Was wäre, wenn?

Hannes Koehler: Ein moegliches Leben

Wahrscheinlich kennt sie jeder, diese Momente, in denen das eigene Leben einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn eine Entscheidung anders ausgefallen wäre. Oder wenn man den Mut gehabt hätte, eine Veränderung zu wagen. Vielleicht nur einen winzigen Schritt in eine andere Richtung zu tun. Dem Herz zu folgen, nicht dem Verstand. Oft werden einem diese möglichen Abzweigungen erst lange Zeit später bewusst, aber manchmal denkt man sein ganzes Leben darüber nach. Und kommt nie zu einem Ergebnis; die Was-wäre-wenn-Frage lauert stets im Dunkeln, und in so manchen Nächten lässt sie einen nicht einschlafen. Der Roman »Ein mögliches Leben« von Hannes Köhler beschäftigt sich mit einer solchen Abzweigung, eingebettet in einen historischen Kontext, der uns Lesern einen wenig erforschten Ausschnitt der Geschichte des 20. Jahrhunderts näher bringt.

Er erzählt von einem Enkel, der mit seinem Großvater auf Reisen geht, um Spuren der Vergangenheit zu erforschen. Schon tausend Mal gehört oder gelesen? Vielleicht. Aber nicht so.

Eine Reise also. Martin erfüllt seinem Großvater Franz, zu dem er stets ein eher distanziertes Verhältniss hatte und den er nur »den Alten« nennt, einen Herzenswunsch und reist mit ihm in die USA. Genauer gesagt, nach Texas. Dorthin wo einst in großen, stacheldrahtumzäunten Lagern während des Zweiten Weltkriegs deutsche Kriegsgefangene untergebracht waren. Martins Großvater war einer von ihnen und er möchte noch einmal an jenen Ort zurück, der ihn geprägt hat für den Rest seines Lebens. Wie sehr, das erfährt Martin nach und nach während der Reise, in deren Verlauf »der Alte« zunehmend auftaut und seinen Enkel teilhaben lässt an seiner Geschichte. Die auch diejenige Martins ist, indirekt zwar, aber letztendlich sind wir alle das Ergebnis der Entscheidungen, die unsere Vorfahren getroffen haben.

Der Roman läuft auf zwei Zeitschienen. Die eine ist die Reise von Großvater und Enkel durch die heutigen USA, das Treffen mit letzten noch lebenden Zeitzeugen, die Schilderung von Erinnerungen, die plötzlich wieder vor Augen stehen. Die andere ist die Erzählung, wie Franz als junger Soldat mit einem Kriegsgefangenentransport in New York eintrifft, das Verladen in Eisenbahnwaggons, die endlose Fahrt durch das riesige Land, die Ankunft im Lager – chronologisch wird die Zeit der Gefangenschaft erzählt, ständig verknüpft mit der Gegenwart und ihr gegenübergestellt.

Der Autor Hannes Köhler ist Historiker und hat mit seinem Roman ein Thema erschlossen, über das es wenig Literatur gibt. Die insgesamt bis zu 400.000 deutschen Kriegsgefangenen in den USA waren scharf bewacht, nicht ganz zu Unrecht fürchteten die Amerikaner, dass sie sich mit ihnen den Feind direkt ins Land geholt hatten. Denn die Bewohner der Lager teilten sich in zwei Gruppen: Die einen waren nach wie vor überzeugte Nationalsozialisten, glaubten an den Endsieg und versuchten, in den Lagern eine Art Untergrundarmee aufzubauen. Die anderen hatten verstanden, welchen Verbrechern sie in den Krieg gefolgt waren, ihnen war die Schuld bewusst, die sie auch selbst auf sich geladen hatten – denn es gab keinen »sauberen« Krieg der Wehrmacht. Viele von ihnen waren letztendlich dankbar, in einem amerikanischen Lager gelandet zu sein, den Krieg damit überlebt zu haben.

Man kann sich vorstellen, dass es zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen zu Streit kam, dass sie sich – je länger der Krieg dauerte – immer unversöhnlicher gegenüberstanden. Jeder neu eintreffende Gefangene musste sich entscheiden, saß schneller als er dachte, zwischen allen Stühlen und nicht alle überlebten dies.

Auch Martins Großvater ist in dieser Situation. Die Ankunft in New York hat in ihm eine Türe geöffnet, »er staunt, kann die Augen nicht abwenden, sein Blick ist hungrig, hat einen Appetit, den Franz nicht gekannt hat bisher, der mehr will, nicht satt zu kriegen ist. Das hier, denkt er und versucht, sich jeden Turm einzuprägen, jede Lichtreflexion, jede Spitze und jede Antenne, die Form der Torbögen an den Fähranlegern, das hier darfst du nie vergessen.« Nach und nach wird ihm bewusst, dass diese Kriegsgefangenschaft eine Chance für ihn sein könnte, eine Chance, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen.

»Er hat das Gefühl, als habe ihn bisher eine Strömung mitgerissen, in der er sich hat treiben lassen, ohne unterzugehen. Aber diese Strömung, die ihn in den Krieg, in die Gefangenschaft und bis in das Lager gespült hat, wird immer schwächer, er wird langsamer und das Wasser tiefer. Dass er nicht schwimmen kann, denkt er, und dass er es lernen sollte. Und viel wichtiger, denkt er, von wem man es lernen will, das Schwimmen.«

Franz lernt bei bewachten Arbeitseinsätzen Zivilisten kennen, Amerikaner. Sein Mitgefangener Paul wird zu einem guten Freund, er hat Verwandtschaft in den USA, die ihn besuchen kommt. Fanz beginnt vorsichtig, sich von seinem Deutschsein loszusagen, diesem Deutschsein, das Zeit seines Lebens verbunden ist mit Gehorsam, Drill, Uniformen und einem aggressiven Befehlston. Es ist ein ganz langsamer Prozess, doch die Türe, die sich bei seiner Ankunft in New York, bei seinem Blick über die flirrende Stadt, riesig, lebendig, zukunftsweisend, geöffnet hat, ist nicht wieder zugefallen. Vielmehr wird der Spalt immer größer, je länger er über sich und seine Situation nachdenkt.

Was wurde aus Franz‘ Gedanken? Während der Reise erhält Martin einen tiefen Einblick in das Leben seines Großvaters. Erfährt, was damals im Lager geschah, erfährt von einem Mord, von Verschwörungen, von der Vorsicht, mit der man sich dort hinter Stacheldraht bewegen musste – als Franz immer klarer wurde, dass sein Feind nicht auf der anderen Seite des Zaunes stand, sondern mit ihm zusammen eingesperrt war. Erfährt aber auch von Franz‘ Träumen. Von der Möglichkeit, ein ganz anderes Leben zu führen, als er es sich je hätte vorstellen können. Und nach und nach wird ihm klar, was geschehen ist, was aus den Träumen wurde – und wie dies alles in seinem eigenen Leben angekommen ist.

In seinem Roman stellt Hannes Köhler Fragen nach der Schuld und der Verantwortung. Fragen, die sich – ausgehend von den Erlebnissen in jenem amerikanischen Kriegsgefangenenlager für Wehrmachtssoldaten – über drei Generationen bis ins Heute hineinziehen und eine ganze Familiengeschichte geprägt haben. Über allem schwebt die Erzählung von einer verpassten Lebenschance, die dem Roman eine zusätzliche Tiefe verleiht und für einen durchgehenden Spannungsbogen sorgt.

Im Blog Lesen macht glücklich gibt es ein sehr interessantes Interview, in dem Hannes Köhler über seine Recherche für den Roman erzählt. Und über einen Großonkel, der einer jener Gefangenen war. Überhaupt ist die Verarbeitung der eigenen Familiengeschichte in Romanform momentan ein Trend in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – zumindest habe ich nach dem Lesemarathon in der ersten Jahreshälfte dieses Gefühl. Woran das liegen mag? Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter der Umbrüche; Umbrüche, die fast jede Familie in irgendeiner Weise betroffen haben. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Ungewissheiten, denn noch nie hat hat sich unsere Welt so schnell verändert, wie momentan – und ein Ende ist nicht abzusehen. Vielleicht möchte man sich mit der Erforschung der eigenen Geschichte selbst vergewissern, woher man kommt, um seinen Platz in der Welt zu finden. Um vielleicht herauszubekommen, wohin wir gehen.

In diesem Sinne ist auch das Photo zu diesem Beitrag entstanden. Das Buch liegt auf einem alten Schrankkoffer, den mein eigener Großvater dabei hatte, als er 1930 nach Kanada auswanderte. Ich habe aus dieser Zeit noch ein, zwei Postkarten, die er an seine Verlobte – meine Großmutter – geschrieben hat, und es existieren ein paar Photographien, wie er mit anderen Auswanderern vor einem Blockhaus an einem Fluss steht oder wie er auf einem Pferd sitzend einen Baumstamm aus einem verschneiten Wald herauszieht.

1932 ist er wieder zurückgekommen und ich habe absolut keine Ahnung, was er dort gemacht hat, wieso er gegangen ist und warum er nach Deutschland zurückkehrte. Er starb schon ein paar Jahre vor meiner Geburt und in unserer Familie wurde dieser Auswanderungsversuch immer nur als belanglose Anekdote erzählt, übriggeblieben davon ist jener Schrankkoffer. Doch auch er war auf der Suche nach einem möglichen Leben, alles hätte ganz anders verlaufen können und ich wäre heute vielleicht Kanadier. Zumindest die Person, die es an meiner statt – vielleicht – geben würde. Ein spannender Gedanke und nicht zuletzt deswegen hat mich das Buch von Hannes Köhler sehr tief bewegt.

Buchinformation
Hannes Köhler, Ein mögliches Leben
Ullstein Verlag
ISBN 978-3-550-08185-9

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12 Antworten auf „Was wäre, wenn?“

  1. Hat mir leider nicht gefallen.
    Ich finde das Thema auch interessant, da habe ich wenig bis nix drüber gelesen.
    Ich finde es aber ausgesprochen bieder und mit einigen Klischees erzählt.
    (Und warum der Opa daheim so hartherzig war, habe ich trotz des Vorfalls und des anderen möglichen Lebens nicht wirklich nachvollziehen können.

    1. Schade.
      Ich fand es ein großartiges Buch, bei dem alles gepasst hat.
      Aber so ist eben die Wahrnehmung manchmal komplett unterschiedlich – und dass macht letztendlich die Vielfalt der Lesegeschmacksrichtungen aus.

  2. Auf der Suche nach neuem Lesestoff bin ich auf diese Buchbesprechung gestoßen und hängen geblieben. Es stimmt, Familiengeschichten in Romanform liegen im Trend. Das ist gut so, zeigt es doch, dass sich auch die Generationen, die keinen Krieg, keine Nazizeit erlebt haben, mit ihren Wurzeln, ihrer „DNA“ auseinandersetzen.

    Lieber Herr Kalkowski, ich mag Ihre Rezensionen sehr. Sie eröffnen eine Welt, ohne das Prickeln zu verschleudern. Besten Dank dafür! Das Buch „Ein mögliches Leben“ wird bald auf meinem Nachtisch liegen.

    Karin Kricsfalussy

    1. Vielen herzlichen Dank für das schöne Lob. Es ist in der Tat nicht immer ganz einfach, ein Buch vorzustellen, ohne zuviel zu verraten. Daher freut mich solch ein Feedback umso mehr.
      Herzliche Grüße
      Uwe Kalkowski

  3. Lieber Uwe, lieber Freund,
    seit Monaten lese ich Deinem wunderbaren,höchst interessanten,bestkommentiertem und sehr persönlichen Blog .Es ist so wie ein regelmäßiges Treffen mit einem besonders guten Freund,was man gar Nichtwissen möchte.
    Dein Kommentar zu „Herr Lehmann „ ist mir dabei nicht entgangen.Auch ich wünsche mir zum neuen Jahr ein neues Buch von Sven Regener,bis dahin wollte ich Dir ganz besonders „Mittagsstunde“empfehlen, denn Dörte Hansen ist hier etwas Wunderbares gelungen ! Hier ist jeder Satz lesenswert.Ein gutes Buch kann man irgendwo aufschlagen, da ist jeder Absatz lesenswert.“Mittagsstunde“ist solch ein Buch.
    Aus der Normandie die herzlichsten Grüße und Wünsche für all die Feste der nächsten Tage
    Eveline Lemoine

    1. Liebe Eveline,
      vielen Dank für Deinen sehr herzlichen Kommentar. Es freut mich sehr, dass Du Dich beim Kaffeehaussitzer so wohlfühlst.
      Dörte Hansens Buch werde ich auf jeden Fall noch lesen, bin schon sehr gespannt darauf.
      Herzliche Grüße
      Uwe Kalkowski

    1. Vielen Dank – es freut mich, dass ich Dir mal einen Tipp geben konnte. Meistens ist es nämlich umgekehrt, und ich habe mir auf Deinem Blog schon ziemlich viele Leseanregungen geholt.

      1. Das Interview war mit eines der interessantesten, die ich bisher für den Blog gemacht habe. Vor allem fand ich spannend, auf wie vielfältigen Wegen sich Hannes diesem Thema genähert hat.

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