Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen
Überleben, irgendwie
An einem frühen Sonntagnachmittag habe ich den Roman »American Dirt« von Jeanine Cummins zu Ende gelesen. Danach konnte ich mit dem Rest des Tages nichts mehr anfangen, musste mich bewegen und sehr lange durch die Straßen meines Stadtteils laufen. Die Gedanken kreisten pausenlos um das Gelesene. Dabei war ich lediglich auf der Suche nach etwas nervenkitzelnder Unterhaltung, als ich »American Dirt« in der Buchhandlung liegen sah. Gutes Cover, neugierig machender Klappentext – das Versprechen für ein, zwei spannende Lesetage. Und dann bin ich in eine Geschichte hineingestolpert, die mich gepackt, zutiefst berührt und nicht mehr losgelassen hat. Für mich war das Buch ein absoluter Zufallsfund; vielleicht hätte ich es anders gelesen, wenn mir bewusst gewesen wäre, welch erbitterte Debatte durch diesen Roman in den USA losgetreten wurde. Aber die Nachrichten darüber sind komplett an mir vorbeigegangen. Mehr dazu am Ende des Beitrags. „Überleben, irgendwie“ weiterlesen
Migrantenschicksale
Wirtschaftsflüchtlinge. Ein Wort für Menschen, deren Situation in ihrem Heimatland so perspektivlos ist, dass sie versuchen, sich in der Fremde eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Über ein Jahrhundert lang war Mitteleuropa eine Auswanderungsregion; Millionen dieser Wirtschaftsflüchtlinge ließen Deutschland oder Österreich hinter sich, alle auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben. Es begann mit den großen Migrationswellen im 19. Jahrhundert als Folge der Verelendung durch die Industrialisierung, der Hungersnöte durch Missernten oder der politischen Unfreiheit.
In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts kehrten ebenfalls viele Auswanderer ihrer Heimat den Rücken. In ihren Ländern, die durch Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrise geschwächt waren und im politischen Chaos zu versinken drohten, sahen sie für sich keine Zukunft mehr. Um zwei Menschen aus genau dieser Zeit geht es in den Romanen »Der Empfänger« von Ulla Lenze und »Kamnick« von Felix Kucher. Beide Bücher schildern auf unterschiedliche Weise, wie mühsam sich für diese Migranten ein Neuanfang gestaltete, wie wenig willkommen sie waren – und wie ihre Schicksale zu Spielbällen der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurden. „Migrantenschicksale“ weiterlesen
Wir Europäer
Seit Menschen in Europa leben, sind sie unterwegs. Gründe dafür gab es im Laufe der Geschichte viele: Nahrungssuche, Handel, Krieg, Verfolgung oder einfach nur Neugier. Mathijs Deen hat ein Buch über dieses Unterwegssein geschrieben. »Über alte Wege – Eine Reise durch die Geschichte Europas« führt die Leser kreuz und quer durch unseren kleinen und doch so vielfältigen Kontinent; es sind Erkundungen durch alle Epochen und soziale Schichten. Herausgekommen sind dabei faszinierende und äußerst lebendige Beschreibungen uralter Routen, die oftmals heute noch bestehen. Denn »unter jedem Fußabdruck auf europäischem Boden liegt ein noch älterer. Unter jeder Straße liegt ein Weg, ein Pfad, den Vorfahren ausgetreten haben, ob als Händler oder Eroberer.«
Und als wäre es nicht ohnehin schon ein beeindruckendes Buch, so gab es eine Stelle, die ein regelrechtes Gänsehautgefühl bei mir ausgelöst und mir gezeigt hat, wie eng verzahnt das Leben in Europa schon immer war: Denn vor 200 Jahren trafen an einem kleinen, vergessenen Ort an der Ostsee die Familiengeschichte des Autors und meine eigene aufeinander. „Wir Europäer“ weiterlesen
Es ist kalt auf der Mauer
Anfang Februar saß ich an einem Samstagnachmittag am Küchentisch und las in der ZEIT Burkhard Müllers mitreißende Besprechung des Romans »Die Mauer« von John Lanchester. Direkt danach stand ich auf, zog mir die Jacke an, ging ein paar Straßen weiter zu einer der Buchhandlungen meines Vertrauens, kaufte das Buch, kehrte an den Küchentisch zurück und las es durch. Und war beeindruckt von dem düsteren Stimmungsbild, das John Lanchester geschaffen hatte; ein dystopisches Szenario, das in einer nicht weit entfernten Zukunft spielt. Wobei »nicht weit entfernt« etwas vage klingt. Denn eigentlich sind es nur ein paar Schritte, die uns von dieser Zukunft trennen mögen. „Es ist kalt auf der Mauer“ weiterlesen
Gespiegelte Verzweiflung
Mit Sätzen wie »dieses Buch sollte jeder lesen« bin ich immer etwas vorsichtig, denn zu unterschiedlich sind die Lesevorlieben der Menschen. Dem Roman »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler wünsche ich allerdings so viele Leser wie möglich, denn er ist für mich eines der wichtigsten Bücher für die Zeit, in der wir gerade leben. Es geht darin um Flucht und Migration, aber auf eine Art und Weise, die uns dieses emotional aufgeladene Thema vollkommen anders nahebringt als gewohnt. Und das mit einem ganz einfachen Trick: Torkler vertauscht den Blickwinkel. Wobei »einfach« das falsche Wort ist, denn der Autor hat eine vollkommen neue Welt erschaffen, ausgefüllt mit zahllosen Details, die das Geschehen so wahrheitsgetreu und realistisch wie möglich machen. „Gespiegelte Verzweiflung“ weiterlesen
Menschen auf der Flucht
Ist es möglich, sich dem Thema Flucht und Migration auf eine künstlerisch anspruchsvolle Weise zu nähern? Darf man das überhaupt, ohne die Tragik zahlloser menschlicher Schicksale zu ästhetisieren? Oder hilft es den von unzähligen Nachrichtenmeldungen abgestumpften Betrachtern ihr Mitgefühl zu bewahren? Ein Buch möchte ich hier vorstellen, das in herausragender Form klar macht, was es bedeutet, seine Heimat verlassen zu müssen – auf der Flucht vor Krieg, Folter und Tod oder auf der Suche nach einem Stückchen Hoffnung auf ein besseres Leben. Es ist der Photoband »Exodus« von Sebastião Salgado, der bereits 2000 erschienen ist und 2016 vom Taschen Verlag neu aufgelegt wurde. Und in Zeiten, in denen Zynismus und Menschenverachtung zunehmend die Politik dominieren, ist dieses Werk aktueller denn je. „Menschen auf der Flucht“ weiterlesen