Leben um des Lebens willen

Guillermo Arriaga: Das Feuer retten

Der Roman »Das Feuer retten« von Guillermo Arriaga liegt neben mir, gerade habe ich ihn beendet und schaue auf das ziegelsteingroße Buch. Aus den achthundert Seiten scheint Qualm aufzusteigen, so als verströmen sie nach der Lektüre noch eine Mischung aus Testosteron, Adrenalin und Pulverdampf. Was habe ich da gelesen? Die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe. Die Geschichte einer Selbstzerstörung. Die Geschichte einer kaputten Gesellschaft. Die Geschichte eines zerrissenen Landes, geprägt von Gewalt und Ungerechtigkeit. Die Geschichte zweier Menschen, deren Anziehungskraft füreinander sie alle Normen vergessen lässt – mit dramatischen Folgen. Und lebensgefährlichen Konsequenzen. 

Der Autor hat dem Buch zwei Sätze des französischen Regisseurs und Autors Jean Cocteau vorangestellt: »Wenn das Feuer mein Haus niederbrennt, was würde ich retten? Ich würde das Feuer retten.« Dieses titelgebende Zitat ist eine Kampfansage an die Mittelmäßigkeit, in der es sich die meisten von uns bequem eingerichtet haben. Doch wehe, wenn die Mauer, die unser bequemes Leben umgibt und die das Gefühlschaos und die brennende Leidenschaft aussperrt, auch nur einen hauchdünnen Riss bekommt. Dann bricht die eigene, kleine Welt auseinander. „Leben um des Lebens willen“ weiterlesen

Migrantenschicksale

Ulla Lenze: Der Empfaenger und Felix Kucher: Kamnick | Migrantenschicksale

Wirtschaftsflüchtlinge. Ein Wort für Menschen, deren Situation in ihrem Heimatland so perspektivlos ist, dass sie versuchen, sich in der Fremde eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Über ein Jahrhundert lang war Mitteleuropa eine Auswanderungsregion; Millionen dieser Wirtschaftsflüchtlinge ließen Deutschland  oder Österreich hinter sich, alle auf der verzweifelten Suche nach einem besseren Leben. Es begann mit den großen Migrationswellen im 19. Jahrhundert als Folge der Verelendung durch die Industrialisierung, der Hungersnöte durch Missernten oder der politischen Unfreiheit.

In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts kehrten ebenfalls viele Auswanderer ihrer Heimat den Rücken. In ihren Ländern, die durch Kriegsfolgen, Inflation und Wirtschaftskrise geschwächt waren und im politischen Chaos zu versinken drohten, sahen sie für sich keine Zukunft mehr. Um zwei Menschen aus genau dieser Zeit geht es in den Romanen »Der Empfänger« von Ulla Lenze und »Kamnick« von Felix Kucher. Beide Bücher schildern auf unterschiedliche Weise, wie mühsam sich für diese Migranten ein Neuanfang gestaltete, wie wenig willkommen sie waren – und wie ihre Schicksale zu Spielbällen der politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurden. „Migrantenschicksale“ weiterlesen

Zum Wolf werden

Guillermo Arriaga: Der Wilde

Wie anfangen? Diese Frage stelle ich mir oft zu Beginn einer Buchvorstellung, doch selten war ich so unschlüssig wie diesmal. Denn es geht um ein Buch, in dem zwei vollkommen unterschiedliche Handlungsstränge gekonnt zusammengeführt werden; das alles auf drei, vier Zeitebenen. An der Oberfläche ist der Roman »Der Wilde« von Guillermo Arriaga die Geschichte einer Rache. Doch dies in einer Vielschichtigkeit, die weit darüber hinaus geht.

Im Zentrum der Handlung steht das Kleine-Leute-Viertel Unidad Modelo in Mexiko-City, in dem der Ich-Erzähler Juan Guillermo und sein Bruder Carlos aufwachsen. Das Leben findet zu großen Teilen auf den flachen Dächern der Häuser statt, die »Landschaft aus Wassertanks, Wäscheleinen und Fernsehantennen« ist ein Ort, an dem sich besonders die jungen Menschen treffen. Es gibt Wege von Dach zu Dach, die schmalen Gassen müssen übersprungen werden. Der Grund für diese Rückzugsgebiete ist die politische Situation: Es ist das Jahr 1969 und die konservative mexikanische Regierung mit ihrer Kommunisten-Paranoia geht rigoros gegen jeden vor, der nicht in das offizielle Weltbild passt; lange Haare bei einem Mann reichen, um von den patrouillierenden Polizisten zusammengeschlagen zu werden. Ein Jahr zuvor endete eine Studenten-Demonstration im Kreuzfeuer des mexikanischen Militärs. „Zum Wolf werden“ weiterlesen

Es ist kalt auf der Mauer

John Lanchester: Die Mauer

Anfang Februar saß ich an einem Samstagnachmittag am Küchentisch und las in der ZEIT Burkhard Müllers mitreißende Besprechung des Romans »Die Mauer« von John Lanchester. Direkt danach stand ich auf, zog mir die Jacke an, ging ein paar Straßen weiter zu einer der Buchhandlungen meines Vertrauens, kaufte das Buch, kehrte an den Küchentisch zurück und las es durch. Und war beeindruckt von dem düsteren Stimmungsbild, das John Lanchester geschaffen hatte; ein dystopisches Szenario, das in einer nicht weit entfernten Zukunft spielt. Wobei »nicht weit entfernt« etwas vage klingt. Denn eigentlich sind es nur ein paar Schritte, die uns von dieser Zukunft trennen mögen. „Es ist kalt auf der Mauer“ weiterlesen

Wer ist ein Held?

Nickolas Butler: Die Herzen der Maenner

Vor ein paar Jahren hatte mich das Buch »Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler sehr begeistert. Umso gespannter war ich auf seinen nächsten Roman »Die Herzen der Männer« und als ich erfuhr, dass Butler dieses Buch im Literaturhaus Köln vorstellen würde, war klar, dass ich mir das auf keinen Fall entgehen lassen konnte. Das ist inzwischen einige Monate her und dieser Text hätte schon längst geschrieben sein sollen, aber einen solch wunderbaren Abend mit einem sympathischen Autor vergisst man nicht.  „Wer ist ein Held?“ weiterlesen

Gespiegelte Verzweiflung

Christian Torkler: Der Platz an der Sonne

Mit Sätzen wie »dieses Buch sollte jeder lesen« bin ich immer etwas vorsichtig, denn zu unterschiedlich sind die Lesevorlieben der Menschen. Dem Roman »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler wünsche ich allerdings so viele Leser wie möglich, denn er ist für mich eines der wichtigsten Bücher für die Zeit, in der wir gerade leben. Es geht darin um Flucht und Migration, aber auf eine Art und Weise, die uns dieses emotional aufgeladene Thema vollkommen anders nahebringt als gewohnt. Und das mit einem ganz einfachen Trick: Torkler vertauscht den Blickwinkel. Wobei »einfach« das falsche Wort ist, denn der Autor hat eine vollkommen neue Welt erschaffen, ausgefüllt mit zahllosen Details, die das Geschehen so wahrheitsgetreu und realistisch wie möglich machen. „Gespiegelte Verzweiflung“ weiterlesen

Flüchtling im eigenen Land

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Als ich das Buch »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz zu Ende gelesen hatte und es zugeschlagen neben mir auf dem Tisch lag, musste ich erst einmal tief durchatmen. Um die Anspannung zu lösen, mit der ich bis zuletzt Seite für Seite umgeblättert habe. Und um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden, denn »Der Reisende« ist kein gewöhnlicher Roman. Vielmehr ist dieses Buch ein Zeitdokument in Romanform, das uns einen tiefen Einblick gewährt in das Deutschland des Novembers 1938. „Flüchtling im eigenen Land“ weiterlesen

Blogbuster-Preis: Ein Fazit

Blogbuster-Preis 2017: Ein Fazit

Der Sieger steht fest: Der Autor Torsten Seifert hat mit seinem Manuskript »Der Schatten des Unsichtbaren« den Blogbuster-Preis 2017 gewonnen! Er erhält einen Vertrag mit der Literaturagentur Elisabeth Ruge und sein Buch wird im Herbstprogramm von Klett-Cotta/Tropen unter dem Titel »Wer ist B. Traven?« erscheinen. Die Jury-Begründung und einen Bericht über die Preisverleihung im Hamburger Literaturhaus gibt es auf der Seite des Blogbuster-Preises.

Ich gratuliere Torsten Seifert herzlich zu seinem Sieg. Der Plot seines Manuskripts – ein Reporter aus L.A. wird in den 4oer-Jahren nach Mexiko geschickt, um herauszufinden, wer B. Traven war – klingt alleine von der Beschreibung her schon so, dass ich das Buch auf jeden Fall lesen möchte. Ist B.Traven doch eines der geheimnisvollsten Pseudonyme der Literaturgeschichte und sich die Suche nach dieser mysteriösen Person als literarische Annäherung auszudenken, halte ich für eine sehr gelungene Idee. Und bin gespannt auf das Buch, das zur Frankfurter Buchmesse gedruckt vorliegen wird. „Blogbuster-Preis: Ein Fazit“ weiterlesen

Familien.Geschichte

Per Leo: Flut und Boden

Viele Leser kennen das: Man ist hin- und hergerissen von einem Roman; während der Lektüre kann man gar nicht genau beschreiben, was einem an dem Werk gefällt, ist aber gleichzeitig davon fasziniert. Doch ist es nicht gerade das, was ein gutes Buch ausmacht? Dass es einen nicht loslässt, auch wenn man beim Lesen merkt, dass es völlig anders ist als erwartet? Dass man es auch danach nicht wieder vergisst und auch viele Monate später noch darüber nachdenkt; eine Stimmung verinnerlicht hat, die nachschwingt. So ging es mir mit »Flut und Boden« von Per Leo. Ich habe es vor über einem Jahr gelesen und merke, dass es zu den Büchern gehört, die mir nachhaltig im Kopf geblieben sind. Ein guter Grund also, es endlich hier vorzustellen. „Familien.Geschichte“ weiterlesen

Blogbuster-Preis 2017

Blogbuster-Preis 2017

Denis Scheck geht mit Bloggern auf Talentsuche. Und Klett-Cotta veröffentlicht den Preis der Literaturblogger

Auf der  diesjährigen Frankfurter Buchmesse startet der Blogbuster-Preis 2017. Eine spannende Mischung: 16 Literaturblogger, die Literaturagentur Elisabeth Ruge, der Verlag Klett-Cotta, die Frankfurter Buchmesse und der bekannte ARD-Literaturkritiker Denis Scheck suchen die literarische Entdeckung und den Debütroman des Jahres. Das Ganze nennt sich Blogbuster – Preis der Literaturblogger und ist die Chance für alle, die ein fertiges Romanmanuskript in der Schublade haben, aber noch keinen Verlag. Der Gewinner bekommt einen Agentur- und Verlagsvertrag und wird bereits im nächsten Jahr auf der Frankfurter Buchmesse seinen Roman vorstellen können. Sämtliche Details werden bei der Auftaktveranstaltung bekannt gegeben; erst dann sind Einsendungen möglich.

Als Kaffeehaussitzer freue ich mich, zum Kreis der beteiligten Blogger zu gehören.Und endlich darüber schreiben und reden zu dürfen, denn seit der letzten Leipziger Buchmesse laufen die Vorbereitungen für dieses Projekt und alle Beteiligten hatten strengstes Stillschweigen gelobt. „Blogbuster-Preis 2017“ weiterlesen

Auf der Suche

Sandro Veronesi: Fluchtwege

Ein absoluter Zufallstreffer: Ich kannte den Autorennamen nicht, mir sagte der Titel nichts, der Klappentext gab wenig Informationen preis und eigentlich sprach mich das Buchcover nicht besonders an. Aber ich habe das Buch »Fluchtwege« des italienischen Autors Sandro Veronesi trotzdem gekauft. Einfach so. Wahrscheinlich, weil ich in letzter Zeit mit Büchern aus dem Klett-Cotta-Verlag immer Glück hatte. Und diesmal auch, ein Spontankauf, der sich gelohnt hat. Veronesi schreibt über eine rumänisch-italienische Autoschieberbande, über Diebstähle im großen Maßstab, über organisiertes Verbrechen und Korruption. Eigentlich. Aber in Wahrheit ist es die Geschichte Pietro Paladinis, der von alldem nichts weiß. Die Geschichte einer Flucht, die zu einer Reise zu sich selbst wird. Eine Familiengeschichte, die sich wie eine Zwiebel Schicht für Schicht dem Leser enthüllt. Und nicht nur dem Leser, sondern auch Pietro selbst, obwohl es seine eigene ist. „Auf der Suche“ weiterlesen

Ein schemenhafter Gruß

Thomas Asbridge: Der größte aller Ritter - Das Leben von Guillaume le Maréchal

Gemeinhin bezeichnen wir das Mittelalter als »finster«, zum einen, weil das Leben damals oft hart, kurz und entbehrungsreich war. Zum anderen aber auch, weil wir nicht viel darüber wissen. Aus alten Handschriften, Büchern, Aufzeichnungen oder durch die Arbeit der Archäologen lässt sich zwar einiges der damaligen Lebensverhältnisse rekonstruieren. Doch direkte Lebensbeschreibungen, also noch im Mittelalter verfasste Biographien, sind äußerst rar. Und genau das macht das Buch »Der größte aller Ritter« von Thomas Asbridge zu einem fulminanten Leseerlebnis und zu einer Reise mitten hinein in diese »finstere« Zeit. Wobei es interessant wäre, wie ein Mensch von damals wohl die heutige Weltlage beurteilen würde. Aber das ist ein anderes Thema.

Wer war »der größte aller Ritter«? Es ist die Lebensgeschichte Guillaume le Maréchals, aufgeschrieben im 13. Jahrhundert, die erste und wohl einzige bekannte Biographie eines Ritters, die während des Mittelalters niedergeschrieben wurde. Schon die Entdeckung der mittelalterlichen Handschrift, die das Leben Maréchals detailliert beschreibt, gleicht einem Krimi. „Ein schemenhafter Gruß“ weiterlesen

Bestseller eines Massenmörders

Sven Felix Kellerhoff: »Mein Kampf« - Geschichte eines deutschen Buches

Im Sommer des Jahres 2000 reiste ich die kroatische Adriaküste entlang, von Zadar bis nach Dubrovnik. Der Krieg auf dem Balkan war noch nicht lange vorbei, immer wieder sah man ausgebrannte Häuser oder ganze Stadtlandschaften mit komplett neu gedeckten Dächern. Zwei weitere Dinge fielen mir auf: Es gab kaum Buchhandlungen, aber eine Menge mobile Buchverkaufsstände. Und fast auf jedem Stand war neben allen möglichen Romanen die kroatische Version von Hitlers »Mein Kampf« zu finden. Offensichtlich gab es dafür eine Nachfrage. Das wirkte auf mich sehr befremdlich; mutmaßlich waren es Raubdrucke, da die offiziellen Abdruckrechte seit 1945 unter Verschluss gehalten wurden. Bis vor kurzem, als Anfang 2016 die Urheberrechte nach 70 Jahren frei geworden sind. Die Diskussion, wie jetzt mit diesem giftigen Erbe umgegangen werden soll, läuft momentan auf Hochtouren. Ein guter Zeitpunkt, um sich einmal näher damit zu beschäftigen und deshalb habe ich Sven Felix Kellerhoffs »›Mein Kampf‹ – Geschichte eines deutschen Buches« gelesen. Jedem, der sich für diese Thematik interessiert, kann ich – soviel sei vorab gesagt – Kellerhofs Buch unbedingt empfehlen. „Bestseller eines Massenmörders“ weiterlesen

Die Liste der Neun. Ein Ausblick

Neue Buchvorstellungen auf Kaffeehaussitzer: Viel Zeitgeschichte und neun Bücher, die mich beeindruckt haben.

In den letzten Wochen war es etwas ruhig auf Kaffeehaussitzer. Zwischen Weihnachten, Jahreswechsel, beruflichen und privaten Verpflichtungen gab es keine richtige Muße, um einen Blogbeitrag zu schreiben. Was aber nicht heißen soll, dass die Zeit auch zum Lesen nicht gereicht hat, ganz im Gegenteil. Mittlerweile warten neun Bücher darauf, hier vorgestellt zu werden und als kleinen Zwischenbericht möchte ich einen Ausblick geben, was in nächster Zeit auf Kaffeehaussitzer geplant ist. Das hilft mir auch dabei, eine Gliederung zu schaffen, um mich nicht zu verzetteln.

Es ist nicht so, dass ich jedes Buch bespreche, das ich gelesen habe. Manche hinterlassen zu wenig Eindruck, als das es sich lohnen würde, sich näher damit zu beschäftigen. Allerdings hatte ich Glück bei der Auswahl der letzten Lektüren und so sind neun ganz und gar unterschiedliche Bücher zusammengekommen, um die es hier in den nächsten Beiträgen gehen wird. „Die Liste der Neun. Ein Ausblick“ weiterlesen

Weg.Gegangen

Olivier Adam: An den Rändern der Welt

Das Buch »An den Rändern der Welt« von Olivier Adam habe ich vor über fünf Monaten gelesen und es hat mich seit Jahren kein Roman so berührt und getroffen wie dieser. Seither überlege ich, wie ich diese Begeisterung in Worte fassen kann. Es fällt mir diesmal nicht leicht und auch jetzt sitze ich schon seit geraumer Zeit vor dem Bildschirm und versuche es wieder einmal aufs Neue. Denn es geht um nichts weniger als alles, was mich in den letzten Jahrzehnten meines Lebens bewegt hat. Und bis heute bewegt. „Weg.Gegangen“ weiterlesen