Fast hätte ich mir das Buch »Der Wintersoldat« von Daniel Mason gar nicht gekauft. Das Buchcover zeigt einen Menschen in Rückenansicht, der sich mit wehendem Mantel vom Betrachter weg bewegt – diese Art der Buchgestaltung gibt es bereits in viel zu vielen Varianten und ich mag sie nicht besonders. Aber trotzdem sprach mich irgendetwas daran an, sorgte zumindest für ein zweites Hinsehen. Vielleicht war es der Titel »Wintersoldat«, vielleicht waren es die dunklen, wolkenverhangenen Bergrücken auf dem Umschlagbild, die eine Düsternis ausstrahlten, die mich neugierig machte. Als dann der Klappentext eine Handlung in den Karpaten während des Ersten Weltkriegs versprach, war die Kaufentscheidung getroffen. Denn dies ist ein fast vergessener Schauplatz in den vielen Darstellungen jener Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und ich war gespannt, wie die Lektüre zu meinem Leseprojekt Erster Weltkrieg passen würde. Passend dazu stelle ich hier den Photoband »Untergang einer Welt« aus dem Brandstätter Verlag vor, der sich mit jenen weniger bekannten Aspekten des vierjährigen Gemetzels beschäftigt; eindrucksvoll und bedrückend zugleich.
Die Handlung von »Der Wintersoldat« beginnt im Februar 1915, »fünf Stunden östlich von Debrecen, als der Zug auf der menschenleeren Ebene am Bahnhof hielt.« Es ist mitten im Winter, die Landschaft verschwindet unter Schneemassen, Lucius Krzelewski ist der einzige Passagier, der aus dem Zug aussteigt. Ein Husar wartet mit einem Pferd auf ihn, zwei Tage geht es weiter in Richtung Norden, an den Rand der Karpaten. Zu seinem Einsatzort, einem von der Welt vergessenen Dorf in einem abgelegenen Tal. Hier ist ein Lazaret der k. u. k. Armee Österreich-Ungarns untergebracht. Und Lucius Krzelewski soll sich dort als Sanitätsoffizier um die Verwundeten kümmern.
Im Sommer zuvor war der Zweiundzwanzigjährige noch Student der Medizin in Wien, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die Menschenmassen den ausrückenden Soldaten zujubelten. Auch Lucius ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken und meldete sich freiwillig; auch, um endlich praktische Erfahrungen als Mediziner sammeln zu können – ohne zu ahnen, welcher Hölle er begegnen würde.
Jetzt, ein halbes Jahr später, ist die Kriegsbegeisterung einer Ernüchterung gewichen. Die schlecht ausgerüsteten österreichischen Truppen trafen in Galizien auf eine russische Übermacht, das Gemetzel dauerte bis in den Winter hinein. Für den die Soldaten beider Seiten nur unzureichend ausgestattet waren. In zahllosen Dörfern wurden Notlazarette eingerichtet, um die unzähligen Verwundeten zumindest notdürftig zu versorgen.
So auch in dem Dorf, in dem Lucius eintrifft. Die Kirche ist zu einem Hospital geworden und als ihm geöffnet wird, kommt er im Krieg an. »Dann drangen Geräusche an seine Ohren, stieg Gestank in seine Nase, und er richtete seinen Blick nach unten. Ein unterdrücktes Ächzen irgendwo im Dunkeln. Ein Husten, ein Röcheln. Ein stechender Geruch, irgendwie tierisch, wie verdorbenes Fleisch. Er riss die Augen auf. Dort, wo die Bänke gestanden hatten, türmten sich Haufen von Decken, und erst als sich eine von ihnen regte, wurde ihm bewusst, dass darunter Menschen lagen.«
Medizinisches Personal gibt es kaum, die Ordensschwester Margarete hatte das Lazarett vorübergehend geleitet. Jetzt soll Lucius übernehmen und ist damit vollkommen überfordert. Die Verletzungen und Verstümmelungen durch Kugeln, Granaten, Minen und Kosakensäbel sind grauenhaft, die Heilungschancen gering. Grünschnabel Lucius und die souveräne Schwester Margarete werden ein Team, versuchen, die zerstörten Menschen irgendwie zu versorgen. Wenig bekommen sie von der Außenwelt mit, nur ab und zu werden neue Verwundete gebracht. Und natürlich kommt es wie es kommen muss: Margarete, die vielleicht gar keine Ordensschwester ist, und Lucius verlieben sich ineinander; vorsichtig erst, doch für den jungen Mediziner wird es die Liebe seines Lebens.
Eines Tages wird ein Verwundeter angeliefert, der keinerlei äußerliche Verletzungen aufweist, aber durch seine Erlebnisse an der Front vollkommen traumatisiert ist; einer jener »Kriegszitterer«, wie sie damals verächtlich genannt wurden, denn eine Traumaforschung oder die Behandlung eines solchen Krankeitsbildes existierte nur in den allerersten Anfängen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse und die Wirklichkeit des Krieges hält brutalen Einzug in das abgelegene Tal. Drei Dinge geschehen, die Lucius Welt zusammenbrechen lassen und die sein Leben vollkommen verändern werden: Ein Rekrutierungskommando holt die einigermaßen Genesenden zurück zur Front – als Lucius versucht, den traumatisieren Verwundeten davor zu bewahren, löst er eine Tragödie aus. Nicht lange danach überrollt der Krieg das Tal und das Dorf; alles versinkt im Chaos. Und Lucius wird von Margarete getrennt.
»Damals wurden zwei Männer aus ihm.« So beschreibt Daniel Mason das Geschehene – und damit beginnt die zweite Hälfte des Buches. Und wir begleiten ihn bis zum Ende: bis zum Ende des Krieges, bis zum Ende Mitteleuropas, wie es bis dahin existierte. Und bis zum Ende seiner Suche nach Margarete.
Denn er versucht mit all seinen Möglichkeiten, sie wiederzufinden. Lässt sich von Lazarett zu Lazarett versetzen, fragt herum, möchte herausfinden, wer sie eigentlich ist. Und als 1918 alles zusammenbricht, als sich Österreich-Ungarn auflöst und es keine Vorgesetzten und keine Armee mehr gibt, wird seine Suche immer verweifelter – für mich sind dies die stärksten Szenen des Romans.
Daniel Mason ist ein mitreißend erzähltes Buch gelungen, mit dem er daran erinnert, dass der Erste Weltkrieg seine blutigen Spuren in vielen Gegenden Europas hinterlassen hat. Meist assoziiert man mit ihm die Bilder der endlosen Schützengräben und verwüsteten Landschaften in Flandern oder Nordfrankreich. Aber er fand auch in den Tälern und Wäldern der Karpaten statt oder in den weiten Ebenen Galiziens, ebenso brutal und gnadenlos wie überall. Der Einstieg in die Geschichte ist langsam, doch schon von Beginn an liegt ein bedrohlicher Unterton in der Luft, der nichts Gutes ahnen lässt. Die authentischen Schilderungen des Lazarettwesens sind erschütternd; eindrucksvoll ist die Thematik der »Kriegszitterer« mit eingebaut.
Zwar ist die Liebesgeschichte recht vorhersehbar, aber für die Dramaturgie notwendig; sie erst macht Lucius zum verweifelt Suchenden in einer Welt, die sich täglich verändert und in der bisherige Gewissheiten nichts mehr gelten. Die dramatischen Wochen des Auseinanderbrechens der k. u. k. Monarchie und der Zerfall des Vielvölkerstaats erleben wir als Leser hautnah mit, wenn wir Krzelewski bei seiner Suche begleiten – durch Lazarette und Krankenhäuser; per Zug, Automobil, Pferdekutsche und wenn es sein muss zu Fuss durchstreift er ein Mitteleuropa, das dabei ist zu verschwinden, das sich fast buchstäblich unter seinen Fußsohlen aufzulösen beginnt. Und was er am Ende seiner Suche finden wird, hätte er sich niemals vorstellen können.
Es gibt nur wenig Romane über den Verlauf des Ersten Weltkriegs an der östereichischen Ostfront. Er war geprägt von äußerster Brutalität, schlechter Koordination und unzureichender Ausrüstung. Arrogante Offiziere kommandierten Soldaten aus allen Regionen des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaats, von denen manche gar kein Deutsch sprachen. Die Folgen waren für die einfachen Soldaten verheerend, sie starben zu hunderttausenden, sinnlos geopfert in einem sinnlosen Krieg. Ein Krieg, der Europa massiv verändern sollte und aus dem all die anderen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Und auch wenn die Handlung von »Der Wintersoldat« frei erfunden sein mag und die Nebencharaktere zum Teil etwas sehr schablonenhaft dargestellt sind – all diese geschilderten Aspekte finden sich darin wieder und machen den Roman zu einer lohnenswerten Lektüre.
Die Bilder in diesem Beitrag stammen aus dem Photoband »Untergang einer Welt« und ich möchte die Gelegenheit nutzen, dieses beeindruckende Werk hier im Anschluss vorzustellen.
Photoband: Untergang einer Welt
Der Brandstätter Verlag in Wien ist bekannt für seine aufwendig produzierten und mit großer Sorgfalt zusammengestellten Bild-Text-Bände. »Untergang einer Welt« ist ein Werk, dass auch aus diesem Verlagsprogramm noch einmal herausragt, denn die Herausgeber Wolfgang Maderthener und Michael Hochedlinger zeigen uns mit ca. 300 zum großen Teil noch unveröffentlichten Bildern Facetten des Ersten Weltkriegs, die photographisch bisher nur wenig bekannt waren. Die Bilder stammen aus der Weltkriegsphotosammlung des Österreichischen Staatsarchivs. Sie zeigen – wie es der Titel so treffend ausdrückt – den Untergang nicht nur des kaiserlichen Österreichs, sondern jeglicher zivilisatorischen Maßstäbe. Photographien, die den Weg in die Barbarei eines totalen Krieges dokumentieren, der – wie oben bereits erwähnt – auch in den entlegensten Gebieten Europas ausgetragen wurde.
Die Bilder zeigen die zerfallende Welt, in der sich Lucius Krzelewski in Daniel Masons Roman »Der Wintersoldat« bewegt und daher möchte ich einige ausgewählte Seiten dieses wichtigen und auf schmerzhafte Weise beeindruckenden Buches als Photostrecke vorstellen. Die begleitenden Texte in »Der Untergang einer Welt« stammen von Zeitzeugen, viele bekannte Namen sind dabei: Stefan Zweig, Joseph Roth, Leo Trotzki, Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus, Jaroslav Hašek, Georg Trakl oder Oskar Kokoschka, um nur einige zu nennen.
Stefan Zweig schreibt erschüttert über einen Lazarettzug, mit dem verwundete Soldaten abtransportiert wurden, sein Text soll den Beitrag abschließen. Und auch wenn der Erste Weltkrieg über ein Jahrhundert zurückliegen mag, so ist es doch wichtig, diesen großen Zivilisationsbruch unserer modernen Zeit, diese Orgie der Verwüstung, die unser Heute entscheidend geprägt hat, nie aus den Augen zu verlieren. Das 2014 begonnene Leseprojekt hier im Blog Kaffeehaussitzer möchte dazu beitragen.
»Aber das Furchtbarste waren die Lazarettzüge … Ach, wie wenig glichen sie jenen gut erhellten, weißen, wohlgewaschenen Sanitätszügen, in denen sich die Erzherzoginnen und die vornehmen Damen der Wiener Gesellschaft zu Anfang des Krieges als Krankenpflegerinnen ausbilden ließen! Was ich schaudernd zu sehen bekam, waren gewöhnliche Transportwagen ohne richtige Fenster, nur mit einer schmalen Luftluke und innen von verrußten Öllampen erhellt. Eine primitive Tragbahre stand neben der anderen, und alle waren sie belegt mit stöhnenden, schwitzenden, todfahlen Menschen, die nach Luft röchelten in dem dicken Geruch von Exkrementen und Jodoform. Die Sanitätssoldaten schwankten mehr als sie gingen, so sehr waren sie übermüdet; nichts war zu sehen von dem weiß leuchtenden Bettzeuge der Photographien. Zugedeckt mit längst durchgebluteten Kotzen lagen die Leute auf Stroh oder den harten Tragbahren und in jedem dieser Wagen schon zwei oder drei Tote inmitten der Sterbenden und Stöhnenden.«
Stefan Zweig, »Die Welt von gestern«
Dies sind zwei Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.
Bücherinformationen
Daniel Mason, Der Wintersoldat
Aus dem Englischen von Sky Nonhoff und Judith Schwaab
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-73961-3
Wolfgang Maderthaner/Michael Hochedlinger (Hg.), Untergang einer Welt
Brandstätter Verlag
ISBN 978-3-85033-771-7
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Ich erinnere mich daran, dass mein Großvater (*1920) immer gesagt hat, wie schlimm er es findet, dass das Grauen des 1. Weltkriegs, von dem er durch seinen Vater erfahren hat, hinter denen des 2. Weltkriegs im Gedächtnis der Menschen zurückgetreten ist. Er erinnerte sich noch gut an die Kriegsversehrten und die Gräuelgeschichten der Erwachsenen. Vielleicht nicht die beste Weihnachtslektüre. Aber da ich noch auf der Suche nach einer „Schwarte“ für die Feiertage bin, könnte das passen.
Ich bin gespannt auf Deine Meinung.
Herzliche Grüße
Uwe
Wir alle kennen das Buch und den Film Doktor Schiwago. Ein wenig erinnert die Geschichte an diesen Klassiker, wenn er auch an einem völlig anderen Ort spielt, jedoch in demselben Krieg. Deine Besprechung ist so ausführlich, dass der Anreiz das Buch zu lesen relativ gering ist. Deine Beschreibung finde dennoch sehr gut.
Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen kein einziges Mal an »Doktor Schiwago« gedacht habe, obwohl der Vergleich durchaus passend ist. Und beim Beschreiben des Buches war ich in einer Zwickmühle, denn es ist eben viel, viel mehr als ein Liebesgeschichte, aber um diese Aspekte herauszuarbeiten, musste relativ viel des Inhalts dargestellt werden. Allerdings gibt es vieles an überraschenden Wendungen und zahlreiche wichtige Erzählstränge, die keine Erwähnung finden. So bleibt das Buch trotz der ausführlichen Beschreibung eine spannende Lektüre.
Mir war der Roman schon in der Vorschau aufgefallen, jetzt komme ich wohl wirklich nicht drumherum, ihn zu lesen. Danke für die Erinnerung. Wundervolle Besprechung. Viele Grüße
Tatsächlich habe ich mich beim Lesen des Buches immer wieder gefragt, ob Du es in Dein Leseprojekt zum Ersten Weltkrieg integrieren wirst. Aber es ist eben viel mehr als eine Liebesgeschichte.
In der Tat, die Liebesgeschichte ist hart an der Grenze zum Kitsch – aber letztendlich hat der Roman so viel mehr zu bieten, indem er sehr authentisch vom Zusammenbruch der Donaumonarchie oder von den Auswirkungen des Krieges auf die Menschen erzählt, dass dies letztendlich nicht ins Gewicht fällt.