FLIP ist die Abkürzung für Festa Literária Internacional de Paraty. Es ist eines der wichtigsten und schönsten Literaturfestivals Südamerikas und findet seit 2003 jeden Juli in der brasilianischen Küstenstadt Paraty statt. Viele brasilianische Autorinnen und Autoren sind vor Ort, gleichzeitig ist das Festival – wie der Name schon sagt – sehr international ausgerichtet. In den letzten Jahren waren dort zahlreiche große Stimmen zu Gast, wie etwa Amoz Oz, Don de Lillo, Toni Morrison, Ian McEwan, Nadine Gordimer, Orhan Pamuk, Karl Ove Knausgård, Margaret Atwood, Julian Barnes, Isabel Allende, Paul Auster, Siri Hustvedt, Teju Cole oder Eleanor Cotton. Um nur einige zu nennen. Dazu gibt es Partnerschaften mit dem International Festival of Authors in Toronto und dem Festivaletteratura in Mantua. Und ich muss gestehen, dass ich bis zum Sommer 2017 noch nie davon gehört hatte.
Paraty ist besonders für brasilianische Verhältnisse ein kleines Städtchen mit knapp 38.000 Einwohnern – und ein echtes architektonisches Schmuckstück. Gegründet Anfang des 17. Jahrhunderts war die Stadt eine Zeit lang das Tor Portugals in die brasilianische Kolonie; über Paraty wurde ein großer Teil des Handels mit Gold, Waren und Sklaven abgewickelt. Irgendwann geriet die Stadt erst ins Abseits und dann in Vergessenheit, während sich das in Luftlinie 160 Kilometer entfernte Rio de Janeiro zur Metropole entwickelte. Was zur Folge hat, dass der historische Kern Paratys komplett erhalten ist: Barocke Kolonialarchitektur, 400 Jahre alte, vollkommen ausgetretene, kopfsteingepflasterte Straßen, wunderschöne Plätze und inmitten der uralten Dächer erhebt sich der kompakte Turm der Kirche Igreja de Nossa Senhora dos Remédios.
Das mag jetzt ein wenig nach Freilichtmuseum klingen, aber das ist es nicht. Zwar ist ist die Stadt sehr touristisch, doch auf eine angenehme Art: Stilvolle Cafés, schöne Restaurants, geschmackvolle Souvenirläden – alles fügt sich in die historische Umgebung ein, ohne sie zu dominieren. Das liegt vor allem daran, dass die 400jährigen Häuser bewohnt sind, Einheimische und Touristen sind gemeinsam auf den Straßen unterwegs, abends sind die Cafés und Restaurants brechend voll, es wird flaniert, gelacht, spontan zur Musik von Straßenmusikern getanzt. Ich will das jetzt nicht verklären, denn Brasilien ist ein Land, das es gerade nicht einfach hat. Große soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Probleme und eine weit in alle Strukturen hineinreichende Korruption lassen das Land ächzen. Ein Land, das ich sehr mag. Und gerade vor dem Hintergrund der genannten Schwierigkeiten ist Paraty ein wundervoller Ort. Und steht jeden Juli für fünf Tage ganz im Zeichen der Literatur.
Zufällig hatte es sich ergeben, dass ich während einer Brasilienreise im Juli 2017 genau am Festivalsamstag in Paraty war – und mehr oder weniger hineinstolperte in ein Literaturfest, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte.
Ist Paraty schon ganzjährig ein touristischer Hotspot, so tauchten bei meinem Spaziergang durch die vom abendlichen Leben pulsierenden Straßen bald die ersten Passanten auf, die gekleidet waren wie Buchmenschen: Hornbrillen, Sakkos oder Blazer zu Jeans, Sneaker, dünne Baumwollschals (im Juli ist es Winter in Brasilien und es hatte winterliche zwanzig Grad). Das klingt jetzt klischeehaft, aber wer gerne Literaturfestivals oder Buchmessen besucht, der weiß, welchen unverwechselbaren Stil ich meine. Aber wie dem auch sei, ein untrügliches Erkennungszeichen war das FLIP-Festivalprogramm, das viele in den Händen hielten.
Die Altstadt ist überschaubar, aber die zahllosen Menschen auf den Straßen täuschen einen viel größeren Ort vor; man kommt nicht schnell voran, lässt sich treiben und entdeckt nach und nach die Häuser, die für die Dauer von FLIP komplett von brasilianischen Buch- oder Zeitungsverlagen angemietet wurden. Und mit weit geöffneten Türen auf Besucher warten. An Orten, wo sonst vielleicht Restaurantische stehen oder Geschäfte ihre Waren anbieten würden, gab es nun Bücherausstellungen, signierende Autoren, Menschen, die sich bier- oder weintrinkend in den Räumen drängelten, redend, diskutierend, lachend. Viele hielten Bücher in den Händen, in einem der Häuser spielte eine Band, in einem anderen ging gerade eine Lesung zu Ende, woanders begann die nächste – es war eine unbeschreibliche Stimmung. Und es gab einige dieser – im wahrsten Sinne des Wortes – Literaturhäuser in den Straßen Paratys; sie wirkten wie Bücherinseln, die zwischen all dem üblichen Trubel eigene Akzente setzten. Literaturinteressierte, Touristen, Einheimische – auf den Straßen und Plätzen verwirbelte alles miteinander; irgendwo wurden direkt aus einem zum Büchermobil umgebauten VW-Bus heraus Bücher verkauft (ein Satz übrigens, den ich mit besten Grüßen an Pinkfisch-Bloggerin Sarah Reul schreibe). Dann war ich im Zentrum der Stadt und des literarischen Geschehens angelangt.
Die barocke Kirche Igreja de Nossa Senhora dos Remédios ist der zentrale Lesungsort von FLIP. An diesem Abend war der in den USA lebende jamaikanische Autor Marlon James mit seinem Buch »Eine kurze Geschichte von sieben Morden« zu Gast; eine Geschichte, die rund um den Mordanschlag auf Bob Marley im Jahr 1976 aufgebaut ist. Und ein grandioser Roman, für den der Autor 2015 den Man Booker Price erhalten hat. Als spontaner Besucher des Festivals gab es für mich natürlich keine Chance mehr, eine Eintrittskarte für die ausverkaufte Veranstaltung zu ergattern. Aber das war gar nicht weiter schlimm, denn direkt neben der Kirche stand ein riesiger Pavillon, in dem auf einer Leinwand das Geschehen in der Kirche live übertragen wurde. Marlon James las aus seinem Buch und diskutierte mit Paul Beatty. Es ging um Rassismus und den immerwährenden Kampf dagegen, um das Thema kulturelle Aneignung, es ging um sein Leben als Jamaikaner in den USA und um die Frage, was Literatur bewegen, was die Rolle der Literatur bei den drängenden Problemen unserer Zeit sein kann.
Um mich herum waren hunderte von Menschen. Der Pavillion war bis auf den letzten der 700 Plätze gefüllt, die Treppenstufen gegenüber waren mit Zuschauern besetzt, viele standen und alle hörten gebannt zu. Vom einem Stand gegenüber duftete es nach Gegrilltem, ein paar Hunde streunten zwischen den vielen Beinen über den Platz, man roch das Meer, das nur ein paar Meter entfernt war, und eine leichte Brise brachte die Palmen und Bäume ganz sachte zum Rascheln. Ich hätte gerne die Zeit angehalten, denn das war einer dieser Momente, in denen alles stimmte. Ein perfekter Moment, Literatur mit allen Sinnen. Inzwischen ist das über ein Jahr her, doch jetzt, während ich das aufschreibe, bin ich wieder dort, mitten in diesem Augenblick, den ich wohl nie vergessen werde.
Zum Finale des Abends kam es für mich im großen FLIP-Zelt, das auf der anderen Seite der Kirche stand und schon von weitem einladend herüberleuchtete. Hier war eine Festivalbuchhandlung untergebracht, an Tischen signierten Autoren oder ließen sich mit Besuchern photographieren, vor allem aber gab es dort Bücher, Bücher, Bücher. Stapelweise, regalweise, eine gigantische Auswahl. Überall waren Menschen, die in Büchern blätterten, neugierig Bücher in die Hand nahmen, mit Büchern beladen zur Kasse gingen. Literaturbegeisterte. Büchermenschen. Buch-Aficionados. Ich war lange in diesem Zelt, schaute und staunte. Was für wunderbarer Abend.
Und obwohl ich zehntausend Kilometer von meinem Wohnort entfernt war, umgeben von fremden Menschen, umgeben von fremden Sprachen – es war ein Gefühl, als sei ich zu Hause.
Informationen
FLIP
Festa Literária Internacional de Paraty
flip.org.br
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Danke für diesen lebendigen Bericht. Brasilien ist also mehr als nur Ranches und Regenwald, Pistoleros und Probleme. Ich glaube, dass Länder, in denen eine solche Kultur blühen kann, ihre Probleme auch lösen können. Oder um es mit Stefan Zweig zu sagen: Ein Land der Zukunft.