Ein Blues-Song als Botschaft

Hari Kunzru: White Tears

Der Roman »White Tears« von Hari Kunzru ist für mich eines der bemerkenswertesten, spannendsten und vielschichtigsten Bücher des Jahres. Im September hatte ich außerdem das große Vergnügen, den charismatischen Autor im Kölner Literaturhaus live zu erleben. Es war ein gelungener Abend und seine Erläuterungen haben noch einmal die zentralen Aussagen der Erzählung unterstrichen.

Worum geht es? Auf den ersten Blick um die Geschichte der beiden Freunde Seth und Carter, die in New York ein Tonstudio betreiben. Auf den zweiten Blick aber um viel, viel mehr. Aber der Reihe nach.

Seth und Carter sind ein ungleiches Gespann; eng miteinander befreundet könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Seth stammt aus zerrütteten Familienverhältnissen, hat Probleme, soziale Kontakte zu knüpfen, ist nicht in der Lage, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen; umgangssprachlich würde man ihn als einen Looser bezeichnen. Carter dagegen stammt aus einer reichen, sehr reichen Ostküstenfamilie, kennt keinerlei materielle Sorgen, »er war cool. Blonde Dreadlocks, aufwendige Tattoos und ein Treuhandvermögen, auf das er ohne Zögern zurückgriff, um sich das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Er hatte die beste Plattensammlung und die besten Drogen.« Und ist ebenfalls nicht an sozialen Kontakten interessiert. Beide leben in ihren jeweiligen Welten, das verbindet sie und macht sie zu einem perfekten Team.

Seth ist der Ich-Erzähler des Romans und seine Welt sind die Töne, die Klänge des Alltags. Stunden-, tagelang streift er durch New York, seine Kopfhörer sind Mikrofone, die alles an Geräuschen um ihn herum aufzeichnen. Und ihn direkt mithören lassen; so erschließt er sich eine Welt, die den meisten verborgen bleibt. »Ich entdeckte immer wieder Dinge, die ich nicht wahrgenommen hatte, einzelne Geräuschfelder, die ich unbewusst durchquert hatte.« Gleich auf der zweiten Seite gesteht Seth, dass er aufpassen müsse, um nicht den Bezug zur Realität zu verlieren.

Im Kölner Literaturhaus berichtete Hari Kunzru, dass er es selbst ausprobiert habe, mit Mikrofonen im Ohr durch New York zu laufen, um sich wie Seth komplett in die Welt der Klänge hineinzuversetzen. Die Aufnahmen im nachhinein anzuhören sei sehr speziell, so Kunzru, da unsere übliche Weltwahrnehmung sehr virtuell geprägt ist. So würden Räume hörbar.

Carter wiederum hat sich mit Leib und Seele der Musik verschrieben, die vor dem digitalen Zeitalter entstanden ist: Eine Musikanlage vom Allerfeinsten, Schallplattenspieler mit Röhrenverstärker und – selbstverständlich – ausschließlich Vinyl. Carter und Seth betreiben gemeinsam ihr Tonstudio irgendwo in einem New Yorker Loft – das natürlich der Familie des reichen Carter gehört – und haben sich auf Sampling spezialisiert, eigens zusammengestellte Klangmischungen, die sie an die Plattenstudios verkaufen.

Bei einem seiner Streifzüge nimmt Seth einen Blues-Gesang auf, so traurig und wütend gleichzeitig, dass es schon beinahe unheimlich ist. Vor allem, weil er sich nicht erinnern kann, einen Sänger gesehen zu haben. Carter ist begeistert, sein musikalischer Sammelwahn beginnt sich auf den Blues auszudehnen, will immer weiter zurückreisen in die Vergangenheit, will das absolut Authentische finden, die Wurzel von allem. Schallplatten aus den dreißiger Jahren mit verschrammten Melodien, aus den zwanziger Jahren, kaum noch hörbar. Musiker, deren Namen fast niemand mehr kennt, »diese Leute waren Geister an den Rändern des amerikanischen Bewusstseins.« Weiter zurück geht es nicht. Dann taucht bei einem erneuten Streifzug eine Gitarrenmelodie auf, ein Blues. Und der Text passt genau. Carters Besessenheit von alter Bluesmusik nimmt pathologische Züge an. Aus einer Laune heraus mixt er Text und Melodie zusammen, spielt etwas Kratzen in die Aufnahme und erfindet den Namen eines fiktiven Sängers. Charlie Shaw.

Als sie dieses Sampling auf einem entsprechenden Kanal im Netz hochladen, beginnt die Sache aus dem Ruder zu laufen. Denn Charlie Shaw gab es wirklich und sein Schicksal ist vollkommen unbekannt.

Der Radiopionier Guglielmo Marconi war übrigens der Meinung – so Hari Kunzru im Literaturhaus -, dass Schallwellen nie sterben, sie werden nur immer leiser und leiser. Was bedeutet, dass man mit der entsprechenden Ausrüstung akustisch in die Vergangenheit reisen könnte. Und was wäre, wenn Seth und Carter genau das gemacht haben – ohne es zu wissen? Wenn sie einen Blues-Sänger aufgespürt hätten, der schon längst in Vergessenheit geraten ist, aber dessen Song noch im Äther zirkuliert wie ein einsamer Gruß aus längst vergangenen Zeiten?

Die Handlung eskaliert, die Geschichte beginnt zu zerfasern. Carter wird von Unbekannten ins Koma geprügelt und um ihn und sich zu retten, macht sich Seth auf die Suche nach einem vergessenen Sänger, der vielleicht seit Jahrzehnten tot ist. Die Zeitebenen beginnen sich zu verschieben, »meine Gegenwart war mir irgendwie voraus und gleichzeitig unwiederbringlich in der Vergangenheit. Alles, was ich hörte, klang verstärkt und dadurch klarer definiert, gleichzeitig war es aber nur ein Echo, nicht wirklich vorhanden, so fern und fremd wie ein Funksignal aus einem längst vergangenen Krieg. Jeder einzelne Moment war schon durchlebt. Ich konnte nichts mehr in einen Zusammenhang bringen. Etwas passierte und war gleichzeitig schon passiert. Die Spirale, die sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, der Wahrnehmungsstrang aus Gewohnheit und Fortschritt, der aus einem Menschen erst einen Menschen macht, ein eigenständiges Ganzes, war durchbrochen und ohne Substanz wie eine Kette von Rauchringen.« 

Seth reist in den Süden der USA, dorthin, wo der Blues seinen Anfang nahm. Was wird er finden? Und vor allem, wen wird er finden? Was wird die Realität sein? Was nur eine Wahnvorstellung? Oder sind die Dinge, die Seth erlebt, einem anderen geschehen, vor langer, langer Zeit? Tief hinein wird er stoßen und etwas aufwühlen, das niemand mehr wissen möchte. Auch Rache wird dabei eine große Rolle spielen. Oder mit den Worten Hari Kunzrus: »So wie eine Unterwasserströmung den Schwimmer zurück ins Meer zieht, so zieht die Vergangenheit Seth zurück.« 

Was ist das nun für ein Buch? Ein Krimi? Eine Bluesgeschichte? Eine Gesellschaftsstudie? Eine Geistergeschichte? Ein Roadmovie? Es ist nicht einzuordnen und genau das macht es so lesenswert. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Themen: Es geht um die Sklaverei, die in den USA noch lange nach deren offiziellen Abschaffung auf perfide Art und Weise fortdauerte, eng verknüpft mit Rassismus und Unterdrückung, deren Folgen bis heute andauern. Und um das gerade in letzter Zeit viel diskutierte Thema der kulturellen Aneignung.

Der reiche Carter steht hier stellvertretend für Weiße, die schwarze Musik – den Blues – lieben. Wie besessen lieben bei ihrer Suche nach dem Echten, Authentischen, dem Wahrhaftigen, das sie in ihrer eigenen Kultur nicht finden können. Und zu glauben beginnen, dass es »ihre« Musik ist, dass nur sie diese Musik verstehen. Nicht ganz zufällig lässt der Autor seinen Protagonisten Carter als modisches Acsessoire blonde Dreadlocks tragen, was man ebenfalls als Symbol für einen kulturellen Imperialismus ansehen kann. Hari Kunzru hat an jenem Abend viel über kulturelle Aneignung gesprochen. Als Sohn eines Inders und einer Engländerin wuchs er zwischen zwei Kulturen auf und hat sich über dieses Thema seit Jahren Gedanken gemacht. Gedanken, die nun in dieses Buch geflossen sind.

Im Kölner Literaturhaus sprach er mit uns, den Zuhörern, darüber. Was ist eigentlich der »richtige« Blues, um den es in »White Tears« geht? Eigentlich nur eine Konstruktion von weißen Bewunderern, weißen Männern – meistens aus der eher politisch linken Ecke stammend – , die sich in den fünfziger Jahren auf die Suche nach dem Ursprünglichen machten und nach etwas gesucht haben, was sie selbst gerne gehabt hätten. Der reine, einfache Blues ist eine weiße Vorstellung. Eine Vorstellung, die große Musiker wie Bob Dylan, die Stones oder Led Zeppelin maßgeblich geprägt hat.

Zum Ende des Abends erzählte Hari Kunzru, wie sein amerikanischer Verlag den Buchtitel »White Tears« nicht übernehmen wollte, weil er dem Verlag zu provokant war, er aber darauf bestanden habe. Denn »White Tears« wird in beide Richtungen abwertend benutzt: Schwarze benutzen dies als einen verächtlichen Ausdruck für Weiße, die sich selbst zu viel leid tun. Weiße benutzen ihn für Schwarze, die sie um ihren Erfolg beneiden.

Und Seth ist irgendwo dazwischen unterwegs, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf der Suche nach einem Sänger, der vor vielen Jahrzehnten verschwunden ist und von dem nur ein einziger Song existiert. Ein Blues-Song wie eine Botschaft, traurig und wütend zugleich.

Believe I buy a graveyard of my own
Believe I buy me a graveyard of my own
Put my enemies all down in the ground

Put me under a man they call Captain Jack
Put me under a man they call Captain Jack
Wrote his name all down my back

Went to the Captain with my hat in my hand
Went to the Captain with my hat in my hand
Said Captain have mercy on a long time man

Well he look at me and he spit on the ground
He look at me and he spit on the ground
Says I’ll have mercy when I drive you down

Don’t get mad at me woman if I kicks in my sleep
Don’t get mad at me woman if I kicks in my sleep
I may dream things cause your heart to weep

Buchinformation
Hari Kunzru, White Tears
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-078-7

#SupportYourLocalBookstore

10 Antworten auf „Ein Blues-Song als Botschaft“

  1. Lieber Kaffeehaussitzer,
    vielen Dank für diese grandiose Rezension! Gerade habe ich das Buch fertig gelesen und tappe immer noch verirrt in dieser Geschichte herum. Ein paar Deiner Erläuterungen wären mir von selbst nicht eingefallen, mich hat allein schon der Stil begeistert. Die Stimmung ist ein bisschen wie in einem Film von David Lynch.
    Was für ein Buch! Dass einer so schreiben kann.
    Vielen Dank jedenfalls für Deinen Tipp und die erhellenden Gedanken dazu.

  2. Ich bin auch frisch auf diesem Blog gelandet – und muss sagen: was für ein Einstieg. Was für eine spannende Geschichte, was für eine atmosphärische Rezension, die gleichermaßen Interesse weckt und selbiges füttert, ohne es zu übersättigen. Well done, Zweck erfüllt!

  3. Ich habe mir das Buch vor 20 Minuten in die Wunschliste gelegt und daraufhin begonnen, die Blogroll bei CrimeAlley zu durchstöbern. Und auf dem ersten Blog, auf welches ich klicke, wird White tears vorgestellt. Ein witziger Zufall.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert