Europas offene Wunde

Zwei Bücher: Yuri Dojc und Katya Krausova, Last Folio und Alter Kacyzne, Poyln

Gerne wird momentan von der abendländischen Kultur Europas geredet, um unsere Identität gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen abzugrenzen. Und gerne wird dabei auf den christlich-jüdischen Hintergrund unserer kulturellen Entwicklung hingewiesen. Dabei drücken diese Wörter eine Symbiose aus, die es so nie gab; die vor dem Hintergrund eines jahrtausendealten europäischen Antisemitismus wie blanker Hohn wirkt. Es ist eher so, dass in Europa trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen eine lebendige jüdische Kultur existierte, die erst durch den industrialisierten Massenmord des Holocaust so dezimiert wurde, dass sie heute nur noch vage wahrnehmbar und in vielen Gegenden – insbesondere Osteuropas – vollkommen verschwunden ist. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, eines, das auf eindrucksvoll photographierte Art und Weise letzte Spuren dieser Welt zeigt, Zeugnisse des Verfalls und des endgültigen Verschwindens. Und eines, das uns an jene verschwundene Welt in seltenen Photographien erinnert.

Yuri Dojc und Katya Krausova: Last Folio – Ein photographisches Gedächtnis

Zwei unterschiedliche Bücher, die perfekt zusammenpassen. Zum einen ist es der Photoband »Last Folio«: Er ist aus einem gemeinsamen Projekt des in Toronto lebenden Photographen Yuri Dojc und der Londoner Filmemacherin Katya Krausova enstanden. Beide sind Kinder von Holocaustüberlebenden; ihre Eltern hatten es geschafft, der Vernichtung zu entkommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn. Yuri Dojc und Katya Krausova haben sich im Jahr 2006 auf Spurensuche in die Herkunftsregion ihrer Familien begeben, die sie in eine abgelegene Gegend der Slowakei geführt hat, in der es früher zahlreiche jüdische Gemeinden gab, viele Dörfer und Kleinstädte mit einem großen jüdischen Bevölkerungsanteil. Seit 1942 sind sie alle verschwunden. Es war das Jahr, in dem die Nazi-Mörder gemeinsam mit Helfern vor Ort fast sämtliche Juden der Slowakei in die Vernichtungslager deportierten.

Kann es von diesen Menschen so viele Jahre später noch Spuren geben? Dojc und Krausova sind fündig geworden. Und zwar mehr, als sie es sich hätten vorstellen können. Bei ihrer Reise durch die Slowakei fanden sie Synagogen, Gebetshäuser oder jüdische Versammlungsstätten – zerfallen, geplündert, über die Jahrzehnte oft als Viehställe oder Lagerhäuser genutzt, mit undichten Dächern, maroden Fassaden, aber immer noch da. Eine sensationelle Entdeckung war eine vergessene jüdische Schule, die nach 70 Jahren so aussah, als wären die Schüler und Lehrer erst kürzlich gegangen. Von einer dicken Staubschicht überzogene Bänke, Tische, Schulsachen, Schallplatten, Einrichtungsgegenstände – alles war noch vorhanden, wie in einer Zeitkapsel. Vor allem gab es dort: Bücher, Bücher, Bücher. Bücher in allen Stadien des Zerfalls, Schulbücher, Gebetsbücher, Lehrbücher. Von der Nässe aufgequollen, von Mäusen angenagt, von der Zeit in Mitleidenschaft gezogen. Aber noch da, Bücher als letzte Zeugen einer untergegangenen Welt. Und dann entdeckten die beiden unter Hunderten von Exemplaren ein Buch, das laut Namenseintrag dem Großvater von Yuri Dojc gehört hatte. Dem Großvater, der seinen Enkel nie gesehen hat. Ein Kreis hatte sich geschlossen.

Der Photoband »Last Folio« zeigt vor allem diese alten Bücher, die in ihrem Zerfall noch Erhabenheit ausstrahlen. Es sind außerordentlich beeindruckende Bilder, die den Betrachter in ihren Bann ziehen. Nahaufnahmen der halb zerstörten Bücher, ein Dokument der Würde des geschriebenen Wortes und des Wissens. Zerfallen, in Mitleidenschaft gezogen, aber nicht verschwunden. Wie ein Denkmal für all ihre verschleppten und ermordeten Besitzer.

Yuri Dojc und Katya Krausova konzipierten aus ihrer Expedition in die Vergangenheit eine Austellung, die durch Europa tourte. Viele der Photos und mehr zum Last-Folio-Projekt gibt es auf der zugehörigen Homepage sowie in einem kurzen Film auf Spiegel online, durch den ich darauf aufmerksam geworden bin. Das Buch selbst enthält nur sparsame Informationen über Planung und Durchführung der Reise, im Mittelpunkt steht dabei der Bericht über das Auffinden des Buches von Yuri Dojcs Großvater, dieses bewegenden Zufalls, dieser Konfrontation mit der eigenen Geschichte, die auch die Geschichte des mörderischen 20. Jahrhunderts ist. Eine Fügung, die zeigt, dass Geschichte nicht einfach vergeht, sondern unser aller Leben prägt.

In einem Nachwort findet die iranische Autorin Azar Nafisi dazu passende Worte: »In einer demokratischen Gesellschaft ist die eigentliche Bedrohung unser ›schlafendes Bewusstsein‹ und ›schwindendes Gefühl‹. In demokratischen Gesellschaften sind die Quellen der Gefahr die Gleichgültigkeit, die Selbstgefälligkeit und der Konformismus. Diese Bücher und die Photos, durch die sie jetzt unsterblich geworden sind, verkörpern die Widerstandskraft des menschlichen Geistes. Sie rütteln unser ›schlafendes Bewusstsein‹ wach, lassen uns ruhelos werden und beides, die Welt und uns selbst, hinterfragen. Wie ist es dazu gekommen? Und was können wir tun, um zu verhindern, dass es jemals wieder geschieht?«

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Alter Kacyzne: Poyln – Eine untergegangene jüdische Welt

Der Bildband »Poyln« ist schon vor 17 Jahren im Aufbau Verlag erschienen. Er ist heute leider nicht mehr lieferbar, was sehr bedauerlich ist; enthält er doch einzigartige Photographien, die eine – wie der Untertitel beschreibt – untergegangene jüdische Welt dokumentieren. Der Photograph Alter Kacyzne ist dafür zehn Jahre, von 1921 bis 1931, durch Polen gereist, durch Städte und Dörfer, aber vor allem durch die zahlreichen Schtetl, die jüdischen Siedlungen, in denen das Jiddische als eigene Sprache gesprochen wurde. Er hat  die Menschen dort in ihrem Alltag photographiert und damit eine beeindruckende Bildersammlung hinterlassen.

Alter Kacyzne war als Schriftsteller, Kolumnist, Verleger und Vorsitzender des jiddischen PEN eine wichtige Figur in der jiddischen Kulturszene Polens. Und als ausgebildeter Photograph Besitzer eines Photoateliers in Warschau. Im Auftrag erst der New Yorker Hilfsorganisation für jüdische Einwanderer (HIAS) und dann der in den USA erscheinenden jiddischen Tageszeitung »Forverts« sollte er für die Ausgewanderten das Leben in der Heimat photographisch dokumentieren – als Erinnerung, aber auch, um auf die Notlage der jüdischen Bevölkerung Polens aufmerksam zu machen. Denn was wir auf Kacyznes unverklärenden Bilder häufig sehen, ist bittere Armut, es sind einfach gekleidete Menschen mit verhärmten Gesichtern, müde, resigniert, in überfüllten Wohnungen und auf morastigen Straßen. Doch auch Kinder beim Spiel, Handwerker bei der Arbeit, junge Frauen aus besser gestellten Familien, Schulszenen, Feiern und Andachten. Die ganze Welt der Schtetl entsteht vor unseren Augen; eine Welt, angefeindet von den katholischen Nachbarn, geprägt von alltäglicher Diskriminierung, aber eben doch eine eigene Welt mit ihren Bräuchen, ihrer Kultur und ihrem Stolz.

Als 1939 Polen von Nazi-Deutschland überfallen wurde, brach die Katastrophe über die Schtetl hinein: Die Mörder in Uniform begannen unmittelbar nach der polnischen Kapitulation ihre verbrecherischen Vorhaben umzusetzen, erst willkürlich, dann immer organisierter bis hin zum von Technokraten geplanten Massenmord. Auch Alter Kacyzne entging diesem Schicksal nicht, er wurde 1941 von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren bestialisch erschlagen.

Was von ihm bleibt, sind seine Photographien, auch wenn ein Großteil seines Werkes den Krieg nicht überstanden hat. Aber die 700 Bilder, die er in die USA an die »Forverts«-Redaktion geschickt hatte, existieren noch. Und zeigen uns eine Welt, die einst fester Bestandteil Europas war und die es nicht mehr gibt.

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Und wie ist das nun mit dem christlich-jüdisch geprägten Abendland? Sämtlichen Anfeindungen, Vorurteilen, Ressentiments und Verfolgungen zum Trotz waren über all die Jahrhunderte jüdische Schriftsteller, Musiker, Künstler, Forscher und Wissenschaftler ein elementarer Bestandteil des europäischen Geisteslebens, haben es maßgeblich geprägt. Bei der Vorstellung, wie sich das europäische Kultur- und Wissenschaftsleben ohne Nazi-Rassenwahn und Holocaust entwickelt hätte, wird einem schwindlig ob all der Möglichkeiten, die in Blut, Tod und Zerstörung untergegangen sind.

Der Verlust der jüdischen und jüdisch geprägten Kultur ist Europas offene Wunde. Eine Wunde, die niemals verheilen wird.

Dies sind zwei Titel aus dem Leseprojekt Das Unerzählbare.

Bücherinformationen
Yuri Dojc und Katya Krausova, Last Folio – Ein photographisches Gedächtnis
Aus dem Englischen von Jane Michael 
Zweisprachige Ausgabe
Prestel Verlag
ISBN 978-3-7913-8145-9

Alter Kacyzne, Poyln
Herausgegeben von Marek Web
Aus dem Englischen von Chris Hirte 
und Gunnar Cynybulk
Aufbau Verlag
ISBN 3-351-02497-5
Leider ist das Buch nicht mehr lieferbar. 
Doch bei booklooker.de oder AbeBooks.de wird man vielleicht fündig.

7 Antworten auf „Europas offene Wunde“

  1. Lieber Uwe,

    zu den Büchern muss man nicht mehr viele Worte verlieren. Da ist alles gesagt und kommentiert.

    Statt dessen möchte ich Dir ein großes Kompliment machen für die Hingabe, die Du in diesen Beitrag gelegt hast. Dieses Offenhalten der Wunde ist Dir wichtig und das spürt man in jedem Satz. Eindringlicher und bedrückender kann man das kaum schreiben. Danke dafür!

    Gruß
    Stefan

  2. Vielen Dank für diesen großartigen Beitrag. Die letzten beiden Sätze sind großartig und bringen es auf den Punkt: eine große offene, nie heilende Wunde. Wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passieren wird. Herzliche Grüße, Bri

  3. Hallo Uwe,

    140 Zeichen bei Twitter reichen einfach nicht aus. ;-)
    Mich hat Dein Beitrag gerade ein wenig umgehauen, im positiven Sinne. Diese Verbindung eines – leider wieder – brandaktuellen Themas mit Fotobänden, also eine künstlerische Auseinandersetzung berührt mich tief, gerade weil v.a. der erste Band auch noch so stark Bücher zum Inhalt hat.

    Die Tochter meines Mannes aus seiner ersten Ehe interessiert sich sehr für Gedenkstättenarbeit, sodass aus einer spontanen Bemerkung von mir – „Dann musst du Yad Vashem sehen, und ich begleite dich“ – eine kleine Reisegruppe entstand, mit der es im kommenden Juli einige Tage nach Jerusalem geht. Und da ich in den letzten Monaten relativ viele Bücher jüdischer Autoren/ mit Inhalten um das jüdische Leben gelesen habe, sind die Erinnerungen an meinen ersten Besuch in Yad Vashem vor viereinhalb Jahren wieder da. Damals habe ich mich weniger mit den Fakten, die in der Gedenkstätte dargestellt werden, auseinander gesetzt, sondern mehr mit der Vermittlung über Architektur, Gedenkraumgestaltung, Skulpturen und anderen Projekten in Yad Vashem. So ist das Kernstück der Gedenkstätte, das Museum, entlang einer aufwärtsführenden Rampe ausgerichtet, die Wände verjüngen sich nach oben hin, sodass ein Gefühl von Beengtheit, Begrenztheit, Dunkelheit entsteht. Die Rampe endet im Nirgendwo… oder im Himmel, je nachdem, wie man es interpretieren mag.
    In einem anderen Raum sind Gedenkblätter gesammelt, in denen die Namen und teilweise Bilder der im Holocaust umgebrachten Menschen gelistet sind. Sich auf diese Weise mit dem Holocaust zu beschäftigen statt „nur“ Geschichtsbücher zu pauken und Zahlen zu lesen, rührt ganz tief an. Manchmal in Worten nicht zu beschreiben.

    Deine Auseinandersetzung mit diesem Thema auf diese Art und Weise ist nicht nur hervorragend gelungen, gerade heute, nachdem gestern so verheerende Worte gefallen sind, sie ist auch tief bewegend. Danke dafür.

    1. Hallo Andrea,

      schön, dass Dich der Beitrag so bewegt hat – ein größeres Lob gibt es nicht.
      Deine Reiseerlebnisse aus Israel klingen sehr beeindruckend, so etwas prägt einen sicherlich für das ganze Leben.

      Viele Grüße

      Uwe

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