Beitragsphotos mag nicht besonders gut sein, doch es gibt nur wenige Bilder, die mir so viel bedeuten wie dieses hier. Entstanden ist es im Mai 1993, irgendwo mitten in Australien zwischen Alice Springs und der Ostküste. Ein Vierteljahr lang war ich auf dem fünften Kontinent unterwegs, ließ mich treiben, hatte kein Ziel, keine Verpflichtungen und keine Pläne. Es war für mich die Zeit der großen Freiheit, und die einzigen beiden Fragen, mit denen man sich täglich auseinandersetzen musste, lauteten: Wo schlafe ich heute Nacht? Und wie komme ich dorthin?
Das alles ist inzwischen 27 Jahre her und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an diese drei grandiosen Monate denke. Vielleicht ist es nicht nur jene Freiheit, die in Erinnerung geblieben ist, sondern auch das belebende Gefühl des Wegseins. Weit weg von allem. Es war ein Unterwegssein ohne Tripadvisor, ohne Booking.com, ohne Travel-Blogs und ohne Instagram-Selbstinszenierungen; meine einzige Informationsquelle war ein zerlesener Lonely Planet »Australia«, den ich in einem Hostel aus dem Regal der zu verschenkenden Bücher gefischt hatte.
Reisen bedeutete, sich überraschen zu lassen. Immer wieder auf Unvorhergesehenes einzugehen und so gut wie keinen Kontakt zu Freunden und Familie zu Hause zu haben. Außer vielleicht durch Briefe, die man sich postlagernd an die Hauptpostämter in Sydney, Melbourne, Adelaide oder wohin auch immer zusenden lassen konnte – ich erinnere mich an die Schlangen von Backpackern, die in zerschlissenen Jeans vor dem Postschalter standen und nach angekommener Post fragten. Ein Anblick, der längst verschwunden ist. Oder kurz gesagt: Reisen war Abenteuer, kein Konsum. Klingt das jetzt wie das verklärende Trauern um eine gute alte Zeit? Wahrscheinlich schon, aber was das Unterwegssein angeht, war sie zumindest spannender.
Heute schaue ich auf dieses Photo, sehe mich selbst in einer jüngeren Ausgabe auf einen weiten Horizont zulaufen und spüre auch nach all den Jahren die Sonne eines späten Nachmittags auf der Haut und den leichten Wind in den Haaren. Es war ein perfekter Moment. Mir zeigt diese Erinnerung, wie sehr mich das Unterwegssein geprägt hat, wie wichtig für mich das Reisen immer war und ist – gerade in diesen Pandemie-Zeiten wird mir das umso mehr bewusst. Denn angesichts der täglich auf einen einprasselnden Nachrichten – regierende Populisten, mordender Terroristen-Abschaum, braunes Gedankengut, das seine widerwärtige Fratze immer frecher zu zeigen beginnt und natürlich der globale Corona-Ausnahmezustand – möchte man am liebsten seinen Rucksack nehmen und sich auf den Weg machen. Irgendwohin, wo man von all dem nichts mitbekommt oder zumindest eine Auszeit davon nehmen kann. Aber diesen Ort gibt es nicht. Nicht mehr. Die Welt ist enger geworden. Und die momentane Unmöglichkeit des Reisens schmerzt.
Es ist kein Wunder, dass ich Bücher besonders schätze, bei denen das Unterwegssein der Protagonisten ein zentraler Bestandteil der Handlung ist, ob freiwillig oder unfreiwillig. Beispielhaft genannt seien »Becks letzter Sommer« von Benedict Wells, »Töchter« von Lucy Fricke, »West« von Carys Davies, »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler, »Die sieben Leben des Arthur Bowman« von Antonin Varenne, »weg« von Doris Knecht oder »Einsame Tiere« von Bruce Holbert. Natürlich darf Jack Kerouacs Klassiker »Unterwegs« nicht fehlen, in dem es eine Textstelle gibt, die ich jedem empfehle, der etwas über Gelassenheit lesen möchte.
Damals in Australien begleitete mich ein Buch durch das ganze Land: »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir, ein Roman in dem ein Unsterblicher jahrhundertelang durch eine endlose Welt irrt, nur um festzustellen, dass allein die Sterblichkeit das Menschsein ausmacht. Ein Freund hatte ihn mir als Päckchen postlagernd nach Melbourne geschickt, ohne zu wissen, ob ich die Sendung erhalten würde. Dazu eine Karte: »Das Buch habe ich gerade gelesen und gedacht, es könnte Dir auch gefallen.« Eine passendere Lektüre war kaum denkbar und das zerlesene Taschenbuch steht heute noch in meinem Buchregal.
Als Erinnerung an einen weiten Horizont, irgendwo dort draußen.
Dieser Beitrag erschien in einer etwas veränderten Fassung ursprünglich im KUDU-Lesemagazin, einer Kundenzeitschrift, die von zahlreichen unabhängigen Buchhandlungen kostenlos angeboten wird.
Reisen, um unterwegs zu sein, um zu finden, was nicht gesucht wurde.
Das gilt nicht nur in jungen Jahren.
Mit 66 habe ich mich auf den Weg durch Kanada gemacht. Von Ost nach West war die einzige Vorgabe.
Diese Reise war derart prägend, dass ich zwei Jahre später für drei Monate in Kanade auf Farmen lebte und den Alltag neu kennenlernte.
Vielen Dank für diesen inspirierenden Kommentar.
Beste Grüße
Alle Menschen sind sterblich ist mein Lieblingsbuch von Simone de Beauvoir . Wie schön! Ja, das Reisen in jungen Jahren – das kann einem keiner mehr nehmen. Wir werden hoffentlich auch alle über kurz oder lang wieder reisen können.
LG, Bri
Danke für den Text und die Tipps. Alles wunderbar abgelegt in der Vitrine meines Denkens. Im Museum der Gedanken an sichtbarer Stelle platziert, um mich länger damit beschäftigen zu können!