Für Anne

Anne von Canal

Noch niemals zuvor habe ich einen Nachruf geschrieben, und ich weiß nicht, ob ich das kann, ob es die richtigen Worte werden. Aber es ist mir ein Bedürfnis, diesen Text hier zu veröffentlichen. Am 20. Oktober 2022 ist Anne von Canal gestorben. Die Autorin und Übersetzerin hatte gegen eine heimtückische Krankheit angekämpft, die ihr am Ende keine Chance ließ. Sie wurde 49 Jahre alt. Unfassbar traurig und tief erschüttert habe ich auf der Frankfurter Buchmesse von ihrem Tod erfahren.

Kennengelernt habe ich Anne 1996 in Freiburg, wo sie als Studentin der Skandinavistik lebte und nebenbei in der Buchhandlung jobbte, in der ich als Buchhändler arbeitete. Wir hatten in jener Zeit viel Spaß zusammen – so wie jeder Mensch, der mit Anne zu tun hatte, das Zusammensein mit ihr genoss. Sie strahlte eine Fröhlichkeit, eine Lebendigkeit und eine Energie aus, die einfach ansteckend waren. Etwas später verließen wir beide Freiburg auf unterschiedlichen Wegen. Ich zog erst nach Leipzig, später dann nach Köln. Anne wurde Volontärin im Verlag Kiepenheuer & Witsch, später Lektorin bei Lübbe und Rowohlt, bevor sie ihren Weg in die Selbständigkeit beschritt und als Übersetzerin und Lektorin freiberuflich arbeitete. Und vor allem als Autorin, deren Romane »Der Grund«, »Whiteout« und »I Get a Bird« – den sie zusammen mit Heikko Deutschmann schrieb – im mare Verlag erschienen sind. Dort hatte sie als Autorin ihre Heimat gefunden.

Es wäre vermessen von mir zu behaupten, dass Anne und ich sehr eng befreundet waren. Aber unser Kontakt hielt über all die Jahre, wir verfolgten gegenseitig die Wege des anderen, begegneten uns regelmäßig bei unterschiedlichen Gelegenheiten und es war eine feste Tradition, dass wir uns auf der Frankfurter Buchmesse zumindest auf einen gemeinsamen Kaffee trafen – ein Termin, auf den ich mich jedes Mal schon lange im Voraus freute. Wie die meisten Menschen, die mit Literatur zu tun haben, liebte Anne die Buchmesse, das Gewirbel, die unzähligen Termine, die unverhofften Begegnungen, das Knüpfen neuer Kontakte und die Pflege der bestehenden. Die Buchmessetage sind pures Adrenalin und hier war sie in ihrem Element, stets mittendrin. Und nun ist sie an einem Buchmessedonnerstag gestorben. 

Annes Debütroman »Der Grund« hatte ich 2015 an einem einzigen Tag gelesen. Ich erinnere mich gut daran, dass ich gespannt darauf war, ob es mir möglich sein würde, den Text objektiv zu beurteilen, stammte er ja aus der Feder eines Menschen, den ich schon so lange kannte und mochte. Aber diese Gedanken waren nach den ersten Seiten vergessen, ich war schnell so tief abgetaucht in der Handlung und in der grandios erzählten Geschichte, dass es sich anfühlte, wie ein wahrer Leserausch. 

Und ich erinnere mich auch gut daran, wie ich stockte und mir ein paar Tränen aus den Augen wischen musste, als ich damals »Der Grund« aufschlug und die Widmung las. »Für Tilman« steht dort. Er war ein Freund aus unserer gemeinsamen Freiburger Buchhandlungszeit und ist vor einigen Jahren gestorben, auch mit Ende vierzig. Und auch er hat eine große Lücke hinterlassen; Anne hatte ihm ihren ersten Roman gewidmet. »Für Anne« steht jetzt hier über diesem Text. Es tut weh.

Wo immer du jetzt sein magst, liebe Anne: Falls es so etwas wie eine andere Seite gibt, dann hoffe ich, dass wir uns dort wiedersehen. Zumindest auf einen Kaffee, so wie jedes Jahr zur Buchmesse.

Mach es gut. Ohne Dich ist die Welt leerer geworden.

(c) Mathias Bothor

9 Antworten auf „Für Anne“

  1. Lieber Uwe,
    mit diesem schönen Text voller Empfindungen hast Du Anne von Canal ein warmes Adieu nachgerufen. Es ist schön, daß neben ihrem Werk auch die Worte eines Freundes an sie erinnern.
    Ich danke Dir und wünsche:
    Viel Kraft und alles Gute
    Norman

  2. Ein wunderschöner und ergreifender Nachruf. Ich kenne weder die Person , noch ihre Werke, dich du hast sie mir näher gebracht.
    Es tut mir leid, dass du so einen wundervollen Menschen verloren hast.
    Liebe Grüße
    Britta

  3. Lieber Uwe,
    Du hast es gekonnt – ein sehr schöner Nachruf. Danke dafür.
    Wenn jemand gehen muss, der oder die einem trotz Zeit und Raum doch immer so nah war, egal, wie gut befreundet oder nicht, dieses Gefühl gibt es einfach bei bestimmten Menschen, dann ist es, als ob ein Licht verlischt, der silberne Faden der Verbindung reißt. Die Welt ist etwas dunkler. Ich kenne das und hatte beim Lesen das Gefühl, es ginge Dir so.
    Die Trauer wird ein Stück von Dir bleiben, aber die schönen Erinnerungen werden überwiegen. Und die Dankbarkeit diese Freundschaft gehabt zu haben.
    Meine herzliche Anteilnahme für deinen Verlust.
    Bri

  4. Das ist ein schöner Nachruf für Deine ehemalige Kollegin geworden und ich bin beeindruckt über den Weg, den sie gegangen ist. Ich hatte ihren ersten Roman „Der Grund“ gelesen und mochte die Geschichte sehr. Persönlich kannte ich sie überhaupt nicht, aber es ist immer traurig zu lesen, wenn Menschen zu früh gehen müssen. Obwohl sie nun weiter weg ist denn je, hast Du sie mir ein bisschen näher gebracht. Danke.

  5. Lieber Uwe, meine Mama hat mich gestern informiert, dass Anne gestorben ist. Ich habe mit ihr meine Kindheit verbracht (unsere Eltern waren eng befreundet). Wir haben damals auf Kassette Hörspiele aufgenommen und ganze Nachmittage damit verbracht… haben Baumhäuser im Wald gebaut und die Freilichtbühne besucht, die ganz in der Nähe ihres Elternhauses im Siegerland war. Ich bedauere sehr, dass wir lange keinen Kontakt hatten und ich nicht Abschied konnte. Gute Reise, liebe Anne!….

  6. Lieber Uwe,
    Ich habe das Buch „Der Grund“ – ahnungslos – am Tag ihres Todes begonnen, zu lange hatte ich das schwere Thema vor mir hergeschoben. Zwei Tage später war das Buch ausgelesen, und das Internet informierte mich über ihren Tod.
    „I get a Bird“ steht in den Startlöchern und wird nun warten müssen.
    Ich habe vor vielen Jahren einen Literaturblog begonnen und nach nur drei Büchern aufgegeben. „Whiteout“ war eines davon.
    Ihr Bücher gehören aus meiner Sicht zum Besten, was im letzten Jahrzehnt auf Deutsch geschrieben wurde.
    Ich habe Anne von Canal nicht gekannt, ich bin ihr nie begegnet, trotzdem macht mich ihr Tod sehr traurig.

  7. Lieber Uwe,
    Ich wusste, dass du die genau richtigen Worte finden würdest.
    Ich verbinde fast die selben Erinnerungen wie du mit Anne, nur dass ich Freiburg bzw. die Buchhandlung ein paar Jahre früher als ihr verlassen habe….
    Anne war genau wie Tilman, eine so wunderbare, lebensfrohe und herzliche Person, und dass beide so früh gehen mussten, schmerzt sehr.

  8. Lieber Uwe,

    als mich diese traurige Nachricht erreicht hat, habe ich fest an Dich gedacht. Immer noch denke ich an Dich und all die Menschen, die mit dieser besonderen Frau verbunden sind. Mein aufrichtiges Beileid Euch allen!

    Einen berührend-schönen Nachruf hast Du geschrieben. Danke fürs Teilen Deiner Trauer und Gedanken!

    Ich wünsche Dir viel Kraft für diese Zeit des Abschieds. Und bin mir sicher, dass ihr Euren Kaffee irgendwann auf der anderen Seite nachholen werdet.

    Alles erdenklich Gute und Liebe,

    Klappentexterin

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