Wem gehört die Stadt?

Eva Ladipo: Raeuber

Eine marode Sozialbausiedlung steht im Zentrum des Romans »Räuber« von Eva Ladipo. Aber natürlich geht es um viel mehr; die Überschrift, die ich mir von der Rückseite des Buches geliehen habe, sagt es schon: Die Frage, wie wir in den Städten leben wollen oder vielmehr können – sie ist für viele Menschen existenziell geworden. Und zwar nicht erst, seit Wohnungen zu reinen Spekulations- und Investitionsobjekten verkommen sind; diese Entwicklung hat schon viel früher eingesetzt. Nur haben diejenigen, die bereits seit Jahren von der Gentrifizierung vor sich hergetrieben werden, keine Lobby, keine Stimme und meist keine Kraft, sich zu wehren. Und sie stehen nun mit dem Rücken an der Wand. Solche sozialen Verwerfungen gibt es in vielen Großstädten, aber in Berlin sind sie besonders drastisch. Die fiktive Sozialbausiedlung in diesem Buch symbolisiert stellvertretend die Veränderungen in der Stadt. Ebenso wie die drei Protagonisten der Handlung, die aus unterschiedlichen Perspektiven mit den geschilderten Entwicklungen zu tun haben.

Berlin Prenzlauer Berg, 1997
Prenzlauer Berg in den Neunzigern

Der Perspektivlose, wütend

Olli Leber wohnt mit seiner Mutter in jener Sozialbausiedlung. Der Weg dorthin war lang und schmerzhaft. Aufgewachsen ist er in der Choriner Straße, mitten im Prenzlauer Berg. Als dann die Bioläden und schicken Cafés wie Pilze aus dem Boden schossen, verwandelte sich das Arbeiterviertel in ein urbanes Bullerbü für Besserverdienende. Ollis Eltern – der Vater Bauarbeiter, die Mutter Krankenschwester – zogen mit ihrem Sohn weiter, in den Bereich rund um den Helmholtzplatz, aber das war nur ein kurzer Aufschub.

»Dann brach die von Süden heranrollende Bugwelle in den Helmholtzkiez. Von Jahr zu Jahr, Straßenzug für Straßenzug, war das Geld näher gekommen.«

Der nächste Gentrifizierungsschub spülte sie dann an den Rand des Bezirks, in jene Sozialbausiedlung; in der Hoffnung, hier endlich eine sichere Bleibe gefunden zu haben. Dann der Unfall, das Dahinsiechen und der Tod des Vaters und das mentale Wegdriften der Mutter. Der Roman beginnt mit der Beerdigung und bereits diese Einstiegsszene auf dem Friedhof zeigt, wie sehr Olli und seine Mutter zu den Ausgegrenzten gehören – im Stadtteil, der schon immer ihr Zuhause gewesen war. 

Olli jobbt auf dem Bau, arbeitet bis zur Erschöpfung an der Erschaffung eines neuen Berlins, das er sich nie wird leisten können und trainiert in seiner Freizeit in einem Boxstudio. Trotzdem gelingt es ihm nicht, seine Wut einzudämmen, sie wächst Tag für Tag. Als die Nachricht kommt, dass die Sozialbausiedlung an einen Investor verkauft und die Sozialbindung aufgehoben wurde, verdampfen auch die kläglichen Reste seiner Welt.

»Bei ihrem Umzug vor elf Jahren war die Gegend ein zurückgebliebenes Armenviertel gewesen. Niemand mit Geld hatte jenseits des S-Bahn-Rings wohnen wollen. Die Ringbahntrasse war die neue Mauer, sie hatte arm und reich zuverlässig voneinander getrennt. Dass diese neue Mauer noch schneller fallen sollte, als die alte, hätte niemand für möglich gehalten. Diese verdammten Gleise hatten ihn in Sicherheit gewiegt.« 

Berlin Prenzlauer Berg, 1997
Prenzlauer Berg in den Neunzigern

Die Idealistin, frustriert

Amelie Warlimont lebt in der Kollwitzstraße, nur einen halbstündigen Spaziergang von jener Sozialbausiedlung entfernt – und in einer anderen Welt. Die Kollwitzstraße liegt im Zentrum des Prenzlauer Bergs, gesäumt von prächtigen Gründerzeithäusern, allesamt aufwändig saniert. Das Zitat »Bionade-Biedermeier« aus einem ZEIT-Artikel habe ich dafür schon an einer anderen Stelle verwendet, aber treffender kann man die Gegend der Latte-Macchiato-Mütter kaum bezeichnen. Amelie ist Journalistin, gerade zum zweiten Mal Mutter geworden und vollkommen frustriert. Ihre berufliche Energie ist dahin, dauermüde verbringt sie die Tage zwischen Wohnung und Spielplatz – während ihr Mann Stefan als Chefredakteur einer Zeitung diese durch die verzweifelte Suche nach einem Investor zu retten versucht. Als sie für einen Artikel über das Thema Gentrifizierung recherchiert, lernt sie durch Zufall Olli kennen – und seine Geschichte.

Der Verantwortliche, lächelnd

Falk Henning ist ehemaliger Finanzsenator und verkörpert in diesem Roman die Politik auf Kosten der sozial Schwachen, verfilzte Verwaltungsstrukturen und eine politische Kaste, die sich schon längst von den Sorgen und Nöten der »einfachen« Menschen verabschiedet hat. Und gerade beim Thema Immobilienmarkt hat dies fatale Folgen: Sozialbauvorschriften werden aufgelöst, der genossenschaftliche Wohnungsbau verwässert, städtische Grundstücke und Wohnanlagen an Investoren verkauft. Damit schwindet der Handlungsspielraum in der Wohnungsbaupolitik zusehends; stattdessen gibt es Aktionismus wie die »Mietpreisbremse«, die gut klingt, aber wenig bringt. Es ist kein Zufall, dass der teuer gekleidete, perfekt frisierte, stilsicher auftretende Falk Henning als SPD-Mitglied dargestellt wird, zwar nicht mehr politisch aktiv, aber mit guten Kontakten. Denn von den Parteien, die sich dem Neoliberalismus verschrieben haben, konnten sozial Schwache noch nie Gutes erwarten. Dass spätestens seit Ex-Kanzler Schröder auch die SPD sich von ihrem Anspruch als »Arbeiterpartei« und dem »Sozial« in ihrem Namen zusehends verabschiedet, ist bitter für die Menschen, die politische Fürsprecher dringend benötigen würden.

In der Gegenwart der Romanhandlung sitzt Falk Henning im Vorstand einer Maklerfirma für Luxus-Immobilien.

Die Jagd, improvisiert

Amelie versuchte vor einigen Jahren, dem mit allen Wassern gewaschenen und knallhart agierenden Finanzsenator Korruption nachzuweisen. Erfolglos. Als sie Ollis Geschichte hört, erwacht ihr journalistischer Jagdtrieb wieder – und für Olli haben sämtliche Ungerechtigkeiten, die er in seinem Leben erdulden musste, ein Gesicht bekommen. Was tun? Vielleicht nur noch so viel: Die Zeit drängt und ein Plan, dessen Lücken offensichtlich sind, droht vollkommen aus dem Ruder zu laufen, mit üblen Folgen für die Beteiligten. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht gibt es einen Plan B – es bleibt sehr lange ungewiss. Gewalt liegt in der Luft.

Obst und Gemuese
Prenzlauer Berg in den Neunzigern

»Räuber« ist kein Krimi wie Eva Ladipos erster Roman »Wende«.  Es ist das Porträt einer Gesellschaft, deren Spaltung sich täglich durch politische Ignoranz, Gier, Gleichgültigkeit und Hilflosigkeit vertieft. Denn Menschen, die jeden Euro zwei Mal umdrehen müssen, sind leichte Opfer für die Immobilienwirtschaft und deren Anwälte. »Hier las niemand das Kleingedruckte. Niemand protestierte, weil man sich hier nicht zutraute, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Stattdessen war man es gewohnt hinzunehmen und sich den schlechten Nachrichten zu beugen, die sich nach und nach zu Schicksalsschlägen summierten.«

Vieles erfahren die Leser über die Mechanismen eines außer Kontrolle geratenen Wohnungsmarktes, in dem Normalverdiener kaum noch vorkommen, in dem die Luft innerhalb der Stadtgrenzen ständig dünner wird – was nun auch viele der einstigen Gentrifizierer betrifft, während die ursprünglichen Bewohner der innenstadtnahen Viertel nur noch zum Arbeiten in ihren früheren Quartieren erwünscht sind. Wie bedrohlich diese Entwicklung zu werden droht und wie weit die gesellschaftliche Spaltung fortgeschritten ist, schildert Eva Ladipo auf eine eindrucksvolle, empathische, aber nie belehrende Weise. 

Das Bündnis zwischen Olli und Amelie mag den Touch des Unglaubwürdigen haben, aber das stört die Handlung nicht. Man kann es auch als Vision sehen: Wenn Menschen unterschiedlichster Herkunft gemeinsam agieren, können vielleicht Entwicklungen aufgehalten werden, die in eine falsche Richtung laufen. Oder ein wenig plakativer ausgedrückt: Viele Bewohner der durchgentrifizierten Stadtteile möchten mit ihren Lastenrädern und ihren Gendersternchen die Welt verbessern. Doch dafür genügt bereits ein Blick über den Rand des eigenen Viertels. Dorthin, wo jene Menschen leben, von denen sie sich ihre Wohnungen putzen, ihre Pakete zustellen, ihr bestelltes Essen liefern, ihren Coffee-to-go ausschenken oder ihre Zimmer neu streichen lassen. Und eventuell ändert sich in den urbanen Strukturen dann etwas – die Bürgerinitiative zur Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen könnte ein erster Schritt sein. Wenn es dafür nicht längst zu spät ist.

Das Buch jedenfalls endet überraschend, aber auch etwas unbefriedigend. Dachte ich zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten allerdings passt das Ende perfekt in unsere Zeit.

In den Neunzigern war ich sehr oft in Berlin, und ich kann mich gut an den Anblick der Straßen im Prenzlauer Berg erinnern; zerbröselte, rußgeschwärzte und ausgebesserte Fassaden, Stahlträger, die dort aus den Wänden ragten, wo früher Balkone waren, aufgerissenes Kopfsteinpflaster und überall der Braunkohlegeruch. Eine verschwundene Welt mit ihren verschwundenen Bewohnern. Die Bilder in diesem Beitrag stammen aus jener Zeit.

Buchinformation
Eva Ladipo, Räuber
Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-678-8

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